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Performanz des frühromantischen Wissens über Kommunikation

1. Jenseits der Diskursivität: Darstellung und Witz als Erkenntnismodi

1.6 Der ‚witzige Einfall’ und das Aufbrechen der Zeitlichkeit

Es lässt sich an dieser Stelle zusammenfassen, dass die frühromantische Poetik der Darstellung, sowohl im Modus der ‚Andeutung des Unendlichen’, als auch in Gestalt des Klopstockschen Konzeptes der ‚Wortbewegung’, über eine erkenntnistheoretische

472 Menninghaus, Winfried: ‚Darstellung’, a.a.O.; S. 220.

473 Novalis: NS 2; S. 485.

474 Schlegel, Friedrich: KFSA 2; S. 366.

Komponente verfügt. In beiden Fällen handelt es sich um eine ästhetische Art der Wissensgenerierung, die unter die Verfahren des diskursiven Denkens nicht subsumiert werden kann.

Wenn man die frühromantische Darstellungspoetik als eine ‚Dachkategorie’ für unterschiedliche Praktiken des ‚Verfügbarmachens des Unverfügbaren’ auffasst, dann zeigen sich vor allem die Konzepte der Allegorie und des Witzes als deren prägnanteste Einzelerscheinungen. Weil auf das ‚allegorische Wissen’ weiter unten (Kap. II.2.7) noch eingegangen wird, soll im Folgenden die frühromantische Auffassung des Witzes als einer spezifischen Art der nicht-diskursiven Wissensproduktion näher betrachtet werden.

Mit der Kategorie des Witzes schließt die Frühromantik an eine Tradition an, in der sich dieser Begriff auf keine literarische Gattung bzw. bestimmte Textsorte bezieht, sondern – in Bezug auf die etymologische Verwandtschaft von ‚Witz’ und ‚Wissen’ – eine

‚Erkenntniskraft’475 bezeichnet.476 Den Hintergrund der frühromantischen Auffassung des Witzes bilden zwei im 18. Jahrhundert vorherrschende Traditionslinien, nach denen unter dem Begriff des Witzes entweder die Gabe zu geistreichen Einfällen oder die Fähigkeit, Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Objekten zu erkennen und wahrzunehmen, verstanden wird.477

In der Frühromantik wird die Auffassung des Witzes als einer „Geisteskraft“478 noch potenziert, indem ihm eine wichtige Position im Bereich des menschlichen Erkenntnisvermögens zugeteilt wird. Die herausragende Position des Witzes ergibt sich – ähnlich wie bei dem oben skizzierten Paradigma der Darstellung – aus seinem Differenzverhältnis zu diskursiv strukturierten Erkenntnisformen. Nach Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy repräsentiert der frühromantische Witz ein „‚concept’ of knowledge [...] that is other than the knowledge of analytic and predicative discursivity“.479 Die exzentrische Position des Witzes gegenüber den ‚gewöhnlichen Gattungen der Vernunft’480 manifestiert sich nach Friedrich Schlegel zunächst darin, dass man im Modus des ‚witzigen Denkens’ „die konventionellen Schranken aufhebt, und den Geist frei läßt.“481 Die geforderte ‚Freiheit des Geistes’ ist aber kein Zeichen von Anarchie, sondern eine

475 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Werke in zehn Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd.

3. Darmstadt 1975; S. 20.

476 Vgl. dazu v.a. Best, Otto W.: Der Witz als Erkenntniskraft und Formprinzip. Darmstadt 1989 und Hecken, Thomas: Witz als Metapher. Der Witz-Begriff in der Poetik und Literaturkritik des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2005.

