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Diskursivität des frühromantisches Wissens über Kommunikation

1. Aufwertung der Kommunikation: Friedrich Schleiermachers Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799)

1.8 Das missing link der Geselligkeitstheorie

Der hier angestrebte Neuzugang zu Schleiermachers Geselligkeitsauffassung basiert auf einer Umkehrung der Beobachtungsperspektive. Während die oben erwähnten Lektüren sich hauptsächlich auf das koordinierende Schicklichkeitsgesetz richten, wird hier die unausgeführte und lediglich angedeutete Reflexion der formalen Struktur des geselligen

125 Vogl, Joseph: Einleitung. In: ders.: Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen.

Frankfurt a.M. 1994; S. 7-27, hier S. 11.

126 Arndt, Andreas: Geselligkeit und Gesellschaft, a.a.O.; S. 60.

127 Vgl. ebd.; S. 61.

Umgangs zum Ansatzpunkt. Es wird dabei davon ausgegangen, dass in den beiden ersten Geselligkeitsgesetzen eine Theorie der Kommunikation angelegt ist, die zunächst von einem rein analytischen Standpunkt aus das Wesen der geselligen Interaktionsbeziehung fokussiert und anschließend durch normative Positionen zwar ergänzt, auf diese aber nicht reduziert werden kann.

Es handelt sich vor allem um die Grundmaxime des ersten Geselligkeitsgesetzes, die lautet:

„Alles soll Wechselwirkung seyn.“128 Ansätze einer näheren Erläuterung dieser basalen Bestimmung der Geselligkeit findet man in Schleiermachers fragmentarischen Aufzeichnungen aus der Zeit seiner Arbeit an der Geselligkeitstheorie. Aus einem dieser Fragmente wird ersichtlich, dass Schleiermacher innerhalb einer kommunikativen Redner-Hörer-Situation beiden Aktanten eine aktive Rolle zuweist: „Soll das Vernehmen des Hörers eine Thaetigkeit seyn so muß es auch im Redenden etwas wirken. Die Passivitaet muß activ seyn.“129 Das Entscheidende dabei ist, dass Schleiermacher jede kommunikative Interaktion als eine Beziehungsform auffasst, in der auf beiden Seiten Sinn produziert wird, und zwar auf eine nicht deckungsgleiche Weise. Wäre das der Fall, käme die Wechselwirkung bzw.

die Kommunikation zum Stillstand. Das ist aber nach Schleiermacher nicht das Ziel des geselligen Umgangs: „Dies [die Wechselwirkung; P.G.] muß ins unendliche fortgehn und ist das stumme Spiel der Gesellschaft.“130 Die kommunikative Wechselwirkung und d.h. die

‚Gesellschaft’ dauert nur an, wenn beide Seiten permanent zu neuer Sinngenerierung angeregt werden und dies gleichsam blind, unreflektiert oder nach Schleiermacher eben

‚stumm’ vollzogen wird.

Im Unterschied zu den oben (Kap. I.1.7) angeführten, vorwiegend hermeneutisch ausgerichteten Deutungsansätzen der Geselligkeitstheorie wird hier die These vertreten, dass es Schleiermacher bei seiner Geselligkeitstheorie, und zwar speziell bei der Frage der Konsistenz einer gebildeten ‚Gesellschaft’, in erster Linie nicht um die Sicherung des Verstehens bzw. um den auf Konsens ausgerichteten herrschaftsfreien Dialog, sondern vor allem um die Gewährleistung anschlussfähiger Kommunikation ging. Wenn man Schleiermachers Geselligkeitstheorie in Götterts Sinne als die Formulierung eines Kommunikationsideals betrachtet, dann besteht seine Idealität nicht in der „strategisch zu erreichende[n] Balance“131 bzw. der Einträchtigkeit der Überzeugungen unter den

128 Schleiermacher, Friedrich: KGA I.2; S. 170.

129 ebd.; S. 34.

130 ebd.

