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Exkurs: Adam Müllers Lehre vom Gegensatze (1804)

3. Kommunikation als Mythologem: Das frühromantische Konzept der Neuen Mythologie

3.2 Die Geselligkeit der Neuen Mythologie

Ein gemeinsames Moment von Neuer Mythologie, Schleiermachers Geselligkeitstheorie und seinem Religionsmodell ist der Hinweis auf ein Desiderat im Bereich des sozialen Lebens.

Während Schleiermacher mit seinem Geselligkeitsmodell gegen die kommunikative Misere des modernen Menschen ankämpft und sein Religionskonzept der erstarrten Kommunikation der institutionalisierten Kirche entgegenstellt, erscheint das frühromantische Konzept der Neuen Mythologie in erster Linie als eine Reaktion auf den beobachteten Schwund der kollektivbildenden Kraft der Poesie, die Friedrich Schlegel in der Eröffnungspassage seines Gesprächs über die Poesie (1800) folgendermaßen geschildert hat:

Alle Gemüter, die sie lieben, befreundet und bindet Poesie mit unauflöslichen Banden. Mögen sie sonst im eigenen Leben das Verschiedenste suchen, einer gänzlich verachten, was der andre am heiligsten hält, sich verkennen, nicht vernehmen, ewig fremd bleiben; in dieser Region sind sie dennoch durch höhere Zauberkraft einig und in Frieden.280

Doch gleich zu Beginn seiner Rede über die Mythologie (1800), die einen Teil des Gesprächs über die Poesie bildet, wird die von Schlegel geschilderte Potenz des Poetischen relativiert: „Es fehlt, behaupte ich, unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die Alten war [...]“.281 Genauso wie Schleiermacher in seinen Konzepten der Geselligkeit und der Religion bei der Kritik des gegenwärtigen status quo ansetzt, entspringt auch die Idee der Neuen Mythologie einem Krisenbewusstsein. Es ist die Beobachtung des Zerfalls der für die geistige und soziale Bindung zuständigen poetischen Instanz, die zur Aktivität anregt: „Soll die Kraft der Begeisterung auch in der Poesie sich immerfort einzeln versplittern und wenn sie sich müde gekämpft hat gegen das widrige Element, endlich einsam verstummen?“282 Wichtig ist hier besonders das ‚auch’ dieser rhetorischen Frage, das die Befürchtung signalisiert, dass nach den von Ausdifferenzierung und Partikularisierung bereits betroffenen Lebensbereichen des modernen Menschen nun auch die Poesie, als eine wichtige Institution des geistigen und sozialen Zusammenhalts, ihre Kraft zu verlieren droht.

Die frühromantische Idee der Neuen Mythologie zeigt sich in dieser Hinsicht – und darin den Konzepten der ‚freien Geselligkeit’ und der ‚geselligen Religion’ ähnlich – als die Sehnsucht nach der kollektiven geistigen Arbeit an einem kommunikativ erzeugten gemeinsamen Zentrum, das außerhalb gesellschaftlich vorstrukturierter Beziehungsmodelle

280 Schlegel, Friedrich: KFSA 2; S. 284.

281 ebd.; S. 312.

282 ebd.; S. 311f.

Möglichkeiten für die Konstituierung einer „gemeinschaftlichen Sphäre“283 schaffen könnte.284

Die frühromantische Aktualisierung der Mythologie stellt historisch gesehen kein singuläres Phänomen dar.285 Die Vorbereitung des frühromantischen Konzepts setzt bereits mit der Rehabilitierung des Mythologischen in der Schrift Vom neuern Gebrauch der Mythologie (1767) des jungen Johann G. Herder an.286 Herders Beitrag zur Mythendebatte des 18.

Jahrhunderts interessiert hier vor allem deshalb, weil er sich dem Thema des Mythos ausdrücklich aus einer poetologischen Perspektive nähert.287 Herder beschäftigt sich in seinem Text vor allem mit der Frage, ob eine Mythologie unter Bedingungen der Aufklärung in poetologischen Kontexten zulässig sei. Dabei geht er das Problem mit folgender These an:

Wenn ich mythologische Bilder gebrauche, so fern gewisse moralische, oder allgemeine Wahrheiten durch sie sinnlich erkannt werden: so sind mir ja mythologische Personen erlaubt, die durchgängig unter einem bestimmten und dazu sehr poetischen Charakter bekannt sind.288

Herders eigentliches Anliegen besteht aber nicht in dem Ausdruck seiner Loyalität gegenüber dem Rückgriff auf Motive und Charaktere der antiken Mythologie in der zeitgenössischen Dichtung. Sein Interesse gilt besonders der inventiven Kraft der klassischen Mythopoetik, mit der er auch seine Forderung nach einem „heuristischen Gebrauch der Mythologie“289 verbindet. In Herders Verweis auf die Rolle der poetischen Erfindungskunst in der Verwaltung des gesellschaftlichen Topikinventars deutet sich bereits das frühromantische Mythologie-Projekt an, dem es nach Manfred Engel vor allem darum geht,

„mit spezifisch poetischen Mitteln ein umfassendes symbolisches Weltbild, eine neue Religion zu entwerfen“.290

Wenn man vor dem Hintergrund dieser Bestimmung der Mythologie in Betracht zieht, dass der Wirkungskreis der Poesie sich nicht auf eine überschaubare Menge anwesender

283 Engel, Manfred.: Träume und Feste der Vernunft. Zur Vorgeschichte des romantischen Projekts einer

‚Neuen Mythologie‘ in der Aufklärung. In: JDSG 36 (1992); S. 47-83, hier S. 48.