477 Vgl. Best, Otto W.: Der Witz als Erkenntniskraft und Formprinzip, a.a.O.; S. 2.

478 Schlegel, Friedrich: KFSA 3; S. 81.

479 Lacoue-Labarthe, Philippe; Nancy, Jean-Luc: The literary Absolute, a.a.O.; S. 53.

480 Vgl. Schlegel, Friedrich: KFSA 2; S. 159.

481 ebd.; S. 181.

notwendige Konsequenz aus der oben bereits angedeuteten Einsicht in die Nichterkennbarkeit bzw. Undarstellbarkeit des ‚Absoluten’ und dem damit zusammenhängenden „Bewußtsein der Relativität jeder Bindung und Fixierung“.482 Das erkenntnistheoretische Novum des Witzes besteht in der Ablösung eindimensionaler Denkarchitekturen durch die Freiheit der „allseitig kombinatorische[n] Verflechtung“.483 Der Erkenntnisgewinn des ‚kombinatorischen Witzes’484 ergibt sich dabei aus der

„überraschende[n] Aufdeckung von bislang nicht Gesehenem“.485

Die Absetzung von den Konventionen im Bereich der diskursiv bestimmten Denkoperationen zeigt sich bei der frühromantischen Auffassung des Witzes am signifikantesten im Aufbrechen der strukturellen und zeitlichen Linearität und Kontinuität der Denkprozesse. An die Stelle einer schrittweisen Entwicklung von Gedanken in Form einer chronologischen Abfolge von Argumenten und einzelnen Theoriebausteinen tritt die Singularität und Ereignishaftigkeit des ‚witzigen Einfalls’. Der Einfall als Produkt einer

„feurige[n] Vernunft“486 wird nicht kontemplativ vorbereitet und entwickelt, sondern tritt unmittelbar in Erscheinung und „überrascht auch den, der ihn hat“.487 Wie Lothar Pikulik bemerkt, manifestiert sich gerade in der Unmittelbarkeit der Erscheinung des ‚witzigen Einfalls’ eine „Absage an den evolutionären Gang des diskursiven Denkens“.488

Die für das Konzept des Witzes virulente Dimension der Zeitlichkeit ist bereits in Klopstocks weiter oben erläuterter Theorie der ‚Wortbewegung’ von entscheidender Bedeutung. Die Wirkungspotenz der ‚Wortbewegung’ liegt nach Klopstock vor allem darin, dass die durch sie ausgelösten Vorstellungen ‚schneller’ zustande kommen als diejenigen, die „die Worte, ihrem Sinne nach, in uns hervorbringen“.489 Die Schnelligkeit der durch die

‚Wortbewegung’ hervorgerufenen Rezeptions- und Denkoperationen stellt in diesem Sinne eine „durch kein Bedeutungsentziffern verlangsamte[], ‚transhermeneutische’

Partizipierbarkeit“ dar.490 Der Faktor der Beschleunigung spielt in Klopstocks Darstellungspoetik eine wichtige Rolle: „Das schneller ist überhaupt von nicht kleinem, und bei der Darstellung ist es von sehr großem Gewicht.“491 Klopstocks ästhetisch und

482 Frank, Manfred: Das ‚fragmentarische Universum’ der Romantik. In: Dällenbach, Lucien; Hart Nibbrig, Christiaan L. (Hg.): Fragment und Totalität. Frankfurt a.M. 1984; S. 212-224, hier S. 217.

483 Neumann, Gerhard: Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. München 1976; S. 454.

484 Vgl. Schlegel, Friedrich: KFSA 2; S. 268

485 Neumann, Gerhard: Ideenparadiese, a.a.O.; S. 454.

486 Schlegel, Friedrich: KFSA 2; S. 159.

487 Pikulik, Lothar: Frühromantik. Epoche – Werke – Wirkung. München 1992; S. 96.

488 ebd.

