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Exkurs: Adam Müllers Lehre vom Gegensatze (1804)

3. Kommunikation als Mythologem: Das frühromantische Konzept der Neuen Mythologie

3.4 Der Mythos der Begründung und die Begründung der Mythologie

Die Frage nach dem Ursprung der Mythologie wird im frühromantischen Diskurs explizit thematisiert. So konstatiert Schelling in diesem Zusammenhang: „Wie [...] eine neue Mythologie [...] selbst entstehen könne, dies ist ein Problem, dessen Auflösung allein von den künftigen Schicksalen der Welt und dem weiteren Verlauf der Geschichte zu erwarten ist.“313 Ein möglicher Hinweis für die Beantwortung dieser Frage bietet sich den Frühromantikern im Vergleich mit dem Entstehungsprozess der antiken Mythologie. So äußert sich Friedrich Schlegel in seiner Rede über die Mythologie zur Differenz zwischen

‚alter’ und ‚neuer’ Mythologie in Bezug auf ihre Herkunft folgendermaßen:

[A]uf dem ganz entgegengesetzten Wege wird sie [die Neue Mythologie; P.G.] uns kommen, wie die alte ehemalige, überall die erste Blüte der jugendlichen Fantasie, sich unmittelbar anschließend an das Nächste, Lebendigste der sinnlichen Welt. Die neue Mythologie muß im Gegenteil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden.314

Nach Cornelia Klinger wird mit Schlegels Verweis auf die Schöpfung der Mythologie aus der „tiefsten Tiefe des Geistes“ eine Leistung des dichtenden Individuums markiert.315 Als Beleg für diese Position könnte man auch eine andere Äußerung Schlegels zu diesem Thema heranziehen, aus einem Brief an seinen Bruder August Wilhelm vom 7. Mai 1799: „Mit der Religion, lieber Freund, ist es uns keineswegs Scherz, sondern der bitterste Ernst, daß es an der Zeit ist eine zu stiften. Das ist der Zweck aller Zwecke, und der Mittelpunkt.“316 Während man bei dieser Formulierung noch an eine von bestimmten Individuen verfolgte Intention denken kann, so zeigt sich Schlegel in einem Brief an Novalis bei der selben Frage

313 Schelling, Friedrich W.J.: System des transzendentalen Idealismus. In: ders.: Schellings Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung hg. v. Manfred Schröter. Zweiter Hauptband. Schriften zur Naturphilosophie 1799-1801. München 1958; S. 327-634, hier S. 629.

314 Schlegel, Friedrich: KFSA 2; S. 312.

315 Klinger, Cornelia: Die Idee einer neuen Mythologie, a.a.O.; S. 31.

316 Schlegel, Friedrich: KFSA 24; S. 284. [Kursivierung von mir; P.G.]

viel vorsichtiger und genauer: „Ich denke eine neue Religion zu stiften oder vielmehr sie zu verkündigen zu helfen: denn kommen und siegen wird sie auch ohne mich.“317

Die Spannung zwischen der Vorstellung von Mythologie als Produkt einer bestimmten poetischen Intention und dem Bild einer ‚unabsichtlich’ entstandenen Mythologie beschäftigt auch Schelling in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst: „Die Dichtungen der Mythologie können weder als absichtlich noch als unabsichtlich gedacht werden. – Nicht als absichtlich, denn sonst wären sie um einer Bedeutung willen erfunden [...]. Nicht unabsichtlich, weil nicht bedeutungslos.“318 Seine endgültige Position zur Frage des Ursprungs der Mythologie artikuliert dann Schelling folgendermaßen:

Die Mythologie kann weder das Werk des einzelnen Menschen noch des Geschlechts oder der Gattung seyn (sofern diese nur eine Zusammensetzung der Individuen), sondern allein des Geschlechts, sofern es selbst Individuum und einem einzelnen Menschen gleich ist. Nicht des Einzelnen, weil die Mythologie absolute Objektivität haben, eine zweite Welt seyn soll, die nicht die des Einzelnen seyn kann. Nicht eines Geschlechts oder der Gattung, sofern sie nur eine Zusammensetzung der Individuen, denn als dann wäre sie ohne harmonische Zusammenstimmung. Sie fordert also zu ihrer Möglichkeit nothwendig ein Geschlecht, das Individuum wie Ein Mensch ist. Die Unbegreiflichkeit, die diese Idee für unsere Zeit haben mag, kann ihrer Wahrheit nichts nehmen. Sie ist die höchste Idee für die ganze Geschichte überhaupt.319

