• Keine Ergebnisse gefunden

Diskursivität des frühromantisches Wissens über Kommunikation

1. Aufwertung der Kommunikation: Friedrich Schleiermachers Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799)

1.7 Die Metamorphose des Schicklichen

Bevor im folgenden Kapitel der Versuch unternommen wird, in Bezug auf die eben skizzierte und in der Geselligkeitsschrift nur angedeutete Wechselwirkungsproblematik den grundsätzlichen kommunikationstheoretischen Ansatz Schleiermachers zu rekonstruieren, muss zunächst noch ein Blick auf das Hauptthema des überlieferten Textfragments geworfen werden. Wie bereits erwähnt, besteht der Großteil des ‚Versuchs’ aus der Erläuterung des

102 Schleiermacher, Friedrich: KGA I.2; S. 170.

103 ebd.; S. 169.

104 Insofern Schleiermacher Geselligkeit generell nicht als Utilität (Zweck), sondern als Moralität auffast, ist seine Theorie der ‚freien Geselligkeit’ im Kontext seines Ethikkonzeptes zu verorten. Vgl. dazu z.B.

Schleiermacher, Friedrich: Brouillon zur Ethik (1805/06). Hg. v. Hans-Joachim Birkner. Hamburg 1981; S.

19f. und ders.: Ethik (1812/13). Mit späteren Fassungen der Einleitung, Gütelehre und Pflichtenlehre. Hg v.

Hans-Joachim Birkner. Hamburg 1990; S. 20f.

105 Schleiermacher, Friedrich: KGA I.2; S. 168.

106 Vgl. ebd.

dritten Geselligkeitsgesetzes, und aus diesem Grund wird Schleiermachers Geselligkeitstheorie oft auf diese Perspektive reduziert. Da sich die Ansätze einer konversationstheoretischen bzw. dialektisch-hermeneutischen Verortung Schleiermachers eben an dem ‚quantitativen’ Gesetz orientieren, wird dieser Theoriebaustein hier einer näheren Betrachtung unterzogen.

Das ‚quantitative’ Gesetz schließt unmittelbar an die Maximen der ersten beiden Geselligkeitsgesetze an. Das im Rahmen dieser Gesetze entwickelte abstrakte Modell einer durch das Wechselwirkungsverhältnis vernetzten Gemeinde geselliger Individuen wird im

‚quantitativen’ Gesetz auf die Möglichkeit seiner praktischen Umsetzung überprüft. Im Grunde geht es um die Frage nach den Voraussetzungen für die Bildung einer frei-geselligen Gesellschaft bzw. um die Fertigkeit, eine gebildete Gesellschaft so lange wie möglich intakt zu halten. Schleiermacher konzipiert das dritte Gesetz im Hinblick auf reale Kommunikation und als notwendige Beschränkung der ideal-abstrakten Vorstellung von Geselligkeit.

Den Ausgangspunkt des ‚quantitativen’ Gesetzes bildet die Beobachtung, dass die theoretisch geforderte Ungebundenheit und thematische Unabhängigkeit der geselligen Kommunikation in Wirklichkeit nicht vollkommen erreichbar ist, da das theoretische Konstrukt auf einer paradoxalen Struktur beruht. Im Zustand der ‚freien Geselligkeit’ soll nämlich die Kommunikation in Form eines durch keine äußeren Instanzen regulierten und beschränkten Austauschs aus den Zwängen der gesellschaftlichen Zweckbestimmungen entbunden werden, sie wird durch diese ‚Befreiung’ aber zunächst mit einer überkomplexen Fülle an möglichen Themen und Ansatzpunkten konfrontiert, die das Zustandekommen einer kommunikativen Beziehung maßgeblich erschweren. Wie Jürgen Fohrmann in Bezug auf dieses Problem feststellt, fördert das in der Geselligkeitstheorie artikulierte Streben nach einer Entdifferenzierung der komplex gewordenen Gesellschaft zwangsläufig eine interne Ausdifferenzierung des geselligen Kollektivs.107 Wie auch Schleiermacher letztendlich erkennt, bekommt es die Theorie der ‚freien Geselligkeit’ mit dem Problem der intern-geselligen Komplexität zu tun:

Von diesem Unendlichen aber ist denen, die zusammen eine Gesellschaft ausmachen sollen, nur ein gewisses endliches Quantum eigen, und wenn dies nicht aufgefaßt und aus dem übrigen abgesondert wird, kann nie eine wirkliche Gesellschaft zu Stande kommen.108

107 Vgl. Fohrmann, Jürgen: Gesellige Kommunikation um 1800, a.a.O.; S. 354.

108 Schleiermacher, Friedrich: KGA I.2; S. 170.

Das ‚unendliche’ Pensum der möglichen Initialpunkte der geselligen Kommunikation muss also durch bestimmte Verhaltensregelungen und Selektionsmechanismen handhabbar gemacht werden. Die Suche nach der Lösung dieses Problems bildet den Dreh- und Angelpunkt des ‚quantitativen’ Geselligkeitsgesetzes. Die Basis dieses Gesetzes formiert sich demnach um die Frage nach der notwendigen „Beschränktheit derjenigen, die sich gegen einander in dem Zustande der freien Geselligkeit befinden wollen“.109 Das Gesetz wird von Schleiermacher in Form eines Imperativs formuliert und seine primäre Form lautet:

„[D]eine gesellige Thätigkeit soll sich immer innerhalb der Schranken halten, in denen allein eine bestimmte Gesellschaft als ein Ganzes bestehen kann.“110

Wie man erkennen kann, wird hier – wie weiter oben (Kap. I.1.2) bereits angedeutet – in der Absicht, eine gebildete Gesellschaft zusammenzuhalten, auf das rhetorische und konversationstheoretische Gebot des Schicklichen zurückgegriffen.111 Im Programm der auf diese Weise limitierten ‚freien Geselligkeit’ gilt nun, dass im geselligen kommunikativen Austausch nichts angeregt werden soll, „was nicht in die gemeinschaftliche Sphäre Aller gehört“.112 Es ist dabei aber wichtig darauf hinzuweisen, dass Schleiermachers Thematisierung des Schicklichen sich auf keine statische Kodifizierung bezieht, sondern auf die Notwendigkeit des permanenten Aushandelns angemessenen Verhaltens in konkreten Situationen hinzielt.

Auch trotz dieser undogmatischen Aktualisierung des Schicklichkeitsgebots geraten die eingangs geforderte Freiheit und die nun als unausweichlich betrachtete Beschränkung des geselligen Umgangs in ein Spannungsverhältnis, dessen sich auch Schleiermacher bewusst ist. Er versucht es aufzuheben durch den Hinweis, dass der Widerspruch zwischen der Vorstellung einer sich frei entfaltenden Individualität und dem einschränkenden Gebot des Schicklichen auf zwei falschen Prämissen beruht. Dies seien erstens die falsche Überzeugung, dass man in eine gesellige Runde immer „seine ganze Individualität“113 mitbringen darf, und zweitens die ebenso unangebrachte Ansicht, dass in Rücksicht auf die Konsistenz der gegebenen Gesellschaft die individuellen Eigentümlichkeiten „nach innen gezogen“114 werden sollten. Es zeigt sich als das Hauptanliegen des dritten Geselligkeitsgesetzes, zwischen diesen beiden falschen Maximen den mittleren Weg einer angemessenen Geselligkeitskoordinierung zu finden.

109 Schleiermacher, Friedrich: KGA I.2; S. 171.

110 ebd.

111 ebd.

112 ebd.

113 ebd.; S. 172.

114 ebd.; S. 173.

Schleiermachers theoretischer Kunstgriff bei der Lösung dieser Spannung besteht darin, dass er die ‚Eigentümlichkeit’ des Individuums nicht auf der Ebene seiner Ansichten und thematischen Präferenzen ansiedelt, sondern ausschließlich mit seiner individuellen Art diese zu artikulieren verbindet. Beim Charakter einer Gesellschaft dagegen verhält es sich gerade umgekehrt: Hier ist nicht die Art der Unterhaltung entscheidend, sondern die Angemessenheit des Themas. Die vermeintliche Aporie der ‚freien Geselligkeit’ wird also dadurch beseitigt, dass die Freiheit der Individualität nur auf der Ebene der in der Gesellschaft behandelten Inhalte (‚Ton’) beschränkt wird, nicht aber in Bezug auf die jeweils eigentümliche Art der Themenbehandlung (‚Manier’). So gesehen tritt Schleiermachers Individuum der geselligen Versammlung in Bezug auf mögliche Themen gleichsam interesselos bei und lebt seine Eigentümlichkeit nur auf der Ebene der individuellen Artikulationsweise uneingeschränkt aus. Es liegt auf der Hand, dass Schleiermacher sich durch die Lösung des einen Problems ein anderes einhandelt. Die Ablösung der Themen von den subjektiven Interessen der Beteiligten steht offensichtlich im Widerspruch zu dem eingangs euphorisch geforderten Aufbruch aus den themenspezifisch eingeschränkten Bereichen der Familie und des Berufs.115