489 Klopstock, Friedrich G.: GNP; S. 148.

490 Menninghaus, Winfried: Klopstocks Poetik der ‚schnellen Bewegung’, a.a.O.; S. 341.

491 Klopstock, Friedrich G.: GNP; S. 174. [Kursivierung im Original]

erkenntnistheoretisch fundierte Zeitökonomie des „schnelleren Denkens“492 zielt dabei auf eine Potenzierung der ‚Geschwindigkeit’ ästhetischer Wahrnehmung bis zu einer schlagartigen Ereignishaftigkeit des freien Falls.493

Karl Heinz Bohrer hat diesen Modus der Erkenntnis mit der Kategorie der ‚Plötzlichkeit’

bezeichnet. Die Plötzlichkeit stellt nach seiner Bestimmung eine temporale Struktur dar, die als eine „Absage an Kontinuität des Zeitbewußtseins“494 aufgefasst werden kann und aufgrund ihrer Augenblicksstruktur einen spezifischen „Modus von intellektuellen Erlebnissen“ darstellt.495 Die Plötzlichkeitsstruktur des frühromantischen ‚witzigen Einfalls’

kommt in Friedrich Schlegels Lyceums-Fragment Nr. 34 auf prägnante Art und Weise zum Ausdruck:

Ein witziger Einfall ist eine Zersetzung geistiger Stoffe, die also vor der plötzlichen Scheidung innigst vermischt sein mußten. Die Einbildungskraft muß erst mit Leben jeder Art bis zur Sättigung angefüllt sein, ehe es Zeit sein kann, sie durch die Friktion freier Geselligkeit so zu elektrirsieren, daß der Reiz der leisesten freundlichen oder feindlichen Berührung ihr blitzende Funken und leuchtende Strahlen, oder schmetternde Schläge entlocken kann.496

In dieser Passage wird die mit der Ereignishaftigkeit des Witzes verbundene Semantik in ihrer ganzen Fülle aufgerollt. Die wortwörtlich erwähnte ‚Plötzlichkeit’ des ‚witzigen Einfalls’ wird mit den Phänomenen des ‚Reizes’ und der ‚Berührung’ in Verbindung gebracht und die Erscheinungsform des Witzes mit den Metaphern des ‚Blitzes’, des

‚Strahls’ und des ‚Schlags’ anschaulich gemacht. Die Relation zwischen der geistigen Potenz und der Ereignishaftigkeit des ‚witzigen Einfalls’ artikuliert in gebündelter Form auch folgende Definition Friedrich Schlegels: „Witz ist eine Explosion von gebundnem Geist.“497

Wie man dem zitierten Lyceums-Fragment entnehmen kann, wird das Ereignis des ‚witzigen Einfalls’ nicht für das produzierende Bewusstsein eines Einzelnen reserviert, sondern ausdrücklich in eine interaktive Situation eingebettet. Die interaktive Struktur des Witzes zeigt sich zunächst darin, dass die Aktivierung der geistigen Potenz, die zu einer ‚Explosion’

führen soll, erst durch die im Rahmen einer ‚frei geselligen’ Wechselwirkung vollzogene intellektuelle ‚Berührung’ eines Anderen zustande kommt. Der ‚witzige Einfall’, in dem sich

492 Klopstock, Friedrich Gottlieb: GNP; S. 177. [Kursivierung im Original]

493 Vgl. ebd.; S. 169.

494 Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a.M. 1981; S. 43.

495 ebd.; S. 158.

496 Schlegel, Friedrich: KFSA 2; S. 150.

497 ebd.; S. 158.

der „unbedingt gesellige[] Geist“498 offenbart, kann also als Produkt einer

‚symphilosophischen’ Beziehung betrachtet werden. Das gesellige interaktive Bündnis stellt dabei allerdings nicht nur die Voraussetzung, sondern auch den Bestimmungsort bzw. den

‚Schauplatz’ der ‚witzigen’ Denkform dar.

Die interaktive Grundstruktur des ‚witzigen Einfalls’ tritt durch die mit dem Konzept des Witzes verbundene Blitz- und Lichtmetaphorik noch deutlicher hervor. Die Metapher des Blitzes verweist zwar in erster Linie auf den Augenblickscharakter des Blitzeinschlags, der die Plötzlichkeit der Idee unterstreicht, und auf die erhellende Präsenz des Lichts, die sich durch die Aktualisierung des traditionellen Aufklärungstopos’ auf den Moment der geistigen Erleuchtung bezieht. Doch der in Gestalt von ‚Funken’, ‚Strahlen’ und ‚Schlägen’

aufblitzende ‚witzige Einfall’ stellt außerdem ein markantes Ereignis dar, das aufgrund seiner Intensität von der Außenwelt wahrgenommen und rezipiert wird. Eben weil der