Schellings Auffassung nach kann die Mythologie also nicht als das Werk eines Individuums, sondern nur als das Produkt einer Gemeinschaft betrachtet werden. In Bezug auf die Beschaffenheit der Gemeinschaft macht Schelling eine Unterscheidung, die in diesem Zusammenhang wichtig ist. Ähnlich wie Schleiermacher in seiner Geselligkeitstheorie differenziert er nämlich zwischen einem sozialem Bund, der nur auf einer

„Zusammensetzung der Individuen“ beruht, und einer höheren Form von Sozialität, bei der alle Beteiligten förmlich zu einem Individuum verschmelzen. Nach Schelling werden nur bei der zweiten Gesellschaftsform die notwendigen Voraussetzungen für die Bildung einer Mythologie erfüllt. Doch auch dieses Szenario der Mythologiegenese bringt Probleme mit sich. Denn – so muss als Erstes gefragt werden – worin besteht das Fundament dieser kompakten Gemeinschaft, die der einheitsstiftenden Mythologie vorausgeht und überhaupt erst die Voraussetzung ihrer Möglichkeit darstellt? Eine (weitere) Mythologie kann es nicht sein, wenn sich Schellings Genealogiemodell nicht in einer Tautologie verwickeln soll.

317Schlegel, Friedrich: KFSA 24; S. 205. [Kursivierung von mir; P.G]

318 Schelling, F.W.J.: Philosophie der Kunst, a.a.O.; S. 58.

319 ebd.; S. 58f. [Kursivierung von mir; P.G.]

Wie man sieht, wird bei Schelling der nach Frank für die Frühromantik charakteristische Kausalzusammenhang zwischen einer legitimationsstiftenden Mythologie und der gegebenen Sozialordnung einer Modifikation unterzogen. Bei Schelling wird nicht nach einer Mythologie gesucht, die die vorhandene sozial-politische Struktur einer Gesellschaft für ihre Mitglieder nachvollziehbar machen soll. Stattdessen muss ein bestimmtes soziales Band bereits vorhanden sein, das die Grundvoraussetzung für die Möglichkeit der Mythologiebildung liefert. Wodurch wird aber – so muss hier noch einmal gefragt werden – der Zusammenhalt dieser basalen sozialen Verbindung gewährleistet? Wie man erkennen kann, bewegt man sich bei der Zuweisung der Gründungskompetenz auch bei Schelling im Kreis.

Einen möglichen Ausweg aus dieser Situation bietet allerdings Schellings oben bereits erwähnte Unterscheidung zwischen einer ‚mythenstiftenden’ und einer ‚mythenlosen’

Gemeinschaftsform. Diese Klassifikation erscheint als Reformulierung der von Schleiermacher vorgenommenen Unterscheidung zwischen ‚freier’ und ‚gebundener’

Geselligkeit. Die gebundene Form des geselligen Umgangs wird von Schleiermacher ganz ähnlich definiert wie die nicht mythentaugliche Form der Sozialität von Schelling. In beiden Fällen handelt es sich um eine Gruppierung von Individuen, die (noch) nicht durch ein allen gemeinsames Element verbunden sind. Die Grundbedingung für die ‚Freiheit’ der Geselligkeit liegt bei Schleiermacher – wie im ersten Kapitel erläutert – in der Gewährleistung der kommunikativen Wechselwirkung zwischen den Beteiligten. Der

‚Aufstieg’ einer niederen Sozialform zum angestrebten Ideal hängt bei Schleiermacher also – und das ist hier entscheidend – nicht von bestimmten Inhalten, Themen oder eben

‚Mythologemen’, sondern ausschließlich von einer Optimierung des Kommunikationsflusses ab. Vor diesem Hintergrund kristallisiert sich auch eine mögliche Lösung heraus für das im Zusammenhang mit Schellings Genealogie der Mythologie beobachtete Problem. Eine mit der Fähigkeit zur Mythologiebildung ausgestattete soziale Verbindung unterscheidet sich von anderen Sozialformen nicht dadurch, dass sie bereits über ein bestimmtes

‚Ideenzentrum’ verfügt, sondern dadurch, dass sich ihre Mitglieder in einem kommunikativen Wechselwirkungsverhältnis befinden.

