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Exkurs: Adam Müllers Lehre vom Gegensatze (1804)

3. Kommunikation als Mythologem: Das frühromantische Konzept der Neuen Mythologie

3.5 Kommunikation und die Gemeinschaftlichkeit des Seins

Mit Schlegels ‚Philosophie der Mitteilung’ beginnt im frühromantischen Diskurs eine Folge von Reflexionen über Kommunikation, die man weder der Entwicklungslinie der systemsoziologischen noch der verständigungsorientierten Kommunikationstheorie unterordnen kann. Doch die philosophische Ausprägung des frühromantischen Mythologiekonzeptes kann trotzdem nicht als eine historische Einzelerscheinung betrachtet werden. Auch ihr wird im Rahmen der gegenwärtigen Theoriedebatte ‚Aktualität’

zugesprochen. Ein signifikantes Beispiel für die Rezeption des frühromantischen Mythologiediskurses unter besonderer Berücksichtigung seiner philosophischen Komponente stellt der Ansatz von Jean-Luc Nancy dar.

Nancys Philosophie ist in Bezug auf frühromantisches Kommunikationswissen gleich aus mehreren Gründen von Bedeutung. Nancy hat sich mit der deutschen Frühromantik nicht nur ausführlich beschäftigt323, sondern er positioniert auch sein eigenes philosophisches Konzept in einer u.a. durch die Theoreme der Frühromantik geprägten Entwicklungslinie des abendländischen Denkens. Außerdem spielt in Nancys Philosophie der Begriff der

323 Vgl. Lacoue-Labarthe, Philippe; Nancy, Jean-Luc: The literary Absolute. The Theory of Literature in German Romanticism. New York 1988.

Kommunikation eine entscheidende Rolle. Mit Nancys philosophisch fundierter Kommunikationsauffassung eröffnet sich aber vor allem eine neue Perspektive auf das frühromantische kommunikationsbezogene Wissen, die das hier bereits mehrmals thematisierte Spannungsverhältnis zwischen einem systemtheoretischen und einem hermeneutisch bzw. verständigungsorientierten Frühromantikbild auf eine signifikante Weise transzendiert.

Doch bevor die Spezifik von Nancys Frühromantikrezeption erläutert wird, muss hier auf eine grundsätzliche Gemeinsamkeit mit den anderen beiden Ansätzen verwiesen werden. Bei all diesen Positionen richtet sich der Blick nämlich auf die spezifisch frühromantische Sensibilität für kulturelle und gesellschaftlich-politische Umwälzungsprozesse. Während die systemsoziologisch angelegte Herangehensweise die frühromantische Reaktion auf die signifikant gewordene Komplexität der funktional ausdifferenzierten modernen Gesellschaft analysiert, richtet sich der an Habermas orientierte Ansatz hauptsächlich auf den Umgang der Frühromantiker mit der Legitimationskrise der Gesellschaft und dem

‚Unsichtbarwerden’ des gesellschaftlichen Konsenses. Auch Nancys Interesse gilt in erster Linie einer frühromantischen Krisenerfahrung. Er konzentriert sich dabei auf die im frühromantischen Mythologiediskurs beobachtbare Wahrnehmung des Zerfalls bzw. der

„Erschütterung der Gemeinschaft“.324 Um Nancys Frühromantikbild nachzeichnen zu können, muss hier allerdings zuerst das Fundament seines philosophischen Ansatzes in Kürze erläutert werden.

Die Grundlage für die Auseinandersetzung mit der Frühromantik bildet bei Nancy seine genuin philosophische, vor allem durch die Ansätze von Maurice Blanchot, Georges Bataille, Martin Heidegger und den französischen Dekonstruktivismus geprägte Perspektivierung der Phänomene Mythos, Gemeinschaft und Kommunikation. Nancys

‚Denken der Gemeinschaft’325 zielt nicht auf die Sozialität der gemeinschaftlichen Beziehungen zwischen Individuen, sondern auf das ontologische „Sein der Gemeinschaft“

bzw. das „Sein in der Gemeinschaft“.326 Den essentiellen Punkt von Nancys Philosophie bildet die ‚Gemeinschaftlichkeit’ der menschlichen Existenz, die für Nancy eine ontologische Maxime darstellt. Das „In-Gemeinschaft-Sein“ repräsentiert für Nancy das grundlegende Attribut des Seins. In seinem Essay Singulär plural sein formuliert er seinen zentralen Gedanken wie folgt: „Das Sein kann nur als Mit-ein-ander-seiend sein, wobei es

324 Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft. Stuttgart 1988; S. 11.

325 ebd.; S. 14.

326 Nancy, Jean-Luc: Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des ‚Kommunismus’ zur Gemeinschaftlichkeit der ‚Existenz’. In: Vogl, Joseph (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Frankfurt a.M. 1994; S. 167-204, hier S. 170. [Kursivierung im Original]

im Mit und als das Mit dieser singulär-pluralalen Ko-Existenz zirkuliert.”327 Bei Nancys Position handelt es sich um eine Ontologie des Gemeinen, die jedoch radikal jenseits jeder Philosophie der Substanz, der Ordnung und des Ursprungs angesiedelt ist. Nancy setzt sich mit seinem Konzept entschieden von subjektzentrierten philosophischen Ansätzen ab, die die Frage der Gemeinschaftlichkeit des Seins ausblenden und in denen das Individuum als

„vollständig losgelöstes, deutlich abgetrenntes und abgeschlossenes Sein, das ohne Beziehung ist“328 aufgefasst wird.