‚witzige Einfall’ innerhalb einer geselligen Situation als „die Erscheinung, der äußre Blitz der Fantasie“499 zustande kommt, bleibt er nicht auf das produzierende Bewusstsein fixiert, sondern nimmt eine wahrnehmbare Form an. Der ‚witzige Einfall’ wird dadurch in eine interaktive Konstellation eingebunden, bei der es nicht nur um die Unmittelbarkeit des Witzes, sondern auch um den Modus seiner Wahrnehmung und Rezeption geht. Die Ereignishaftigkeit des ‚witzigen Einfalls’ beruht also nicht nur auf dem blitzartigen Moment seines Erscheinens, sondern hängt vor allem mit seiner wahrnehmbaren Präsenz und seiner Wirkung zusammen. Erst in der Verschränkung des plötzlichen Zustandekommens und der Aktivierung des Wahrnehmungsapparats des Rezipienten wird der ‚witzige Einfall’ zu einem Ereignis. Die Aspekte der Plötzlichkeit, Zufälligkeit und Unmittelbarkeit prägen also nicht nur die Art und Weise des Zustandekommens, sondern auch den Rezeptions- und Wirkungsmodus der ‚witzigen’ Denkform.

Da der ‚witzige Einfall’ dem wahrnehmenden Bewusstsein als ein unmittelbares

„Widerfahrnis“ und nicht als „ein Gemachtes“500 begegnet, hat auch seine Wirkung den Charakter des Plötzlichen. Nach Novalis entsteht in dieser ‚Berührung’ der Bewusstseine

„eine Substanz, deren Wirckung so lange, als die Berührung, dauert“.501 Hinsichtlich der Blitzartigkeit der ‚witzigen’ Berührung ist die ‚Substanz’ nicht im Sinne einer Verkörperung bzw. eines geformten Inhalts zu verstehen. Friedrich Schlegel fasste den nicht-substantiellen und nicht-diskursiven Charakter des Witzes in einer prägenden Formulierung zusammen:

498 Schlegel, Friedrich: KFSA 2; S. 148.

499 ebd.; S. 258 [Kursivierung von mir; P.G.]

500 Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Radikale Transformation der Kunst vom Werkhaften zum Performativen. In: Kunstforum 152 (2000); S. 94-103, hier S. 101.

501 Novalis: NS 2; S. 452.

„Der Witz ist wie einer, der nach der Regel repräsentieren sollte, und statt dessen bloß handelt.“502 Das ‚Substantielle’ des Witzes als eines Ereignisses besteht also ausschließlich in der Aktivierung einer Reaktion. Die entscheidende Funktion des Witzes im Kontext einer interaktiven Konstellation liegt nach Friedrich Schlegels Bestimmung darin, dass er „das Selbstdenken [...] sehr energisch erreg[t]“.503 Der Reiz des Witzes wirkt sich also nicht nur in Form einer ‚mechanischen’ Erregung aus, sondern wird zum Ausgangspunkt neuer Erkenntnis: „Der Geist strebt den Reitz zu absorbiren. Ihn reizt das Fremdartige.

Verwandlung des Fremden in ein Eignes, Zueignung ist also das unaufhörliche Geschäft des Geistes.“504 Der Reiz wird sogar zum Stimulans der inventorischen Potenz des Rezipienten.

Ein Individuum wird durch die Berührung mit einer reizenden Größe nämlich zu eigenen

„schöpferischen Entwicklungs- und Entfaltungsprozessen“505 angeregt.