131 Göttert, Karl-Heinz: Kommunikationsideale, a.a.O.; S. 15.

Beteiligten, sondern in dem starken Anregungspotential für die Bildung kommunikativer Beziehungen.132

Ohne die oben erwähnten Ansätze, nach denen die Geselligkeitstheorie als Vorbereitung der späteren Theoriekonzepte von Schleiermacher zu betrachten ist, vollständig verwerfen zu wollen, wird hier eine andere Form der kontextuellen Einordnung des Geselligkeitsansatzes vorgeschlagen. Als effizienter zeigt sich in dieser Hinsicht – wie weiter unten ausführlich erläutert wird – eine Analyse gedanklicher Verbindungen zu den parallel bzw. unmittelbar danach entstandenen Texte, insbesondere aber zu Schleiermachers im selben Jahr erschienenen Reden Über die Religion, in denen die Geselligkeitsthematik wieder aufgegriffen und weiterentwickelt wird. Es erscheint daher als kein Zufall, dass die meisten Untersuchungen zur Geselligkeitstheorie, die diese im Kontext der Hermeneutik oder einer auf Verständigung orientierten Kommunikationstheorie verorten, Schleiermachers ‚Reden’

konsequent ausblenden.

Doch erst in diesem intertextuellen Beziehungsgefüge wird ersichtlich, dass Schleiermachers Geselligkeitsansatz einen bestimmten Grad an theoretischer Exklusivität und Eigenständigkeit besitzt. Das Spezifikum der Geselligkeitstheorie besteht darin, dass sie eine frühe Form einer Soziologie der Interaktion darstellt, die u.a. auch Schleiermachers Religionsauffassung prägt und auf die Theoreme seiner Dialektik- und Hermeneutikkonzepte nicht reduziert werden kann. Außerhalb dieses Radius’ wurde der Geselligkeitsansatz bisher allerdings nur fragmentarisch behandelt. So konstatiert Detlef Gaus noch im Jahr 1998 das völlige Fehlen „einer systematischtheoretischen Auseinandersetzung mit dieser Vergesellschaftungsform“.133

Gegen die Reduktion des Geselligkeitsansatzes auf eine dialektische Ebene spricht bereits Schleiermachers basale Bestimmung der Dialektik. Seine Definition des dialektischen Programms als der „Darlegung der Grundsätze für die kunstmäßige Gesprächfürung im Gebiet des reinen Denkens“134 beruht auf der Differenzierung zwischen ‚reinem’,

‚geschäftlichem’ und ‚künstlerischem’ Denken.135 Die ‚reine’ und die ‚künstlerische’

Denkart haben im Unterschied zur ‚geschäftlichen’ gemeinsam, dass sie nicht auf ein anderes Denken bzw. auf das Erreichen eines Zwecks gerichtet sind, sondern nur „um des

132 Als eine negativ formulierte Bestätigung dieser These kann man auch Carl Schmitts polemische Bemerkung deuten: „Den deutschen Romantikern ist eine originelle Vorstellung eigentümlich: das ewige Gespräch.“ Vgl. Schmitt, Carl: Politische Theologie. 4 Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Unveränd.

Nachdr. d. 1934 ersch. 2. Aufl. Berlin 1990; S. 69.

133 Gaus, Detlef: Geselligkeit und Gesellige, a.a.O.; S. 19.

134 Schleiermacher, Friedrich: Dialektik, a.a.O.; S. 5.

135 Vgl. ebd.; S. 6ff.

Denkens selbst willen gesetzt“136 werden. Diese beiden sich nah stehenden Denkrichtungen unterscheiden sich voneinander allerdings hinsichtlich der Art und Weise der

‚Gesprächführung’. Das genuin dialektische „eigentliche Gespräch“137 entsteht nur unter den Bedingungen des ‚reinen’ Denkens. Das Entscheidende bei dieser Gesprächsform ist, dass sie eine ‚Hemmung’ der ‚reinen’ Gedankenerzeugung voraussetzt, die in Form von ‚Zweifel’

oder ‚Streit’ den eigentlichen dialektischen Denkprozess in Gang setzt.138

Die Form der Gesprächsführung im ‚künstlerischen’ Denken bezeichnet Schleiermacher als das einfache ‚freie Gespräch’ und bestimmt es folgendermaßen:

Gehen wir aus von der Gedankenerzeugung als freier Tätigkeit des einzelnen [...] und von der Möglichkeit der Mitteilung des Gedachten durch die Sprache, so müssen wir ebenso voraussetzen, daß durch Mitteilung des einen die Gedankenerzeugung des anderen teils erregt, teils, wenn sie schon im Gange ist, umgelenkt und anders bestimmt werden kann. Das freie Gespräch ist nun die auf diesem Wege durch gegenseitige Mitteilung sich entwickelnde Wechselwirkung, wobei das Verhältnis der Gedanken des einen zu denen des anderen ihrem Inhalte nach so gut als gar nicht in Betracht kommt, sondern nur die allerdings durch das Wohlgefallen an der Mitteilung zu unterstützende erregende Kraft, welche die Gedankenerzeugung des einen auf die des anderen ausübt. [...] Dieses ursprüngliche, in jedem Zusammenleben sich bildende Gespräch [...] hat kein anderes natürliches Ende als die allmähliche Erschöpfung des beschriebenen Prozesses, und kann also um so länger fortgesetzt werden, je mehr erregende Kraft den hervortretenden Gedanken einwohnt.139

