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6.4 Schülerstudien zur Kinematik

6.4.1 Aufgaben zur zweidimensionalen Kinematik

REUSCH hat festgestellt, dass selbst Klassen, bei denen bei der eindimensionalen Kinematik der Vektorcharakter der kinematischen Größen durch den Einsatz dynamisch ikonischer Repräsentatio-nen betont wurde und die bei dem Test „Fragen zu Kraft und Bewegung“ (siehe Kapitel 6.4.2.1) bei den Graphen zur eindimensionalen Bewegung sehr gut abschnitten, kein vektorielles Verständnis haben, das sie auf zweidimensionale Bewegungen richtig anwenden können (Reusch, Heuer, 1999a, S. 184; Reusch, Heuer, 1999b, S. 32 und private Mitteilung). In diesen vier Klassen, in denen die Kinematik und Dynamik in traditioneller Reihenfolge bereits behandelt wurde, konnte REUSCH

durch einen zusätzlichen Unterricht zur zweidimensionalen Kinematik, der dem hier in der Kinema-tik eingesetztem Unterricht ähnelt, einen erheblichen Lernzuwachs erzielen (Reusch, Heuer, 1999a, S. 184; Reusch, Heuer, 1999b, S. 32).

Das betrifft sowohl einfache Aufgaben wie die Richtung von Geschwindigkeit und Beschleunigung beim Kurvenfah-ren mit konstanter Schnelligkeit, aber auch schwierigere Fragen wie die Richtung der Beschleunigung beim Kurvenfahren mit veränderlicher Schnelligkeit.

Im Rahmen dieser Arbeit wurden 217 Schüler aus zwölf herkömmlich unter-richteten Klassen am Schuljahresende gebeten, bei der qualitativen Aufgabe aus Abb. 6.4 bei fünf verschiedenen Situationen den

Beschleunigungsvek-Abb. 6.4: Testaufgabe zur Beschleunigung bei einer zweidi-mensionalen Bewegung

tor einzuzeichnen. Alle Schüler hatten also bereits die Kinematik und Dynamik zweidimensionaler Bewegungen behandelt, ein Großteil erst kurz davor. Dabei traten Unterschiede zwischen den ein-zelnen Klassen auf. So wurde z.B. nur in einer Klasse häufig Pfeile gezeichnet, die stets irgendwie in das Innere der umfahrenen Fläche zeigen - auch bei Fahrt geradeaus und bei entgegengesetzter Kurvenkrümmung; die Schüler sehen also die Bewegung als Ganzes („Kreisfahrt“), nicht die ein-zelnen Abschnitte.

Insgesamt haben im Gegensatz zur Aufgabe „Beschleunigung beim Münzwurf“ in Kapitel 6.4.3, in der nach dem Vorzei-chen der Beschleunigung gefragt wurde und dann ein Pfeil zu zeichnen war, nur sehr wenige Schüler einen Pfeil gezeichnet, der der Geschwindigkeitsrich-tung entspricht (siehe Tab. 6.1).

Dabei wurde beim Schneller-werden ein langer und beim Langsamerwerden ein kurzer Pfeil in Bewegungsrichtung ge-zeichnet.

Bei den geradlinigen Bewegun-gen haben die meisten Schüler

(93 % bzw. 88 %, siehe Tab. 6.1) die richtigen Pfeile eingezeichnet. Das heißt aber nicht, dass diese Schüler ein vektorielles Verständnis der Beschleunigung haben. Viele haben wohl nur ihre „Schnel-ler-/Langsamer-Vorstellung“ (Beschleunigung als skalare Größe, + ist schneller, - ist langsamer) in Pfeile umgesetzt. So haben einige Schüler zusätzlich „aG>0

“, „−aG“ oder das Vorzeichen „+“ oder

„-“ dazugeschrieben. 2 % der Schüler haben sogar keine Pfeile, sondern nur Vorzeichen auf das Blatt geschrieben.

Bei der Kurvenfahrt haben dagegen nur wenige Schüler eine richtige Antwort gegeben. Obwohl Kreisbewegungen mit konstanter Winkelgeschwindigkeit und die Zentripetalkraft längere Zeit un-terrichtet wurden, haben hier nur 12 % richtig geantwortet (in sechs Klassen: 0 %). Noch schwieri-ger ist es, wenn die Bewegung während der Kurvenfahrt schneller oder langsamer wird. Dass sich die Beschleunigung hier aus einer Tangential- und einer Normalkomponente zusammensetzt, wurde den Schülern im Unterricht wahrscheinlich mitgeteilt, aber wohl wenig veranschaulicht und geübt.