Wie man sieht, wird das frühromantische Konzept des Witzes außer der Blitzmetaphorik maßgeblich durch die Begriffssemantik der ‚Erregung’, des ‚Reizes’, der ‚Sensibilität’ und der ‚Irritabilität’ geprägt. Dieses Vokabular hat ihren Ursprung vor allem in Novalis’

Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Naturwissenschaften, insbesondere mit der Medizin.506 Als Hauptbezugspunkte dienen ihm dabei die physiologischen Konzepte von John Brown (1735-1788) und Albrecht von Haller (1708-1777). Novalis setzt sich vor allem mit der Physiologie Browns kritisch auseinander.507 Das Brownsche Konzept beruht auf der Grundannahme, dass jeder menschliche Körper über ein individuelles Potential an Erregbarkeit verfügt, das einen bestimmten Grad an Reizen abzufangen in der Lage ist, und über eine Schwelle, über die hinaus die Reize den Körper gefährden. Der gesundheitliche Zustand eines Organismus hängt vom Ausmaß seiner Stimulation ab. Krankheit entsteht nach diesem Modell entweder aus einem Mangel oder einem Überschuss an Reizen. Aus diesem Grundsatz wird die Unterscheidung zwischen sthenischen (Erregung durch Überstimulation) und asthenischen (Mangel an Erregung) Krankheiten abgeleitet, an die entsprechende Therapien der Beruhigung und Erregung gekoppelt sind.

Novalis übte zwar keinen direkten Einfluss auf die Medizin seiner Zeit aus, doch seine Beschäftigung mit medizinischen Fragen wirkte sich – und das ist hier das Entscheidende – auf dem Gebiet der Poetik aus. Novalis’ Leistung bestand in dieser Hinsicht, wie Verena

502 Schlegel, Friedrich: KFSA 2; S. 184.

503 Schlegel, Friedrich: KFSA 3; S. 81.

504 Novalis: NS 2; S. 646.

505 Lukas, Verena A.: Der Dialog im Dialog. Das Inzitament bei Friedrich von Hardenberg. Bern 2000; S. 39.

506 Vgl. u.a. Engelhardt, Dietrich von: Novalis im medizinhistorischen Kontext. In: Uerlings, Herbert (Hg.):

Novalis und die Wissenschaften. Tübingen 1997; S. 65-83. Vgl. hier auch Bibliographie zur bisherigen Forschung.

507 Zu Novalis’ Rezeption der Theorie Browns vgl. u.a. Novalis: NS 2; S. 385 und NS 3; S. 53, 369, 453, 477.

Lukas bemerkt, im Nachweis der „ästhetisch-philosophischen Potentialität“508 der zeitgenössischen Medizin. Der medizinische Diskurs wird bei Novalis unmittelbar in das poetologische Programm inkorporiert: „Die Poësie schaltet und waltet mit Schmerz und Kitzel – mit Lust und Unlust – Irrthum und Wahrheit – Gesundheit und Kranckheit – Sie mischt alles zu ihrem großen Zweck der Zwecke – der Erhebung des Menschen über sich selbst.“509 Die Poesie wird bei Novalis also als aktiver Faktor bestimmt, der an der Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit agiert. Dem Befund Browns folgend, dass die meisten Krankheiten seiner Zeit der Gruppe der asthenischen, d.h. zu denjenigen, die sich durch einen geschwächten Zustand des Organismus auszeichnen, zuzurechnen sind510, wird auch im Bereich der Poesie die Potenzierung der Erregung angestrebt: „Man sucht mit der Poesie, die gleichsam nur das mechanische Instrument dazu ist, innre Stimmungen, und Gemählde oder Anschauungen hervorzubringen – vielleicht auch geistige Tänze etc. Poésie = Gemütherregungskunst.“511 Aufgrund ihrer Potenz zur Erregung wird die Poesie zum Heilmittel: „[Sie] ist die große Kunst der Construction der transcendentalen Gesundheit. Der Poet ist also der transcendentale Arzt.“512

Der poetologische Gewinn, den Novalis aus der medizinischen Reizlehre gezogen hat, besteht also darin, dass er in der Relation zwischen einem reizbaren Organismus und einem reizenden Stimulans ein Analogon zur erwünschten ‚witzigen’ Wirkungsweise der (frühromantischen) Poesie erkennt.

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