Da Nancy die Gemeinschaft nicht substantiell denkt, nimmt sie bei ihm nicht die Form einer Menge von Individuen an. Das entscheidende Charakteristikum aller singulären Seienden besteht darin, dass jedes nur zugleich mit einem anderen existieren kann, bzw. sich notwendig „einem Außen, einem Anderen aussetzt“329. Die Grundmaxime von Nancys Ontologie lautet in diesem Sinne: „Es gibt kein für sich existierendes Einzelnes.“330 Die Gemeinschaftlichkeit des Seins besteht eben darin, dass es kein singuläres Wesen ohne ein anderes gibt, was man als die „ursprüngliche oder ontologische Sozialität“331 bezeichnen kann.

Nancys ‚Denken der Gemeinschaft’ ist an dieser Stelle vor allem deswegen interessant, weil dabei der Begriff der Kommunikation eine entscheidende Rolle spielt. Nancy erläutert sein Verständnis der Kommunikation folgendermaßen:

Ich benütze den Terminus «Kommunikation» im Sinne Batailles, das heißt, daß diesem Wortes [sic] ständig Gewalt angetan wird, und zwar insofern es Subjektivität oder Intersubjektivität bezeichnet, als auch insofern es Übertragung einer Botschaft oder eines Sinns denotiert. Letztendlich ist dieses Wort unhaltbar. Ich behalte es jedoch bei, weil es auch im Wort «Gemeinschaft» (commun auté) anklingt, verwende jedoch darüber hinaus das Wort «partage» (Mit-Teilung); gelegentlich wir auch Kommunikation durch Mitteilung ersetzt. 332

Wie man sieht, handelt es sich bei Nancy um eine vollkommen andere Bestimmung der Kommunikation, als es bei den bisher herangezogenen soziologisch geprägten Kommunikationsbegriffen der Fall war. Von dem auf Intersubjektivität angelegten Modell der verständigungsorientierten Kommunikation setzt er sich ausdrücklich ab. Mit der systemsoziologischen Kommunikationstheorie verbindet ihn zwar die Vorstellung einer von den Aktanten abgekoppelten Kommunikation, doch Nancys Interesse gilt nicht den

327 Nancy, Jean-Luc: Singulär plural sein. Berlin 2004; S. 21.

328 Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft, a.a.O.; S. 16. [Kursivierung im Original]

329 Vogl, Joseph: Einleitung. In: ders. (Hg.): Gemeinschaften, a.a.O.; S. 23.

330 Nancy, Jean-Luc: Das gemeinsame Erscheinen, a.a.O.; S. 169. [Kursivierung im Original]

331 Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft, a.a.O.; S. 63.

332 ebd.; S. 172f.

soziologischen Implikationen eines solchen Kommunikationsverständnisses, sondern ausschließlich dessen philosophischer Dimension. In dieser Hinsicht positioniert sich Nancy an der Seite von Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Félix Guattari, die seiner Meinung nach Batailles Aufruf zur ‚Dekonstruktion’ des auf Intersubjektivität und Austausch angelegten Kommunikationsbegriff gefolgt sind.

Nancys philosophische Auffassung der Kommunikation gründet auf dem Begriff der Mitteilung bzw. der ‚Mit-Teilung’, der eine zentrale Position in seiner Philosophie der Gemeinschaft einnimmt. Singuläre Wesen sind seiner Ansicht nach nur existent, insofern sie gemeinsam ‚sind’ und sich dadurch in einer Beziehung der Mitteilung befinden: „Das singuläre Seiende erscheint anderen singulären Seienden, es wird ihnen als singuläres mitgeteilt.“333 Es handelt sich dabei jedoch nicht – und das ist das Entscheidende – um eine kommunikative Beziehung, die auf einer bestimmten Gemeinsamkeit beruht, sondern lediglich um die „Mitteilung der Mitteilbarkeit selber, die damit den potentiellen Charakter und den Möglichkeitssinn jeder Gemeinschaft garantiert“.334 Die singulären Seienden erscheinen nicht als ‚Gleiche’. Ihre gegenseitige ‚Mit-Teilung’ stiftet eine heterogene Gemeinschaft, die auf einer grundsätzlichen Asymmetrie und einer irreduziblen Andersheit beruht. Die so aufgefasste ‚Kommunikation’ wird also gleichzeitig zum Manifest einer grundsätzlichen Differenz.335 Die einzige von allen singulären Seienden geteilte Gemeinsamkeit besteht in ihrer ‚Endlichkeit’. Man könnte also sagen, dass in Nancys ontologischem Modell die Kommunikation als das Medium der ‚Mit-Teilung’ der Endlichkeit bestimmt wird.

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