In dieser Charakteristik des ‚freien Gesprächs’ ist unschwer Schleiermachers Konzept der

‚freien Geselligkeit’ zu erkennen. Wenn die gesellige Mitteilung aber der Gesprächsform des nicht-dialektischen ‚künstlerischen’ Denkens entspricht, dann bedeutet es, dass auch die gesellige Art der Gesprächsführung außerhalb des dialektischen Paradigmas zu verorten ist.

Wie man auch der zitierten Passage entnehmen kann, besteht der Zweck des ‚freien Gesprächs’ ausschließlich in der Bildung einer auf gegenseitiger ‚Erregung’ basierenden Wechselwirkungsbeziehung. Den Antrieb für die Verwaltung einer gebildeten geselligen Verbindung besteht allerdings weder in der Vorstellung eines zu erreichenden Konsenses noch eines gemeinsam zu erlangenden Wissens. Den Horizont der ‚freien Geselligkeit’ bildet nicht die Ausrichtung auf ein bestimmtes Ziel, sondern die ‚einfache’ Erkenntnis, dass der Bestand der kommunikativen Verbindung allein von der ‚erregenden Kraft’ bzw. der Anschlussfähigkeit der einzelnen Beiträge abhängt.

136 Schleiermacher, Friedrich: Dialektik, a.a.O.; S. 6.

137 ebd.; S. 9.

138 Vgl. ebd.; S. 9f.

139 ebd.; S. 8.

Aus dieser Perspektive betrachtet zeigt sich Niklas Luhmanns systemsoziologische Theorie

„einfacher Sozialsysteme“140 als eine mögliche Alternative zu der vorherrschenden hermeneutisch bzw. dialektisch geprägten Perspektivierung von Schleiermachers Geselligkeitstheorie. Für Luhmann stellt die elementare soziale Interaktion einen spezifischen Fall im Spektrum der sozialen Gebilde dar. Das basale definierende Merkmal eines ‚einfachen’ Sozialsystems besteht in der notwendigen Anwesenheit der beteiligten Aktanten. Die erste Gemeinsamkeit mit Schleiermachers Geselligkeitstheorie besteht darin, dass auch bei ‚einfachen’ Systemen die soziale Verbindung auf einem Wechselwirkungsverhältnis beruht. Eine deutliche Parallele zwischen den beiden Ansätzen besteht in Luhmanns Bestimmung der interaktiven Beziehung als einer „Kreuzung selektiver Prozesse“141, die durchaus Schleiermachers Vorstellung der ‚freien Geselligkeit’ als einem gegenseitigen kommunikativen ‚Durchschneiden der Sphären’ der beteiligten Individuen entspricht. Eine Gemeinsamkeit ist auch auf der Ebene der Inhalte der kommunikativen Wechselbeziehung im ‚einfachen Sozialsystem’ festzustellen. Sehr ähnlich wie Schleiermacher in seiner Geselligkeitstheorie bestimmt auch Luhmann die thematische Konzentration im Rahmen eines sprachlich interagierenden Sozialgebildes als „Bestimmung und Reduktion systemeigener Komplexität“ und als „Prinzip der Verknappung zugelassener Möglichkeiten“.142 Das Thema funktioniert als Kontrolle des Systems, indem überprüft werden kann, ob neue Beiträge zum Thema passen oder von diesem abweichen. In der thematischen Bindung zeigt sich nach Luhmann aber gleichzeitig auch die Schwäche bzw.

die geringe Autonomie der einfachen Systeme, da Themen – weil abhängig von „der Art und der Interessenrichtung der jeweils Teilnehmenden“143 – sehr leicht gewechselt werden bzw.

sich ‚abnutzen’ können.

Als Illustration des Systemkontrollmechanismus und der Handhabung der Konsistenzschwankungen im Rahmen eines „einfachen Sozialsystems“ kann eine Passage aus Friedrich Schlegels Text Gespräch über die Poesie (1800) dienen, der als Unterhaltung einer geselligen Runde inszeniert wird. Die Bildung der geselligen ‚Gesellschaft’ und die anfänglichen Koordinationsschwierigkeiten und Interaktionsschwächen der Teilnehmer werden von Schlegel folgendermaßen geschildert:

140 Luhmann, Niklas: Einfache Sozialsysteme. In: ders.: Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Opladen 1975; S. 21-38.

