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Diskursivität des frühromantisches Wissens über Kommunikation

1. Aufwertung der Kommunikation: Friedrich Schleiermachers Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799)

1.3 Geselligkeitstheorie und die Tradition der Konversationslehre

Wie man schon dem Inhaltsverzeichnis von Karl-Heinz Götterts Standardwerk zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie63 entnehmen kann, nimmt Schleiermacher in dieser Tradition eine Schwellenposition ein. In Götterts geschichtlichem Szenario, dessen Eckpunkte die erste Konsolidierung der Konversationslehre im 16.

Jahrhundert, die Phase der großen Spannungen und der größten Produktivität im 17.

Jahrhundert und der Umbruch im 18. Jahrhundert darstellen, figuriert Schleiermacher als letzter Theoretiker dieser Kommunikations- und Sozialform. Es ist Schleiermachers Text zur Theorie der Geselligkeit, der nach Göttert, neben Christian Garves Aufsatz Über die Maxime Rochefaucaults: das bürgerliche Air verliert sich zuweilen bey der Armee, niemals am Hofe (1797), den Kulminationspunkt der Konversationslehre nach deren letztem Aufschwung im Zusammenhang mit den Moralischen Wochenschriften der Aufklärungszeit markiert. Diese beiden Texte repräsentieren nach Göttert die allmähliche Auflösung der im Zeichen der conversatio ursprünglich gebildeten Verbindung zwischen den Bereichen des Anstands und der Kommunikation.

Während Göttert den Neuansatz von Garves Text in der Vorbereitung einer neuartigen

„psychologisch-soziologische[n] Kommunikationsanalyse“64 erkennt, hebt er bei Schleiermacher die von diesem vollzogene Transformation der ursprünglich auf die Formulierung von Kommunikationsidealen ausgerichteten Intention der Konversationslehre in eine „Philosophie der Verständigung“65 hervor. Auch Göttert schließt sich also in dieser Hinsicht der vorherrschenden Ansicht an, dass Schleiermachers Geselligkeitstheorie nur als ein Meilenstein auf dem über seine Hermeneutik und Dialektik bis hin zu einem

„Diskursideal im modernen Sinne“66 führenden Weg zu sehen ist.

Der entscheidende Punkt in Götterts Schleiermacher-Lektüre besteht darin, dass er in dessen Geselligkeitslehre Spuren der klassischen Konversationstheorie ausfindig macht und deren durch Schleiermacher vorgenommene Transformation als die Grundlage seiner späteren dialektischen Theorie der diskursiven Vernunft betrachtet. Die Nachwirkung der ars conversationis in Schleiermachers Geselligkeitsentwurf manifestiert sich nach Göttert im Begriff des Schicklichen. Durch diesen Bezug wird das Gebot der decorum-Lehre aktualisiert, das seit der frühneuzeitlichen Konversationstheorie nicht mehr auf die

63 Vgl. Göttert, Karl-Heinz: Kommunikationsideale, a.a.O.

64 ebd.; S. 163.

65 ebd.; S. 164.

66 ebd.; S. 190.

Außenseite des tugendhaften Lebens bezogen wurde (wie bei Cicero), sondern außerhalb des ethischen Kontextes der Antike eine sittlich neutrale Thematisierung anständigen Benehmens markierte. Nach Göttert zeigt sich auch Schleiermachers Theorie auf den ersten Blick als eine „Ergänzungs- bzw. Sondermoral“, die sich nicht auf das rechte Handeln im moralischen Sinne, sondern auf die ‚technische’ Beherrschbarkeit und Erlernbarkeit eines angemessenen Handelns in konkreten Situationen bezieht.67

Entscheidend ist in dieser Hinsicht vor allem, dass Göttert Schleiermachers Bezugnahme auf die Konversationslehre als „eine transzendentalphilosophisch gerichtete Erläuterung der Schicklichkeit aus den Bedingungen der menschlichen Vernunft“68 auffasst. Hier wird noch einmal auf signifikante Weise deutlich, dass Göttert die Funktion der Geselligkeitstheorie in der philosophischen Transformation des konversationstheoretischen Paradigmas und in der Vorbereitung des dialektischen bzw. hermeneutischen Ansatzes sieht.

Wie bereits angedeutet, soll hier diese Position in Frage gestellt und eine alternative Lesart angeboten werden. Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass Götterts Nachweis der konversationstheoretischen Sedimente in Schleiermachers Theorie sich nur auf einen Teil des erhaltenen Textfragments bezieht. Schleiermacher konzipierte seine Theorie als ein aus drei miteinander verbundenen Ebenen bzw. drei ‚Geselligkeitsgesetzen’ bestehendes Ganzes.