Es soll hier jedoch nicht im Detail den einzelnen Unstimmigkeiten in Schleiermachers Theorie nachgegangen werden. Das eigentlich Entscheidende beim dritten Geselligkeitsgesetz ist Schleiermachers Bestimmung des Schicklichkeitsgebots: „Der eigentliche Gegenstand des Schicklichen ist gar nicht die Manier, sondern der Stoff.“116 Der Zusammenhalt einer Gesellschaft ist demnach von einer angemessenen Handhabung des gegebenen Themenvorrats, nicht aber von einer Regulierung der individuellen Äußerungsformen abhängig. Das Gebot des themenspezifisch Schicklichen ist nach Schleiermacher auf zweifache Art zu berücksichtigen. Erstens beim Eintritt in eine bereits bestehende Gesellschaft und zweitens bei der Bildung einer neuen. Im ersten Fall soll die bestehende „gemeinschaftliche Sphäre“ respektiert werden, im zweiten geht es darum,

„durch die Anerkennung eines [...] gemeinschaftlichen Spielraums“ die Möglichkeit für eine neue Gesellschaft zu legen.117 Die finale Bestimmung des quantitativen Gesetzes der Themengenerierung und -verwaltung lautet dann, dass „das Nichtherausgehen aus dem Charakter einer Gesellschaft, und das nähere Bestimmen dieses Charakters“ eine Einheit bilden müssen.118

115 Zur Widersprüchlichkeit von Schleiermachers Geselligkeitstheorie bei diesem Punkt vgl. auch Seibert, Peter: Der literarische Salon, a.a.O.; S. 320.

116 Schleiermacher, Friedrich: KGA I.2; S. 174.

117 ebd.; S. 176.

118 ebd.; S. 181.

Genau an den Eckpunkten des dritten Gesetzes, d.h. der notwendigen Anerkennung und Respektierung des Gesellschaftscharakters und der gemeinsamen und fortlaufenden Bestimmung ihrer thematischen Ausrichtung orientieren sich die Versuche, Schleiermachers Geselligkeitslehre in den Kontext seiner späteren Theorieentwürfe bzw. den Rahmen der sozial-philosophischen Theorietradition einzuordnen. So erkennt Norbert Altenhofer in Schleiermachers früher Beschäftigung mit geselliger Kommunikation die Fundierung seiner später systematisch ausgearbeiteten Hermeneutik.119 Im Rekurs auf das dritte Gesetz stellt er die These auf, dass die soziale Sphäre der Geselligkeit in einem wechselseitigen

‚interpretativen’ Akt zwischen den Aktanten gebildet und fortlaufend erweitert wird.120 Die gesellige Wechselwirkung verfügt aus Altenhofers Perspektive also notwendigerweise über eine hermeneutische Komponente. Seiner Meinung nach wird mit der Idee eines entfunktionalisierten und für die freie ‚Manier’ der Artikulation geöffneten Kommunikationsraums das Problem des Verstehens virulent, das in der geselligen Praxis gelöst werden muss. Wie auch Peter Seibert in Bezug auf Schleiermachers Theorie folgert, wird die gesellige Wechselwirkung dadurch zum Akt der Interpretation.121 In diesem Szenario übernehmen alle Beteiligten der geselligen Kommunikation eine Interpreten-Rolle und arbeiten in einem Spiel der fortlaufenden Korrektur und Anregung gemeinsam an der Optimierung der Verstehensbilanz. In diesem alle Beteiligten einbeziehenden kommunikativ-interpretatorischen Akt findet dann die permanente Annäherung an den Idealzustand der (freien) Geselligkeit statt.122