Deshalb werden hier nur von 9 % bzw. 6 % richtige Pfeile gezeichnet. Sehr häufig wird bei der Kurvenfahrt der Nullvektor bei konstantem Tempo (48 %) bzw. ein Pfeil in oder gegen die Bewe-gungsrichtung je nach Schneller- oder Langsamerwerden gezeichnet (56 % bzw. 73 %). Zusätzlich ist dabei zu beachten, dass einige dieser Schüler (10 % bzw. 6 % aller Schüler) einen deutlich gebo-genen Pfeil (wie die Fahrbahn) zeichnen. Viele zeichnen den Pfeil leider so kurz, dass nicht

ent-richtige

Tab. 6.1: Antwortverhalten herkömmlich unterrichtetet Elftklässler am Schuljahresende bei der Aufgabe zur Richtung des Beschleuni-gungsvektors (N = 217, zwölf Klassen, sechs bayerische Gymnasien)

scheidbar ist, ob sie an eine echte Tangente oder an einen gebogenen Pfeil dachten. Ca. ein Drittel der Schüler geben einen deutlich tangentialen Pfeil an.

Insgesamt kann man sagen, dass ein Großteil der Schüler eine vereinfachte Vorstellung des Be-schleunigungsbegriffes im Sinne der Angabe „schneller/langsamer“ bis zum Ende der elften Klasse entwickelt hat, auch wenn nicht alle dieser Schüler dies bei schwierigen Items (mit Graphen oder Münzwurf) umsetzen können. Dagegen haben nur wenige Schüler eine vektorielle Vorstellung, die bei zweidimensionalen Bewegungen die richtige qualitative Lösung ermöglicht.

Es wäre sicher wünschenswert, wenn wie bei der eindimensionalen Kinematik auch zur zweidimen-sionalen Kinematik mit einer größeren Anzahl verschiedener Aufgaben Tests durchgeführt worden wären. FLORES ET AL. (2004, S. 465) stellten z.B. nach einem Einführungskurs zwei physikalisch ähnliche Aufgaben an Studenten. LABUDDE,REIF und QUINN (1988, S. 97 f.) beschrieben in je ei-nem Satz verschiedene Bewegungen, zu denen die Studenten die Beschleunigung beschreiben soll-ten, wobei z.T. eine, meist falsche Antwort in der Aufgabenstellung bereits vorgeschlagen war.

6.4.1.2 Ergebnisse der Treatmentgruppe im Vergleich

Dass die Schüler, die nach dem Unterrichtskonzept dieser Arbeit unterrichtet wurden, Aufgaben zur zweidimensionalen Kinematik besser lösen als Schüler, die traditionell unterrichtet wurden, schien aufgrund der Ergebnisse von REUSCH (Reusch, Heuer, 1999a, S. 184; Reusch, Heuer, 1999b, S. 32) so selbstverständlich, dass es wenig getestet wurde. Denn es wurden bis zu sieben Unterrichtsstun-den für die Kinematik zweidimensionaler Bewegungen verwendet, während dies im konventionel-len Unterricht in der Regel nur kurz bei den Spezialfälkonventionel-len „waagrechter Wurf“ und „Kreisbewe-gung“ behandelt wird. Deshalb kann man von traditionell unterrichteten Schülern nicht erwarten, dass sie eine Vorstellung haben, welche Richtung z.B. der Beschleunigungsvektor hat, wenn in ei-ner Kurve gebremst wird.

Aufgaben zur zweidimensionalen Bewegung wurden im Rahmen dieses Unterrichtskonzeptes häu-fig in Übungs- und Prüfungsaufgaben gestellt. Nach den Angaben der Lehrer des Forschungspro-jektes wurden diese von den Schülern der Treatmentgruppe auch gut gelöst; jedoch liegen wie oben begründet wenige empirische Daten vor.

In einer Klasse (17 Schüler) wurde nach nur einer Übungsstunde zur ein- und zweidimensionalen Kinematik eine Stegreifaufgabe geschrieben. Obwohl die Konstruktion des Beschleunigungsvektors auf dem Papier kaum (nur an einem Beispiel) geübt wurde, konnten doch 70 % der Schüler eine solche Konstruktion aus zwei gegebenen Geschwindigkeitsvektoren durchführen. Bei der Aufgabe aus Abb. 6.4, deren Fragestellung auch nur sehr kurz geübt wurde, wurden die Beschleunigungs-richtungen bei Kurvenfahrten mit konstanter Schnelligkeit von Dreiviertel der Schüler richtig ange-geben (drei Monate später in einer anderen, schwierigeren Aufgabe der Schulaufgabe: von der Hälf-te der Schüler). Bei der schwierigeren Situation des Bremsens oder Schnellerwerdens in der Kurve gaben in dieser Stegreifaufgabe noch 50 % – 60 % eine richtige Beschleunigungsrichtung an (siehe Tab. 6.2). Das zeigt, dass viele Schüler auch ohne viel Übung solche Zusammenhänge schnell er-fassen. Die Unterschiede zu den Ergebnissen traditioneller Klassen sind bei gerader Strecke nicht

signifikant, aber bei

97 % der Schüler bei eindimensionalen Bewegungen eine richtige Antwort gegeben, sondern auch 86 % bei Kurvenfahrt mit konstantem Tempo und 66 % bzw. 80 % bei veränderlichem Tempo, was weit mehr als bei herkömmlichen Klassen ist. Die Unterschiede sind bei gerader Strecke nicht signi-fikant (0,05-Niveau), aber bei Kurvenfahrten signisigni-fikant (0,001-Niveau).

