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Performanz des frühromantischen Wissens über Kommunikation

1. Jenseits der Diskursivität: Darstellung und Witz als Erkenntnismodi

1.7 Das fragmentarische Chaos und die Auflösung des Werks

Aus dem bisher Erläuterten ergibt sich folgende Charakteristik des frühromantischen Witzes:

Der Witz stellt eine geistige Potenz dar, die in der Explosion eines ‚witzigen Einfalls’

blitzartig zur Entfaltung kommt und in Form eines prägnanten Ereignisses das wahrnehmende Bewusstsein mit einem erkenntnisgeladenen Lichtstrahl erhellt bzw. zur eigenen intellektuellen Aktivität anregt. Aus dieser Perspektive zeigt sich der Witz als eine Art geistige Tätigkeit, in deren Rahmen „das Bewußtsein sich [...] als Bruchstück kundgibt“.513 Im Hinblick auf ihre interaktive Struktur erscheint die ‚witzige’ Denkform als

508 Engelhardt, Dietrich von: Novalis im medizinhistorischen Kontext, a.a.O.; S. 67.

509 Novalis: NS 2; S. 535. [Kursivierung im Original]

510 Vgl. Lukas, Verena A.: Der Dialog im Dialog, a.a.O.; S. 42.

511 Novalis: NS 3; S. 639.

512 Novalis: NS 2; S. 535.

513 Frank, Manfred: Das ‚fragmentarische Universum’ der Romantik, a.a.O.; S. 218.

eine flüchtige ‚symphilosophische’ Beziehung, deren Dauer sich meistens nur auf den Augenblick der geistigen ‚Berührung’ beschränkt.

Doch der Wirkungsbereich des Witzes beschräkt sich nicht nur auf Situationen direkter Interaktion. Das Konzept des Witzes ist ein Bestandteil der frühromantischen Poetik, in der auch die Aspekte seiner sprachlichen ‚Konservierung’ reflektiert werden. Die ‚witzige’

Denkform ist also kein Privileg direkter geistiger Wechselwirkung, sondern hat ihre feste Position auch im Bereich textueller bzw. literarischer Kommunikation. So sind es für Friedrich Schlegel, wie er in einer seiner Charakteristiken bemerkt, eben Lessings herausragende ‚Worte’, die als Artikulationsmedium seiner ‚witzigen’ Denkart „die dunkelsten Stellen [...] im Gebiet des menschlichen Geistes [...] oft wie vom Blitz plötzlich erleuchte[n]“.514

Da der ‚witzige Einfall’ nicht das Ergebnis eines strukturierten Gedankenganges darstellt, sondern als plötzliche Eingebung zustande kommt, muss auch seine Artikulationsform zwangsläufig von den herkömmlichen Kommunikationsformen abweichen. Das Unsystematische, Punktuelle und Plötzliche des Witzes findet also eine Entsprechung auch auf der Ebene des Ausdrucks. Hierfür ist eine Bemerkung Friedrich Schlegels bezeichnend:

„Den Witz achten sie darum so wenig, weil seine Äußerungen nicht lang, und nicht breit genug sind.“515 Bereits in diesem Zitat wird die Ausdrucksform angedeutet, in der die Denkstruktur des Witzes am signifikantesten verkörpert wird: das Fragment. Nach einer der zahlreichen frühromantischen Definitionen des Witzes besteht sein Wesen eben in

„fragmentarische[r] Genialität“.516 Das Fragment stellt also den sprachlichen Niederschlag des ‚Gedankenblitzes’ und des explosiven Moments des ‚schnellen Denkens’ dar.517 Karl Heinz Bohrer erkennt in der frühromantischen Fragmentarität aus diesem Grund eine prominente Manifestation des ‚Plötzlichen’ im Kontext der Literatur.518 Den frühromantischen Fragmenten kann seiner Meinung nach die „Plötzlichkeitsstruktur imaginativer Schreib-Akte“519 attestiert werden. Die Form des Fragments wird dadurch zur textuell geformten Manifestation plötzlicher Erkenntnis.

In diesem Zusammenhang stellt sich jedoch zunächst die Frage, auf welche Weise die Plötzlichkeit bzw. die Kontingenz des ‚witzigen Einfalls’ überhaupt in textuelle Form transportiert werden kann. Das Spezifikum des frühromantischen Fragments zeigt sich eben

514 Schlegel, Friedrich: KFSA 2; S. 112.

515 ebd., S. 184

516 ebd.; S. 148.

517 Vgl. Schlagdenhauffen, Alfred: Die Grundzüge des Athenäum, a.a.O.; S. 31.

518 Vgl. Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit, a.a.O.; S. 21.

519 ebd.; S. 23.

darin, dass es als Medium der scheinbar paradoxen Zusammenführung des zeitlich Punktuellen und des Textuellen fungiert. Die Leistung der fragmentarischen Form besteht dabei darin, dass sie die genannte Paradoxie nicht aufhebt, sondern potenziert und dadurch die ‚witzige’ Denkform zur Erscheinung bringt.

Das Fragment übernimmt vom Witz die Zufälligkeit des Aufeinanderbeziehens von Heterogenem und Widersprüchlichem, wird aber nicht auf eine Explikation dieser Synthese hin entwickelt und lädt auch nicht zu einem Dialog ein. Das fragmentarische Textstück besitzt also keine unmittelbar erkennbare und nachvollziehbare Identität. Der Kontext des Fragments liefert in dieser Hinsicht auch keine Hilfeleistung, weil das Verfahren der fragmentarischen Denkform nicht auf eine Totalität zielt, sondern ein „Ensemble von Individual-Positionen“ darstellt, die sich dadurch auszeichnen, dass „jede der anderen widerstrebt“.520 Das fragmentarische Denken, in dem sich die Eigenartigkeit der frühromantischen „Oekonomie des Ganzen“521 offenbart, hat also nicht die Form einer

„Maschine, die wohl geordnete Kombinationen erzeugt“.522 Die punktuellen synthetischen Verknüpfungen sind nicht nur zufällig, sondern sie fügen sich auch zu keiner soliden und endgültigen Erkenntnis- bzw. Wissenssubstanz zusammen.

Das Fragment kann also weder als singuläres Textstück, noch in Gestalt einer fragmentarischen ‚Masse’ unmittelbar ‚konsumiert’ werden. Von außen betrachtet zeigt sich das ‚fragmentarische Universum’ nämlich als ein überkomplexes und chaotisches Ensemble von Einzelelementen ohne ersichtlichen Zusammenhang. Doch es sind eben diese Zugangsschwierigkeiten, die bei der Form des Fragments eine zentrale Rolle spielen. Die programmatische Irritation der Anschlussmöglichkeiten wirkt sich entweder in Form einer Erregung der Aufmerksamkeit aus, die im Akt der geistigen Berührung zur Aktivierung der geistigen Tätigkeit des Rezipienten führt, was zur Folge hat, dass der Leser „das ihm vorgelegte Bruchstück eines vermeintlichen Sinnganzen in sich selbst in Bewegung setzt und [...] einem neuen Geisteshorizont entgegen fortsetzt.“523 In dieser Situation wirkt sich das Fragment positiv aus, nämlich in seiner Eigenschaft als „Salz gegen die geistige Fäulnis“.524 Oder aber wird die Form des Fragments für den Rezipienten zu einer unüberwindlichen Hürde, zu einem Rätsel ohne Auflösung. Ohne den zündenden Funken des Witzes bleibt die chaotische ‚Gesellschaft’ der Fragmente undurchdringbar: „[S]o ballt sie sich in dicke

520 Frank, Manfred: Das ‚fragmentarische Universum’ der Romantik, a.a.O.; S. 219.

521 So Friedrich Schleiermacher über die fragmentarische Struktur von Friedrich Schlegels Roman Lucinde.

Schleiermacher, Friedrich: KGA I.3; S. 222.

522 Chaouli, Michel: Das Laboratorium der Poesie. Chemie und Poetik bei Friedrich Schlegel. Paderborn 2004;

S. 128.

523 Lukas, Verena A.: Der Dialog im Dialog, a.a.O.; S. 14.

524 Schlegel, Friedrich: KFSA 2; S. 209.

Massen und verfinstert alles.“525 In diesem Fall zeigt sich das Chaos des Fragmentarischen als „der Schock, unter dessen Bann kein Denken statt hat“.526

Der entscheidende Punkt bei der ‚Unverständlichkeit’ des Fragments liegt darin, dass die fragmentarische ‚Masse’ zunächst nur über eine Potenz zur kombinatorischen Wissensproduktion verfügt, die durch die geistige Tätigkeit des Rezipienten aktiviert werden muss. Diese Belebung der Potenz beschreibt Friedrich Schlegel in seiner ‚Mythologie’-Rede folgendermaßen: „Die höchste Schönheit, ja die höchste Ordnung ist denn doch nur die des Chaos, nämlich eines solchen, welches nur auf die Berührung der Liebe wartet, um sich zu einer harmonischen Welt zu entfalten.“527 Diese Relationierung von Chaos und Eros deutet darauf hin, dass es auf den Augenblick der Berührung ankommt, damit ein erkennbarer Zusammenhang, d.h. eine Ordnung für das wahrnehmende Bewusstsein entstehen kann. Das Ereignis der geistigen Berührung stellt also die notwendige Voraussetzung dafür, damit die Fragmente aus dem Zustand des negativ konnotierten Chaos in eine sinngebende Ordnung verwandelt werden können. In der frühromantischen Auffassung verfügt Chaos aber über eine schöpferische Potenz. Auf diese Leistung des Chaos deutet folgende Bemerkung Friedrich Schlegel hin: „Nur diejenige Verworrenheit ist ein Chaos, aus der eine Welt entspringen kann.“528 Daraus folgt, dass das Chaos der fragmentarischen ‚Masse’ im Akt der Berührung nicht verdrängt, sondern „ästhetisch aufgehoben werden“ soll.529 Das fragmentarische Chaos stellt also ein Übergangsstadium bzw. einen Zustand ‚reiner Potenz’

dar, aus dem durch die Kraft plötzlicher ‚witziger’ Kombination ästhetischer Genuss oder neue Erkenntnis entstehen kann.

Beim frühromantischen Konzept des Witzes kommt es also zu einer Relationierung von erkenntnistheoretischen und ästhetischen Momenten und der spezifischen Zeitdimension der Plötzlichkeit. Karl Heinz Bohrer charakterisiert eine solche Konstellation mit dem von ihm geprägten Begriff einer ‚Ästhetik des Plötzlichen’.530 Die Anfänge eines solchen ästhetischen Denkens sieht Bohrer eben in der Poetik der deutschen Frühromantik.531 In Anlehnung an die Semantik der frühromantischen Poetik bezeichnet Bohrer das zentrale Verfahren dieser zwischen der Erkenntnis, der Ästhetik des Ausdrucks und der Plötzlichkeit

525 Schlegel, Friedrich: KFSA 5; S. 35.

526 Mathy, Dietrich: Poesie und Chaos. Zur anarchistischen Komponente der frühromantischen Ästhetik.

München/Frankfurt a.M. 1984; S. 8.

527 Schlegel, Friedrich: KFSA 2; S. 313.

528 ebd.; S. 263.

529 Mathy, Dietrich: Poesie und Chaos, a.a.O.; S. 11.

530 Vgl. Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit, a.a.O.; S. 8.

531 Vgl. ebd.; S. 7.

operierenden ästhetischen Position mit dem Begriff des „erkenntnistheoretischen Witzes“.532 Er führt diese Kategorie als ein Charakteristikum der künstlerischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts (Duchamp, Breton u.a.) ein. Der ‚erkenntnistheoretische Witz’, den man auch als „die Realisierung des emphatischen Augenblicks“ charakterisieren kann, kommt dadurch zustande, dass „ein Beobachter, ein Leser in eine Wahrnehmungssituation gebracht wird, in der die Einmaligkeit des Gesehenen, des Gelesenen vorherrschende Wahrnehmungsmaßstäbe und Wertvorstellungen ins Schwanken bringt“.533

Genau diese Form der ästhetischen Erkenntniserzeugung durch Irritation kommt auch in der Poetik der ‚avantgardistischen’ Frühromantik zum Vorschein. Das spezifisch Moderne dieser Auffassung von Erkenntnis liegt nach Bohrer in dem „ästhetischen Akt entdeckerischer Sprache“.534 Das Irritierende der frühromantischen Sprache besteht dabei nicht in der bloßen Intention zu provozieren, sondern „in dem bis dahin unbekannten Aspekt des Gesagten, der verwirrt“.535 Die Koordinaten des ‚witzigen Einfalls’ bilden also nicht nur die „überraschende Zufälligkeit [seiner] Entstehung“ und „das Kombinatorische des Gedankens“, sondern auch und vor allem „das Barocke des hingeworfenen Ausdrucks“536. Die Potenz zur ‚Erregung’ neuer Gedanken und Sichtweisen ist beim frühromantischen Witz also nicht nur in der Plötzlichkeit seiner Erscheinung angelegt, sondern hängt auch und vor allem mit der Form seiner (literarischen) Artikulation zusammen.

Im Konzept des literarischen Witzes kann man eine Parallele zur verschlüsselten frühromantischen ‚Räthselsprache’ erkennen. Es ist eben die Ausdrucksseite des zu Kommunizierenden, die die Gedanken des Rezipienten ‚reizt’ (oder eben nicht). Nach Novalis steigt mit dem Grad der Verschlüsselung die Reizbarkeit und damit auch die potentielle Wirkung der ‚Räthselsprache’: „[J]e contrastirender die Erscheinung, desto größer die Freude des Wiedererkennens“.537

Wie weiter oben bereits angedeutet, liegt das ‚Contrastirende’, d.h. das Sperrige und Paradoxe des Fragmentarischen für den Rezipienten vor allem in der fehlenden bzw. nicht erkennbaren Konsistenz seines Objekts. Die frühromantische ästhetische Praxis und das Konzept des Fragments werden dadurch zum Zeichen der Abkehr bzw. der Destabilisierung des Werkcharakters der Kunst. In diesem Punkt zeigt sich erneut die Modifikation der Poetik der Athenäums-Periode im Vergleich zu der Poesieauffassung aus der Zeit der

532 Vgl. Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit, a.a.O.; S. 76.

533 ebd..

534 ebd.; S. 20.

535 ebd.; S. 77.

536 Schlegel, Friedrich: KFSA 2; S. 200.

537 Novalis: NS 2; S. 485.

Antikenrezeption. Während Friedrich Schlegel 1797 noch die organische Gliederung der klassischen Werke preist, wird im Athenäum die fragmentarische Struktur zum zentralen Merkmal der modernen Poesie erhoben. Die Fragmentarität wird zum künstlerischen Phänomen, das sich im Akt des Werdens als ein permanentes Ereignen und zeitgebundenes Geschehen realisiert.

Dieter Mersch situiert diese Abwendung vom Werkcharakter der Kunst eben in der Zeit der deutschen Frühromantik, in der dieser Auflösungsprozess in Form einer „Fragmentierung [des Werks] im Unvollendeten“ zum Vorschein kommt.538 Nach Mersch stellt das romantische fragmentarische ‚Kunstwerk’ die „Ankündigung eines Endes“ dar.539 Auch Maurice Blanchot charakterisiert das poetische Projekt der deutschen Frühromantik als ein

„Werk des abwesenden Werks“.540 Die frühromantische Poesie manifestiert sich seiner Meinung nach nicht in der finalen Form sprachlicher Kunstwerke, sondern in der „Reinheit des poetischen Aktes“.541 Dadurch wird ein „völlig neue[r] Modus der Vollendung“ und eine

„echte Veränderung der Schreibweise“ in die Dichtungstradition eingeführt.542 Blanchot sieht den Zweck der frühromantischen Poesie in diesem Zusammenhang darin, „die Poesie weder als Natur noch als Werk zur Geltung zu bringen, sondern als reines augenblickliches Bewußtsein“.543 Das Ziel des frühromantischen Dichtungprogramms besteht folglich nicht im Hervorbringen von schönen Werken, sondern vielmehr darin, „sich selbst augenblicklich ohne Ziel und Bestimmung [zu] erzeug[en].“544

538 Mersch, Dieter: Ereignis und Aura, a.a.O.; S. 180.

539 ebd.

540 Blanchot, Maurice: Das Athenäum, a.a.O.; S. 109.

541 ebd.

542 ebd.

543 ebd.

544 ebd.; S. 112.

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