Der publizierte erste Teil enthält allerdings außer einer allgemein gehaltenen Einführung nur die Erläuterung des dritten, ‚quantitativen’ Gesetzes. Während die ersten beiden Gesetze, das

‚formelle’ und das ‚materielle’ vor allem das theoretisch-abstrakte Fundament der Geselligkeitslehre enthalten sollten, war das ‚quantitative’ Gesetz auf die praktische Umsetzung der Geselligkeit ausgerichtet und als Anweisung zur Verwaltung gegebener geselligen Verbindungen angelegt. Das dritte Gesetz stellt eine notwendige Ergänzung des in den ersten beiden Gesetzen angelegten abstrakten Geselligkeitsmodells dar, und kann deswegen auch als ein ‚Kompensationsgesetz’69 bezeichnet werden, da es die Aufgabe hat, die Diskrepanzen zwischen den theoretischen Maximen der Geselligkeit und deren wirklichen Realisierungsformen auszubalancieren.

Diese Bestimmung der Zuständigkeiten der einzelnen Geselligkeitsgesetze wirkte sich auf die Struktur von Schleiermachers Theorieentwurf aus. Wie man aus Schleiermachers vorbereitenden Fragmenten erfährt, kann eine Theorie auf zweierlei Weise hervorgebracht

67 Vgl. Göttert, Karl-Heinz: Kommunikationsideale, a.a.O.; S. 12.

68 ebd.; S. 171.

69 Zu Schleiermachers Theorie der Geselligkeit als einer Kompensation von Mangelzuständen vgl. auch Schöning, Matthias: Virtuosen der Kompensation. Schleiermacher, Blumenberg und Marquard oder: Vom Diesseits der Systeme. In: Todorow, Almut; Landfester, Ulrike; Sinn, Christian (Hg.): Unbegrifflichkeit. Ein Paradigma der Moderne. Tübingen 2004; S. 89-106; bes. S. 93ff.

werden: „[A]us dem Mittelpunkt heraus oder von den Grenzen herein [;] bei empirischen Dingen die zweite Art“70. Da Schleiermacher die Geselligkeit als ein empirisches Phänomen betrachtet, weicht er in seinem Theorieentwurf von der ursprünglichen Anordnung der Gesetze ab und nähert sich seinem Gegenstand von den „Grenzen herein“, er beginnt also mit einer Analyse der empirischen Randbedingungen der geselligen Kommunikation. Der Hauptteil des ersten und einzig erhaltenen Theoriestücks ist daher der Erläuterung des dritten, ‚quantitativen’ Gesetzes gewidmet. Eine ausführliche Darstellung des abstrakten Fundaments der Geselligkeitstheorie mit dem ‚formellen’ und dem ‚materiellen’ Gesetz ist nicht überliefert.

Es überrascht daher nicht, dass Götterts Interpretation und geschichtliche Einordnung von Schleiermachers Geselligkeitstheorie sich fast ausschließlich an den Grundsätzen des

‚quantitativen’ Gesetzes orientiert und dabei den in der Einführung des erhaltenen Fragments angedeuteten Theoriezusammenhang ausblendet. Es ist ja gerade das

‚Kompensationsgesetz’, das durch konversationstheoretisch geprägte Maximen die praktische Geselligkeit organisiert und dadurch eine Verortung Schleiermachers in der Tradition der ars conversationis ermöglicht und plausibel macht. Götterts Nichtberücksichtigung des im einführenden Teil der Geselligkeitstheorie angedeuteten Gesamtentwurfs und der beiden anderen Gesetze ist nicht auf eine unaufmerksame Lektüre zurückzuführen, sondern ist Bestandteil seiner Argumentation. Den Abbruch der Arbeit an dem Punkt, an dem er zu einer ausführlichen Erläuterung der ersten beiden Geselligkeitsgesetze kommen müsste, deutet Göttert nämlich als eine bewusste Entscheidung Schleiermachers und als notwendige Folge seiner Zweifel an der Konsistenz der von ihm konzipierten Geselligkeitstheorie: „Die Fortsetzung, die den beiden anderen Gesetzen hätte gewidmet sein müssen [...] hätte kaum interessant werden können, und zwar schlicht mangels Problematik.“71 Mit diesem Urteil wird Schleiermachers Ansatz endgültig auf seine konversationstheoretische Ebene reduziert und als Anleitung zur Verständigungsoptimierung in Situationen direkter Interaktion bestimmt.