284 Zum frühromantischen Konzept der Neuen Mythologie als einer ‚Strategie der Entdifferenzierung’ vgl.

Plumpe, Gerhard: Ästhetische Kommunikation der Moderne, a.a.O.; S. 166ff.

285 Zum historischen Entwicklungsprozess der Idee der Neuen Mythologie vgl. v.a. Frank, Manfred: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie. Frankfurt a.M. 1982.

286 Herder, Johann G.: Vom neuern Gebrauch der Mythologie. In: ders.: Werke. Hg. v. Bollacher, Martin u.a.

Bd. 1. Frühe Schriften 1764-1772. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a.M. 1985; S. 432-455. Zu Herders Mythologiekonzept vgl. ausführlich Frank, Manfred: Der kommende Gott, a.a.O.; S. 123ff.

287 Vgl. auch Herder, Johann G.: Iduna oder der Apfel der Verjüngung. In: ders.: Werke. Hg. v. Bollacher, Martin u.a. Bd. 8. Schriften zu Literatur und Philosophie 1792-1800. Hg. v. Irmscher, Hans Dietrich. Frankfurt a.M. 1998; S. 155-172.

288 Herder, Johann Gottfried: Vom neuern Gebrauch der Mythologie, a.a.O.; S. 433. [Kursivierung im Original]

289 ebd. [Kursivierung im Original]

290 Engel, Manfred.: Träume und Feste der Vernunft, a.a.O.; S. 47f.

Individuen beschränkt – wie es bei Schleiermachers Salongeselligkeit und seiner religiösen Gemeinde der Fall ist –, sondern auf alle potentiellen Rezipienten der ‚gedruckten’ Literatur ausdehnbar ist, dann erscheint der frühromantische Ruf nach einer Neuen Mythologie nicht nur als ein Rettungsversuch der Poesie, sondern auch als die Artikulation eines Problems des Gemeinwesens. Das literarische Kommunikationsnetz beruht eben nicht auf direkter Interaktion zwischen anwesenden Individuen, sondern es handelt sich im Gegensatz dazu um einen öffentlich zugänglichen und variablen Imaginationsraum, dessen Bestand und Charakter Aufschluss über die Beschaffenheit der gesamten Gesellschaft gibt.

Genau bei diesem Punkt setzt Manfred Franks Auseinandersetzung mit der Neuen Mythologie an.291 Frank deutet den frühromantischen Rückgriff auf Mythologie und Religion als eine Reaktion auf einen gesamtgesellschaftlichen Mangel: „Die Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse enthüllt ein Manko, einen Fehl, nämlich die Unfähigkeit einer atomisierten [...] Gesellschaft, sich zu rechtfertigen.“292 Als Reaktion auf diese

„Legitimationskrise des Gemeinwesens“ wird in der Frühromantik mit dem Rückbezug auf die Mythologie nach einer „letzte[n] Verbindlichkeit“ gesucht.293 Franks Meinung nach war es eben die deutsche Frühromantik, die „als erste Epoche der neueren Zeit das Problem der Entfremdung von Staat und Gesellschaft [...] als das Problem eines Legitimationsverlustes beschrieben und in einer religiösen Terminologie bearbeitet hat.“294 Die Gesellschaft bricht um 1800 nicht etwa zusammen oder droht sich aufzulösen. Das Gemeinwesen funktioniert nach wie vor, sein Defizit besteht allerdings darin, dass es nach Frank den Sinnforderungen der in ihm vergesellschafteten Bürger nicht Rechnung trägt.295

Das aufklärerische philosophische Konzept der analytischen Vernunft, das auch in die Imaginationsräume der Staats- und der Gesellschaftslehre eingedrungen ist und als Träger der gesellschaftlichen Legitimation gedient hat, wird am Ende des 18. Jahrhunderts mit einer an Rousseau anknüpfenden Kritik der mechanistischen Staatsstrukturen konfrontiert, die im frühromantischen Diskurs in Form eines alternativen, organisch strukturierten Gesellschafts- bzw. Staatsmodells fortgeführt wird.296 Neben dieser bis auf medizinische Kreislaufmodelle zurückgreifenden Imaginationsarbeit an einem allgemeinen Modell des Organischen wird im frühromantischen Kreis und seinem Umfeld vor allem die synthetisierende Kraft der Mythologie als ein Gegenmittel zur partikularisierenden Vernunft der Aufklärung

291 Vgl. Frank, Manfred: Der kommende Gott, a.a.O.

292 ebd.; S. 194f.