Vor diesem Hintergrund kann auch Friedrich Schlegels Vorstellung der Mythologiegenese aus einer neuen Perspektive betrachtet werden. Auch bei Schlegel wird nämlich die paradoxe Gleichzeitigkeit der Sehnsucht nach Mythologie und der Abwesenheit eines gemeinsamen Fundaments virulent. Schlegel begegnet dieser Paradoxie mit der scharfsinnigen Behauptung, dass die Mythologie sich aus der „innersten Tiefe des Geistes wie durch sich

selbst“ entwickeln und dabei „gleichsam wie aus dem Nichts“ entstehen soll.320 Es lohnt sich, dieser scheinbar kryptischen Äußerung ein wenig Aufmerksamkeit zu widmen. Als Quelle der neuen Mythologie betrachtet Schlegel also die ‚Tiefe des Geistes’ bzw. das transzendentale Ich.321 Seiner Auffassung nach ist dieser Ort des Ursprungs allerdings nicht mit einer bestimmten Materie gefüllt, sondern ganz im Gegenteil durch die Leere eines

‚Nichts’ gekennzeichnet, die die Abwesenheit eines allgemein verbindlichen Grundes markiert. Dass es sich trotzdem bei Schlegels Vorstellung der Mythologiegenese nicht um eine absolute creatio ex nihilo handelt, deutet seine Ergänzung ‚wie durch sich selbst’ an.

Die Neue Mythologie entwickelt sich also im Medium des Geistes, auf dessen Grund, oder mit Schlegels Worten, in dessen ‚innerster Tiefe’ ein basales Mythologem, eine ursprüngliche Gemeinsamkeit bereits vorhanden sein muss, aus der die Mythologie sich

‚durch sich selbst’, d.h. in einem Akt der Selbsterzeugung, herausbilden kann.

Damit ist allerdings immer noch nicht geklärt, was das Wesen dieser ersten Gemeinsamkeit sein soll. Einen möglichen Ansatz zur Beantwortung dieser Frage findet man in Schlegels

‚vor-mythologischer’, politisch motivierter Schrift Versuch über den Begriff des Republikanismus (1796). Mit dem Vokabular einer philosophischen Kommunikationstheorie charakterisiert hier Schlegel die menschliche Existenz folgendermaßen:

Durch das theoretische Datum, daß dem Menschen, außer den Vermögen, die das rein isolierte Individuum als solches besitzt, auch noch im Verhältnis zu andern Individuen seiner Gattung, das Vermögen der Mitteilung [...] zukomme; daß die menschlichen Individuen durchgängig im Verhältnis des gegenseitigen natürlichen Einflusses wirklich stehen, oder doch stehen können, – erhält der reine praktische Imperativ eine neue spezifisch verschiedne Modifikation [...]. Der Satz: das Ich soll sein; lautet in dieser besondern Bestimmung:

Gemeinschaft der Menschheit soll sein, oder das Ich soll mitgeteilt werden.322

Das Entscheidende dieser Passage besteht darin, dass Schlegel seine imperative Bestimmung des notwendig intersubjektiven menschlichen Daseins auf dem Theorem des kommunikativen Aktes der Mitteilung und der damit verbundenen Idee der Gemeinschaft aufbaut. Wichtig ist dabei, dass die durch gegenseitige Mitteilung entstandene gemeinschaftliche Beziehung zwischen den Individuen in Schlegels philosophischem Modell auf keinem allgemein verbindlichen Fundament beruht. Das Zustandekommen der primären intersubjektiven Verbindung wird also nicht durch einen Rückgriff auf ein

320 Schlegel, Friedrich: KFSA 2; S. 314.

321 Bohrer, Karl Heinz: Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie. In: ders. (Hg.): Mythos und Moderne.

Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt a.M. 1983; S. 52-82, hier S. 60.

322 Schlegel, Friedrich: KFSA 7; S. 14f. [Kursivierung im Original]

vorgegebenes Gemeinsames – wie z.B. das ‚Wesen’ des Menschen, die Idee einer ‚idealen Sprechsituation’ o.Ä. – gewährleistet, sondern allein durch die Aktualisierung einer elementaren Potenz: des ‚Vermögens der Mitteilung’. Die originäre Gemeinsamkeit, das grundlegendste Mythologem der nach Schlegel gemeinschaftlich geprägten menschlichen Existenz besteht also in der Potenz zur Mitteilung bzw. zur Kommunikation.

Durch dieses philosophische Szenario gewinnt der frühromantische Mythologiediskurs allerdings eine neue Dimension. Manfred Franks Verknüpfung von Mythologie und sozial-politischer Organisationsstruktur der Gesellschaft, nach der die mythologische Erzählung als Legitimation des Gemeinwesens zu betrachten ist, muss in Bezug auf Schlegels oben skizzierte ‚Philosophie der Mitteilung’ um eine tiefer liegende Ebene ergänzt werden. Im Kontext der Frühromantik kommt es nicht nur zur Aktualisierung der kommunikativen Funktion der Mythologie als eines ‚poetischen’ Verfahrens zur Produktion von Gemeinsamkeiten, sondern hier wird in einer philosophischen Reflexion der Gemeinschaft die menschliche Potenz zur Kommunikation als die fundamentale und durch soziokulturelle Veränderungsprozesse nicht beeinflussbare ‚Gemeinsamkeit’ offen gelegt.

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