Mit dieser Auffassung setzt sich Göttert von der biographisch argumentierenden Schleiermacher-Forschung ab, in der die Unterbrechung der Arbeit an der Geselligkeitstheorie mit Schleiermachers persönlichen Lebensumständen in Zusammenhang gebracht wird. Während der Arbeit am Geselligkeitsaufsatz zieht Schleiermacher von Berlin nach Potsdam, wo er von Mitte Februar bis Mitte Mai 1799 vertretungsweise Hofpredigerdienste leisten sollte. Mit diesem Wechsel verlässt er auch das Umfeld der

70 Schleiermacher, Friedrich: KGA I.2; S. 31.

71 Göttert, Karl-Heinz: Kommunikationsideale, a.a.O.; S. 174.

Salongeselligkeit, die als unmittelbare Anregung für seine Theorie diente. Als Beleg für die Auswirkung des Umzugs auf seine theoretischen Interessen kann man Schleiermachers Brief an Henriette Herz heranziehen, den er bereits am Tag nach der Ankunft in Potsdam verfasst hat. In diesem wird berichtet: „[I]ch habe einen Dialog im Plato gelesen, ich habe ein kleines Stück Religion gemacht, ich habe Briefe geschrieben kurz ich habe alles versucht außer die gute Lebensart, und was soll ich mit der ohne Gesellschaft?“72 Mit ‚guter Lebensart’ ist hier Schleiermachers Geselligkeitstheorie gemeint73 und mit ‚Gesellschaft’ die Berliner Salonkultur. Aus dieser Perspektive erscheint die Erfahrung der Potsdamer Einsamkeit als möglicher Grund für das „Scheitern des ungeselligen Individuums an der Theorie der Geselligkeit“.74

Der biographische Ansatz und die Position Götterts haben gemeinsam, dass sie die Unterbrechung als quasi bewussten Akt in den Vordergrund rücken und dadurch die Untersuchung des in Schleiermachers Theorie angedeuteten abstrakten Geselligkeitsmodells außer Acht lassen. Im Folgenden soll im Hinblick auf dieses Desiderat, vor allem aber im Gegensatz zu Götterts Reduktion des Geselligkeitsansatzes auf seinen konversationstheoretischen Aspekt anhand von Schleiermachers Text, insbesondere in Bezug auf seine Einführungspassage, ein kommunikationstheoretischer Ansatz rekonstruiert werden, dessen Reichweite über die klassische ars conversationis hinaus reicht und nicht ohne weiteres in die Entwicklungslinie einer auf Verständigung orientierten Kommunikationstheorie eingeordnet werden kann.

Das Innovationspotential des in Schleiermachers Geselligkeitstheorie entwickelten Wissens über Kommunikation wird im Folgenden in mehreren Schritten nachgewiesen. Es wird erstens gezeigt, dass Schleiermacher mit seinem Insistieren auf einer dezidiert theoretischen Erfassung der Geselligkeit die verhaltenspädagogische Ausrichtung einer empirisch angelegten Konversationslehre übersteigt (Kap. I.1.4). Zweitens wird zu zeigen sein, dass Schleiermacher in seinem Geselligkeitsentwurf gesellschaftliche Strukturveränderungen und deren Einfluss auf die Chancen erfolgreicher Kommunikation reflektiert und daraus Schlüsse für die Bestimmung der Geselligkeit zieht (Kap. I.1.5). Im dritten Schritt wird der Nachweis geliefert, dass Schleiermacher mit seinem Konzept der ‚freien Geselligkeit’ in einem neuartigen theoretischen Vokabular ein Modell interaktiver Kommunikation entwirft, dessen

72 Schleiermacher, Friedrich: KGA V.3; S. 10. Zit. nach Arndt, Andreas: Geselligkeit und Gesellschaft, a.a.O.;

S. 48.

73 Vgl. Schleiermacher, Friedrich: KGA I.2; S. 26.

74 Seibert, Peter: Der literarische Salon, a.a.O.; S. 313.

Struktur nicht auf das Modell der rhetorisch fundierten Konversationslehre reduziert werden kann (Kap. I.1.6). Im vierten Schritt wird im Hinblick auf Schleiermachers Modifikation des konversationstheoretischen Schicklichkeitsgebots schließlich gezeigt, dass sein Kommunikationsmodell weder in Bezug auf sein späteres Konzept der Dialektik, noch als Vorstufe moderner Konsenstheorien angemessen beurteilt werden kann (Kap. I.1.7 und I.1.8).

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