141 ebd.; S. 22.

142 ebd.; S. 24.

143 ebd.

Ohne Verabredung oder Gesetz fügte es sich meistens von selbst, daß Poesie der Gegenstand, die Veranlassung, der Mittelpunkt ihres Beisammenseins war. Bisher hatte bald dieser bald jener unter ihnen ein dramatisches Werk oder auch ein andres vorgelesen, worüber dann viel hin und her geredet, und manches Gute und Schöne gesagt ward. Doch fühlten bald alle mehr oder minder einen gewissen Mangel bei dieser Art der Unterhaltung. Amalia bemerkte den Umstand als zuerst und wie ihm zu helfen möchte. Sie meinte, die Freunde wüßten nicht klar genug um die Verschiedenheit ihrer Ansichten. Dadurch werde die Mitteilung verworren, und schwiege mancher gar, der sonst wohl reden würde.144

In diesem Zitat werden zwei Merkmale der thematischen Bindung ‚einfacher Sozialsysteme’

erkennbar. Erstens erscheint hier das Gesprächsthema in seiner Funktion als

„Erzeugungsregel“145, d.h. als eine die kommunikative Verbindung und die einzelnen Beiträge ermöglichende und gleichzeitig einschränkende Instanz. Zweitens erkennt man hier die Funktion des Themas als Systemkontrolle, die in der zitierten Passage als Thematisierung von Interaktionsschwierigkeiten zum Vorschein kommt und die Aufrechterhaltung der Kommunikation zum Ziel hat.

‚Einfache Sozialsysteme’, zu denen auch Schleiermachers ‚freie Geselligkeit’ gezählt werden kann, sind „Situationssysteme“146, die permanent mit dem Problem der Gewährleistung ihres Bestehens zu tun haben. Einfache, auf Interaktion basierende kommunikative Verbindungen bleiben nur bestehen, wenn die in ihrem Rahmen behandelten Themen sich als tragfähig und neue Beiträge sich als anschlussfähig erweisen. Wenn dies nicht der Fall ist, lösen sich die gebildeten Interaktionssysteme auf.

Aus dieser Perspektive lässt sich Schleiermachers Geselligkeitstheorie als ein Unternehmen betrachten, das erstens die interaktive Kommunikationsstruktur des geselligen Umgangs offen legt und zweitens die Kriterien seines Bestehens behandelt. Schleiermachers Theorieansatz hat die Form einer ‚Beobachtung zweiter Ordnung’, da in ihm beobachtet wird, wie andere beobachten. Aus dieser Position versucht Schleiermacher, die kommunikative Struktur des Geselligen theoretisch zu erfassen. Hier zeigt sich noch einmal die Orientierungsfunktion der Geselligkeitstheorie. Denn, wie Luhmann in Bezug auf

‚einfache Sozialsysteme’ feststellt, können die Beteiligten zwar sich selbst und die anderen Anwesenden wahrnehmen, aber „nicht unbedingt auch das Netz ihrer Interaktion als System in einer Umwelt“.147 Gerade in dieser Hinsicht leistet Schleiermachers Ansatz Hilfe.

144 Schlegel, Friedrich: Gespräch über die Poesie. In: ders.: Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler. Bd. 1. Paderborn 1958ff.; S. 284-351, hier S. 288. [Zitate aus der Kritischen Friedrich Schlegel Ausgabe werden im Folgenden belegt mit: KFSA Bandangabe; Seitenzahl.]

145 Luhmann, Niklas: Einfache Sozialsysteme, a.a.O.; S. 27.

146 ebd.; S. 32.

147 ebd.

Schleiermachers Slogan „Keine Verbesserung ohne Theorie“148 muss also nicht nur als ein Beitrag zur Humanisierung der Gesellschaft und zur sittlichen Vervollkommnung des Menschen betrachtet werden149, sondern auch als ein an die Einsicht in die Struktur der geselligen Kommunikation gebundener Versuch, den privat-geselligen Umgang zu optimieren. Denn, wie im Folgenden auch in Bezug auf Schleiermachers Religionskonzept gezeigt wird, nicht das Verstehen sichert den Fortbestand einer ‚Gesellschaft’, sondern die Anschlussfähigkeit der Beiträge.

148 Schleiermacher, Friedrich: KGA I.2; S. 166.

149 Vgl. Arndt Andreas: Geselligkeit und Gesellschaft, a.a.O.; S. 51.

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