Aus den beiden Items mit geradliniger Bewegung wurde eine Subgruppe „geradeaus“ und aus den drei Items mit Kurvenfahrt wurde eine Subgruppe „Kurve“ geschaffen (siehe Tab. 6.2). Unter Ein-beziehung aller vorhandener Schülerantworten (N = 315) ergeben sich bei einem Reliabilitätstest mit α = 0,82 bzw. α = 0,81 hohe Cronbachs Alphas für die beiden Subgruppen.

Statistische Signifikanzmaße haben generell den Nachteil, dass sie von der Größe der Stichprobe abhängig sind. Deshalb werden in dieser Arbeit bei allen Tests noch Effektstärken berechnet, die unabhängig davon sind, wie viele Versuchspersonen betrachtet werden. Die Effektstärke gibt den Unterschied der Mittelwerte im Verhältnis zur mittleren Standardabweichung an. Sie wird aus der Anzahl N der Schüler, dem Mittelwert µ und der Standardabweichung σ nach der Gleichung

Unterricht

Tab. 6.2: Vergleich der Anteile der richtigen Antworten bei der Aufgabe zur Rich-tung des Beschleunigungsvektors (abhängig vom Unterricht); signifikante Unter-schiede im Vergleich zum traditionellen Unterricht (12 Klassen) sind mit einem Stern markiert (χ²-Test, 0,001-Niveau).

Vergleich der Ergebnisse der zwei Subgruppen; signifikante Unterschiede zum tradi-tionellen Unterricht sind mit einem Stern markiert (Mann-Whitney-U-Test, 0,001-Niveau); Effektstärke d gegenüber dem traditionellen Unterricht.

)

µ berechnet. Dabei wird eine Effektstärke von d = 0,2

als schwach, d = 0,5 als mittel und d = 0,8 als stark bezeichnet (Bortz, Döring, 2002, S. 604). Ef-fektstärken werden – entgegen dem Vorgehen in dieser Arbeit – auch genutzt, um vor der Durch-führung eines Tests den optimale Stichprobenumfang festlegen zu können (Power-Analyse).

HÄUßLER ET AL. stellen fest: „Viele Autoren gehen davon aus, dass ein Faktor erst dann von päda-gogischen Interesse ist, wenn er den Lernerfolg zu mindestens 5 % erklärt [aufgeklärte Varianz].

Das entspräche […] einer Effektstärke von d = 0.46.“ (Häußler et al., 1998, S. 151). Hier ergibt sich bei der Subgruppe „geradeaus“ bei der Treatmentgruppe (NTreat = 35) gegenüber der Kontroll-gruppe (NKontroll = 217) eine Effektstärke von nur d = 0,26, die pädagogisch nicht interessant ist.

Aber bei der Subgruppe “Kurve“ ergibt sich eine extrem große Effektstärke von d = 2,95. D.h. die Treatmentgruppe hat bei der Subgruppe „Kurve“ über achtmal so viele richtige Antworten gegeben (77 % versus 9 %) und der Unterschied entspricht ca. drei gemittelte Standardabweichungen. Wün-schenswert wäre dennoch gewesen, dass dieser Test mit mehr Schülern der Treatmentgruppe durchgeführt worden wäre.

Interessant sind außerdem zwei gute Klassen, in denen der Lehrer in der herkömmlichen Themen-reihenfolge nicht nur die vektorielle Beschreibung der Bewegung sehr eingehend behandelt hat, sondern diese auch mit dynamisch ikonischen Repräsentationen visualisiert hat, wozu kurz das DOS-Programm „radial“ (siehe Kapitel 5.2), aber insbesondere Physlets sowie Animationen der CD

„cliXX Physik in bewegten Bildern“ (Treitz, 2000) eingesetzt wurden. Gerade auf der cliXX-CD werden auch Beschleunigungsvektoren gezeigt. Diese Klassen sind damit bei der Kurvenfahrt we-sentlich besser als sonstige traditionelle Klassen, aber nicht so gut wie die Klassen, die nach dem hier vorgestellten Konzept unterrichtet wurden (siehe Tab. 6.2). Die Unterschiede zu den Ergebnis-sen traditioneller KlasErgebnis-sen sind bei den Items zu gerader Strecke nicht signifikant (0,05-Niveau), aber bei den Items zu Kurvenfahrten signifikant (0,001-Niveau).