293 Vgl. Frank, Manfred: Brauchen wir eine ‚Neue Mythologie’?, a.a.O.; S. 93.

294 Frank, Manfred: Der kommende Gott, a.a.O.; S. 10.

295 Vgl. Frank, Manfred: Brauchen wir eine ‚Neue Mythologie’?, a.a.O.; S. 93.

296 Zum organischen Modell der Gemeinschaft in der Romantik vgl. Matala de Mazza, Ethel: Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik. Freiburg i.Br. 1999.

hervorgehoben. Das entscheidende Moment der frühromantischen Mythologierenaissance besteht dabei darin, dass hier – wie schon bei Herder – weniger die inhaltliche Seite der traditionellen Mythologien, sondern vielmehr die spezifische Funktion des Mythologischen an sich in den Vordergrund rückt. Das ‚Neue’ der frühromantischen Neuen Mythologie zeigt sich darin, dass sie „vom alten Mythos nur die Funktion transzendenter Legitimation retten will, nicht aber die superstitiösen Inhalte“297. Wenn man die Aufklärung als eine den ‚Tod des Mythos’ herbeiführende Kraft betrachtet, so zeigt sich die frühromantische Sehnsucht nach Mythologie vor allem als das Bestreben, die synthetisierende Leistung des Mythischen im Bereich des Sozialen wiederzubeleben.

Wie Frank in seinen Studien zur Neuen Mythologie gezeigt hat, muss die auf Synthese zielende Wiederbelebung der Mythologie dabei nicht zwangsläufig als eine strikte Zurückweisung der aufklärerischen Rationalität betrachtet werden.298 Die Aktualisierung des Mythologischen bringt nicht unmittelbar eine Aufwertung des Irrationalen mit sich.299 Das signifikanteste Beispiel für die Kooption von Vernunft und Mythologie im frühromantischen Kontext liefert der oben bereits erwähnte Textfragment Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Hier wird explizit die Forderung nach einer „Mythologie der Vernunft“300 artikuliert. Nach Frank wird damit keine Rückkehr zu vormodernen Verhältnissen angestrebt, sondern „ein qualitativer Sprung im Prinzip von Rationalität“.301 Mit dem Konzept dieser ‚Mythologie der Vernunft’ wird das Bestreben zum Ausdruck gebracht, „den Mythos [...] synthetisch herzustellen“, um dadurch die „Überwindung der Legitimationskrise der analytischen Vernunft und ihrer Selbstdarstellung im öffentlichen Leben“ voranzutreiben.302 Im frühromantischen Rückgriff auf den Mythos wird also vor allem seine Bestimmung als „Begründungszusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Realität und dem Heiligen“303 virulent. Die frühromantische Idee der Neuen Mythologie greift vor allem die „pragmatische Funktion“ des Mythos auf, die in der Fähigkeit besteht,

297 Frank, Manfred: Der kommende Gott, a.a.O.; S. 189.

298 Vgl. Frank, Manfred: Brauchen wir eine ‚Neue Mythologie’?, a.a.O.; S. 106.

299 Neuere Mythentheorien betonen geradezu die orientierende bzw. ‚aufklärerische’ Funktion des Mythos, die darin besteht, das Übermächtige, Schicksalhafte und Angsterregende zu depotenzieren. Vgl. dazu v.a.

Blumenberg, Hans: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: Fuhrmann, Manfred (Hg.):

Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption (Poetik und Hermeneutik. Bd. IV), München 1971; S. 11-66;

ders.: Arbeit am Mythos. Frankfurt a.M. 1979.

300 Hegel, Georg W.F.; Hölderlin, Friedrich; Schelling, Friedrich W.J.: Entwurf (Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, a.a.O.; S. 648. [Kursivierung im Original]

301 Klinger, Cornelia: Die Idee einer neuen Mythologie. Zur Verhältnisbestimmung von Ästhetik und Politik in der Romantik. In: dies.; Stäblein, Ruthard (Hg.): Identitätskrise und Surrogatidentitäten. Zur Wiederkehr einer romantischen Konstellation. Frankfurt/New York 1989; S. 19-39, hier S. 23.

302 Frank, Manfred: Dichtung als ‚Neue Mythologie’. In: Bohrer, Karl Heinz (Hg.): Mythos und Moderne.

Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt a.M. 1983; S. 15-40, hier S. 26.

303 Frank, Manfred: Brauchen wir eine ‚Neue Mythologie’?, a.a.O.; S. 98.

„den Bestand und die Verfassung einer Gesellschaft aus einem obersten Wert zu beglaubigen“304.

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