Unter dem Vorzeichen der Hermeneutik nähern sich dem Theorieansatz von Schleiermacher auch Gianni Vattimo und Michael Hofer, die die gesellige Verbindung als eine Institution zur Vermeidung des Missverstehens123 bzw. als ein „Ort des Bemühens um Verstehen und Anerkennen“124 betrachten. Aus einer Hermeneutik, Ethik und Sozialität verschränkenden Perspektive betrachtet Joseph Vogl Schleiermachers Geselligkeitstheorie als eine Gegenvision zum kritisierten mechanistischen Gemeinwesen, in der die „Unmittelbarkeit des Verstehens eine ethische Begründung der Hermeneutik vollzieht und mit ihren metaphysischen Fundamenten bis hin zu Apels idealer und unbegrenzter

119 Vgl. Altenhofer, Norbert: Geselliges Betragen – Kunst – Auslegung. Anmerkungen zu Peter Szondis Schleiermacher-Interpretation und zur Frage einer materiellen Hermeneutik. In: Nassen, Ulrich (Hg.): Studien zur Entwicklung einer materiellen Hermeneutik. München 1979; S. 165-211, hier S. 179.

120 Vgl. ebd.; S. 185.

121 Vgl. Seibert, Peter: Der literarische Salon, a.a.O.; S. 322.

122 Vgl. Altenhofer, Norbert: Geselliges Betragen – Kunst – Auslegung, a.a.O.; S. 200.

123 Vgl. Vattimo, Gianni: Die Hermeneutik und das Modell der Gemeinschaft. In: Vogl, Joseph (Hg.):

Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Frankfurt a.M. 1994; S. 208-222, hier S. 212.

124 Hofer, Michael: Nächstenliebe, Freundschaft, Geselligkeit. Verstehen und Anerkennen bei Abel, Gadamer und Schleiermacher. München 1998; S. 15.

Kommunikationsgemeinschaft fortwirkt“.125 In eine ähnliche Richtung geht auch die Schleiermacher-Lektüre von Andreas Arndt, der die gesellige Konversation als ein „Mittel zur Lösung praktischer Antinomien“ auffasst.126 Arndt bezeichnet die entpragmatisierte Geselligkeit in diesem Zusammenhang sogar als eine Realisierungsform des

„herrschaftsfreien Gesprächs“ und positioniert Schleiermachers Ansatz auf diese Weise eindeutig im Kontext der Theorie kommunikativer Vernunft von Habermas.127

Es lässt sich an diesem Punkt zusammenfassen, dass die am weiter oben (Kap. I.1.1) in Bezug auf die Arbeiten von Frank, Kliebisch und Wenz konstatierte Dominanz einer bestimmten kommunikationstheoretischen Verortung Schleiermachers auch auf seine Theorie der Geselligkeit ausgeweitet werden kann. Auch die Auseinandersetzung mit dem Geselligkeitsansatz wird nämlich fast ausschließlich entweder an Schleiermachers Hermeneutik- bzw. Dialektikkonzept geknüpft oder als Vorstufe verständigungsorientierter kommunikationstheoretischer Modelle betrachtet. Wie in Bezug auf Götterts konversationstheoretisch ausgerichtete Analyse des Geselligkeitsansatzes gezeigt wurde und an dieser Stelle ebenfalls verallgemeinert werden kann, konzentrieren sich die Analysen der Geselligkeitstheorie auf das dritte, die praktische Gesprächsführung koordinierende

‚quantitative Gesetz’ der Geselligkeitstheorie. Der genuin theoretische Ansatz, der im überlieferten Textfragment zwar nicht ausführlich erläutert, aber doch in wesentlichen Zügen angelegt ist, bleibt meistens unterbelichtet bzw. wird als Sackgasse des theoretischen Bestrebens Schleiermachers bezeichnet und gezielt ausgeblendet.

Im Folgenden wird im Gegensatz zu diesen Ansätzen und im Rekurs auf das bisher Erläuterte abschließend eine alternative Perspektivierung der Kommunikationsauffassung in Schleiermachers Geselligkeitstheorie unternommen.

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE