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2.2 Schülervorstellungen zur Mechanik

2.2.3 Zum Begriff „Beschleunigung“

Im Alltagsgebrauch meint „Beschleunigung“ das „Schnellerwerden“, also die Zunahme der Schnel-ligkeit, d.h. des Geschwindigkeitsbetrags. Anders als in der Physik versteht man darunter aber kei-nen Quotientenbegriff. Der Zeitraum, in dem das Schnellerwerden stattfindet, wird gelegentlich zusätzlich angegeben. „Beschleunigung ist demnach keine auf den zeitlichen Verlauf des Vorgangs

bezogene Größe, sondern eine Bilanzgröße, die aus dem Vergleich von Anfangs- und Endzustand ermittelt wird. Daher ist verständlich, dass mit einer großen Beschleunigung eher das Erreichen großer Endgeschwindigkeiten assoziiert wird als eine starke zeitliche Änderung, die auch bei klei-nen Differenzen kleiner Absolutbeträge auftreten kann“ (Schecker, 1985, S. 264). Wegen dieses Differenzcharakters, den die Beschleunigung für die Schüler hat, kann sich die Beschleunigung eines Körpers für manche Schüler nur auf ein Zeitintervall beziehen und es ist für sie auch nicht möglich, einem Zeitpunkt eine Beschleunigung zuzuordnen, was insbesondere bei Umkehrpunkten (tiefster Punkt beim Trampolinspringen, höchster Punkt beim senkrechten Wurf) auftritt.

Der Begriff der Beschleunigung ist für die newtonsche Mechanik aber ein zentraler Begriff. Als zweite Ableitung des Ortes nach der Zeit - als Veränderung der Veränderung des Ortes mit der Zeit - ist die Beschleunigung jedoch der Erfahrung nicht so leicht zugänglich wie Ort oder Geschwin-digkeit und ihre quantitative Erfassung ist sehr viel schwieriger.

So wird der Begriff Beschleunigung von den Schülern in seiner Komplexität oft reduziert (siehe Abb. 2.1). Am Drastischsten ist die Reduktion auf Geschwindigkeit. Dies entspricht dem Alltags-gebrauch, bei dem man unter einer

be-schleunigten Bewegung „nur“ eine schnel-le Bewegung versteht, wie es beispiels-weise bei dem Begriff der „beschleunigten Bearbeitung eines Aktenstückes“ deutlich wird (Pohl, 1944, S. 14). Bei qualitativen Aufgaben zur Beschleunigung antworten Schüler dann so, als wäre nach der Ge-schwindigkeit gefragt worden (Heuer, Wilhelm, 1997) (siehe Kapitel 6.4.2.3 und 6.4.3.1). DYKSTRA (1991, S. 42 - 44) legt dar, dass Schüler vor dem Unterricht nur eine undifferenzierte Sicht von Bewegung haben und nicht zwischen verschiedenen Bewegungsformen und nicht zwischen den verschiedenen Bewegungsgrößen (Geschwindigkeit/Beschleunigung) unter-scheiden.

Von mehr Verständnis zeugt die Redukti-on der vektoriellen Beschleunigung auf eine skalare Größe, nämlich die Änderung des Geschwindigkeitsbetrages (als absolu-te Größe ∆vG oder als auf ein Zeitintervall

t bezogene Größe ∆vG /∆t

). Wird Be-schleunigung so verstanden, bereiten nach

Kein prinzipieller Unterschied zwischen Beschleunigung und Geschwindigkeit aG vG

~ ,

Abb. 2.1: Überblick über Schülervorstellungen zur Be-schleunigung

dem entsprechenden Unterricht auch negative Beschleunigungen meistens kaum Probleme. „Be-schleunigen“ heißt demnach „schnellerwerden“, auch als „positive Beschleunigung“ bezeichnet;

„negative Beschleunigung“ bedeutet dann „langsamerwerden“, „verzögern“, „bremsen“.

Wird nun Beschleunigung als eine solche skalare Größe betrachtet, die die Änderung des Ge-schwindigkeitsbetrages (pro Zeiteinheit) angibt und deren Vorzeichen die Zu- bzw. Abnahme des Geschwindigkeitsbetrages anzeigt, führt dies zunächst kaum zu Problemen, da sich ein Körper in der Schule meist in positive Richtung bewegt.

Erst bei Bewegungen in negative Richtung - wie sie bei Bewegungen mit Richtungswechsel auftre-ten - führt diese Vorstellung zu entgegengesetzauftre-ten Ergebnissen als das physikalische Konzept (siehe Kapitel 6.4.3.1), bei dem die vektorielle Beschleunigung der Quotient aus der Änderung des Ge-schwindigkeitsvektors durch zugehöriges Zeitintervall ist (Beispiel: In negative Richtung schneller werden ist eine negative Beschleunigung). Besonders schwierig wird es dann bei der zweidimensi-onalen Bewegung, da eine Kreisbewegung mit konstantem Geschwindigkeitsbetrag dann keine Be-schleunigung ergibt und eine ZentripetalbeBe-schleunigung nicht verstehbar ist. Entsprechend wird bei einer Kurvenfahrt mit veränderlicher Geschwindigkeit von den Schülern nur die tangentiale Kom-ponente der Beschleunigung angegeben (siehe Kapitel 6.4.1.1). Diese unangemessenen Reduktion findet man sogar in Universitätslehrbüchern, in denen beim mathematischen Pendel die tangentiale Beschleunigung als die (gesamte) Beschleunigung dargestellt wird, ohne darauf zu verweisen, dass die Bewegung auf dem Kreisbogen einen radialen Beschleunigungsanteil ergibt (Reusch, Heuer, 2000, S. 349). Die Kraft durch das Seil kompensiert eben nicht die radiale Komponente der Ge-wichtskraft, sondern ist (außer in den Umkehrpunkten) größer, sonst könnte sich der Pendelkörper nicht auf einer Kreisbahn bewegen.

Die Untersuchungen in den Kapiteln 6.4.1.1, 6.4.2.3 und 6.4.3.1 zeigen insgesamt, dass im her-kömmlichen Unterricht nur ein recht kleiner Teil der Schüler so ein physikalisches Verständnis der Beschleunigung erreichen, dass sie auch bei Kurvenfahrten und eindimensionalen Bewegungen mit Richtungsumkehr physikalisch korrekte Antworten geben können. Der traditionelle Unterricht er-reicht also nicht viel mehr, als dass ein großer Teil der Schüler Beschleunigung als Änderung des Geschwindigkeitsbetrages konzeptualisieren. In der Regel lassen sich nach dem Mechanikunterricht alle drei verschiedenen Vorstellungen (aG vG

~ , a~∆vG und aG~∆vG) gleichzeitig in einer Klasse finden, wobei es von der Aufgabenstellung abhängt, welche dieser Vorstellung überwiegend ge-nutzt wird.

Sollen Gymnasiasten nach dem Mechanikunterricht bei einer eindimensionalen Bewegung die Be-schleunigungsrichtung als Pfeil einzeichnen (siehe 6.4.1.1), wird dies noch von fast allen richtig gelöst (ca. 90 %). Bei einer zweidimensionalen Bewegung lösen nur 5 % bis 12 % die Aufgabe richtig, während die Hälfte bis Dreiviertel der Schüler nur eine Art tangentiale Beschleunigung an-gibt (siehe 6.4.1.1). Auch die Untersuchungen von REIF und ALLEN (1992) sowie von HESTENES

und WELLS (1992) zeigen große Schwierigkeiten von amerikanischen Schülern und Studenten bei der Richtung der Beschleunigung bei krummlinigen Bewegungen.

Sollen die Gymnasiasten nach dem Mechanikunterricht bei den eindimensionalen Bewegungen aber Zeit-Graphen auswählen, geben ca. 50 % eine Antwort, die wenigstens einem gewissen Beschleu-nigungsverständnis entspricht (a~∆vG oder aG~∆vG), während ca. 40 % nur der Geschwindigkeit entsprechend (aG vG

~ ) antworten (siehe 6.4.2.3). Die Kombination von „Beschleunigungsrichtung ermitteln“ und „Graphen interpretieren“ ist bei eindimensionalen Bewegungen offensichtlich deut-lich schwerer als jede dieser Aufgaben allein. Sollen aber bei einer eindimensionalen Bewegung mit Richtungsumkehr nur Vorzeichen angegeben werden, geben ebenso ca. 40 % Antworten, als wäre nach der Geschwindigkeit gefragt worden (siehe 6.4.3.1). Ca. ein Drittel antwortet entsprechend der Schnelligkeitsänderung a vG

~ und ca. ein Sechstel schafft eine Antwort, die wenigstens bis auf den Umkehrpunkt richtig ist.