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2.1.1 Der Begriff „Schülervorstellungen“

Als erstes wird geklärt, was in dieser Arbeit mit dem Begriff „Schülervorstellungen“ gemeint ist und wie umfassend er gesehen werden soll. Ferner werden alternative Begriffe genannt, die im Ge-brauch sind. Dabei soll es auch um die Wertung der Schülervorstellungen gehen, die oft mit diesen Begriffen verbunden wird. Die unterschiedlichen Begriffe spiegeln aber auch Sichtweisen und un-terschiedliche theoretische Ansätze der verschiedenen Arbeitsgruppen wieder.

Sowohl im deutschen als auch im englischen Sprachraum gibt es eine ganze Reihe von Begriffen für die Vorstellungen, die die Schüler auf vielen Gebieten der Physik haben, noch bevor diese Ge-biete im Unterricht behandelt werden (Duit, 1990, S. 112). Da diese Vorstellungen in der Regel nicht mit den Konzepten der Physik übereinstimmen, werden sie zum Teil abwertend mit Begriffen wie „Fehlvorstellungen“, „Fehlkonzepte“, „spontanes Denken“ oder „intuitive Physik“ benannt. Da diese negative Wertung in dieser Arbeit nicht geteilt wird und die positiven Aspekte der Vorkennt-nisse dadurch zu sehr in den Hintergrund rücken, werden diese Begriffe hier kaum verwendet. Die Begriffe „Schülervorstellungen“ oder „Schülervorverständnis“ weisen dagegen auf die Schule hin:

sie sind insofern nicht ganz angemessen, weil die gleichen Vorstellungen auch bei Erwachsenen (z.B. Zeyer, 1981) und zum Teil bei Vorschulkindern gefunden werden können. Ohne negative Konnotation sind Begriffe wie „Vorverständnis“, „Denkrahmen“ oder „Präkonzepte“. Eine Erklä-rung für das Phänomen enthalten die Ausdrücke „Alltagsvorstellungen“ und „Alltagstheorien“, so dass dies recht angemessene Begriffe sind. Mit diesen Begriffen wird den vorhandenen Denk-strukturen der Schüler ein gewisser positiver Wert beigemessen.

Trotzdem wird hier der Begriff „Schülervorstellungen“ verwendet, zum einen weil er neben „All-tagsvorstellungen“ der in der Fachdidaktik am häufigsten verwendete Begriff ist, zum anderen weil es hier vor allem um die Vorstellungen von Schülern in der elften Jahrgangsstufe des Gymnasiums gehen soll. Außerdem werden auch Vorstellungen diskutiert, die nicht durch die Alltagserfahrung, sondern durch den Physikunterricht selbst entstanden sind.

Unter Schülervorstellungen sind im engeren und ursprünglichen Sinn die Vorstellungen der Schüler von physikalischen Phänomenen und Begriffen, von deren Beziehungen untereinander sowie von physikalischen Gesetzmäßigkeiten gemeint. Die Schüler ordnen den physikalischen Begriffen alter-native oder umfassendere Bedeutungen als ein Physiker zu und haben andere Sichtweisen von Phä-nomenen, sowie andere Vorstellungen vom Wesen und von den Eigenschaften der Dinge der Welt.

Der Begriff „Schülervorstellungen“ hat jedoch mittlerweile eine Ausweitung der Bedeutung erfah-ren (Wodzinski, 1996, S. 5): Im weiteerfah-ren Sinn gehöerfah-ren zu den Schülervorstellungen auch allgemei-ne Denkrahmen und Interessen der Schüler, d.h. die übergreifenden Vorstellungen der Schüler von Gegenständen, Zielen, Fragestellungen, Arbeitsweisen und Erkenntnismethoden der Physik sowie übergreifende und themenspezifische Interessen und Einstellungen (Schecker, 1984b, S. 194).

Schließlich gehören dazu auch Vorstellungen über den eigenen Lernprozess. NIEDDERER und SCHECKER meinen, dass sich diese Forschungsrichtung in den achtziger Jahren in zwei Teilbereiche spezialisiert hat: „in den Bereich Schülervorstellungs- und Präkonzeptforschung einerseits (z.B.

Jung, Nachtigall, Duit, von Rhöneck, Driver) und den Bereich der allgemeineren Vorverständnisse,

‚epistemological beliefs’, ‚nature of science’ (s. Höttecke 2001)“ (Niedderer, Schecker, 2004, S.

248).

Der Fachdidaktiker unterstellt den Schülern letztlich gewisse Konzepte, Theorien und Begriffsdefi-nitionen, um deren Vorstellungen zusammenfassen und beschreiben zu können und vor allem, da-mit ihm das Verhalten der Schüler verständlicher wird. Gewissermaßen bildet man sich Vor-stellungen über die VorVor-stellungen der Schüler.

2.1.2 Ursachen von Schülervorstellungen

Die Gegenstände und Themen der Physik begegnen den Schülern nicht zum ersten Mal im Physik-unterricht, weil es häufig Dinge und Phänomene unserer Alltagswelt sind, mit denen wir täglich zu tun haben. Viele Vorstellungen stammen aus sinnlichen Erfahrungen, die die Schüler beim Umgang mit diesen Alltagsphänomenen tagtäglich machen. Diese Flut der auf uns einstürmenden Sinnesein-drücke muss geordnet werden. Das Denken ergänzt diese EinSinnesein-drücke, erweitert und verändert sie und verknüpft sie mit anderen. Sinnliches Erleben und Denken sind in einem ständigen Wechsel-spiel ineinander verwoben, wobei das eine nicht ohne das andere auskommen kann. Unser Denken bewertet alle Eindrücke. Die im Denken hergestellten Zusammenhänge und Gedanken werden dann für wahr gehalten, wenn sie mit vielen Eindrücken sinnvoll ergänzt werden können, also auf einem breiten und sicheren Fundament im Bereich der Sinneswahrnehmung ruhen (Schön, 1992, S. 259).

So bilden sich Alltagstheorien, die sich für den Schüler in seiner Umwelt als angemessen, hilfreich und damit als „wahr“ erweisen, da sie Vorhersagen über und angemessenen Umgang mit diesen Dingen bis zu einem gewissen Grad ermöglichen. Diese Alltagsvorstellungen stimmen meistens in wesentlichen Merkmalen nicht mit den physikalischen Vorstellungen überein, reichen aber zur Er-klärung alltäglicher Phänomene aus.

Deshalb werden die Schülervorstellungen auch „kontextabhängige Wahrheiten“ genannt (Fischer, 1992, S. 64; Minstrell, 1991, S. 113). So ist zum Beispiel die Aussage, dass schwere Objekte schneller fallen als leichte, einerseits für den Physiker unter Vernachlässigung des Luftwiderstandes (und des Auftriebs) bzw. im Vakuum eine falsche Aussage, da alle Objekte die gleiche Fallbe-schleunigung erfahren, anderseits aber in unserer Welt mit der vorhanden Luft eine zutreffende Aussage, falls gleiche aerodynamische Eigenschaften vorliegen und sich die Objekte nur in der Masse unterscheiden. Das Bilden solcher Erklärungsmuster und damit das Erkennen gewisser

Ge-setzmäßigkeiten ist somit eine beachtenswerte Leistung. Die wissenschaftlichen Konzepte unter-scheiden sich aber von den Alltagstheorien u.a. durch einen allgemeineren Geltungsbereich.

Die Alltagssprache hält viele solche Erklärungsmuster bereit, die man sich durch den verständigen Gebrauch der Sprache aneignet (Hericks, 1993, S. 126). Sie bewahrt dabei in vielen Formulierun-gen VorstellunFormulierun-gen, die von der Wissenschaft zum Teil als überholt angesehen werden und sie ver-wendet physikalische Begriffe in anderen Bedeutungen als die Physik.

Vorstellungen werden auch geprägt durch den Umgang mit Massenmedien, dem Lesen von Bü-chern, durch den gesamten Bereich sozialen Lernens im täglichen Leben. Das Physikbild mancher Schüler, ihre Vorstellungen und ihr Vorwissen über Physik werden eventuell auch durch die Lektü-re von Science Fiction-Literatur geprägt. Hier wird ein wissenschaftlich wirkendes Vokabular ver-wendet, so dass es nicht einfach ist, zwischen Fiktion und Wissenschaft zu unterscheiden. Da auf-grund dieser vielen, aber vergleichbaren Quellen bei den meisten Schülern auch vergleichbare All-tagskenntnisse entstehen, kann man deren Struktur untersuchen und verallgemeinert darstellen.

Außerdem entstehen Vorstellungen dadurch, dass Alltagssituationen spontan in bestimmter Weise strukturiert werden, was an allgemeinen Schemata liegen kann, die sich sehr früh ausbilden (Wod-zinski, 1996, S. 18). Man kann auch sagen, dass sich viele Vorstellungen auf eine Erfahrungs-Gestalt eines Ursache-Wirkungszusammenhangs zurückführen lassen, die sich in vielen Alltagsan-wendungen bewährt hat (Anderson, 1986).

Schließlich können sogar durch den Physikunterricht selbst Vorstellungen geweckt oder unterstützt werden, die den physikalischen zuwiderlaufen. Von den Schülern missverstandene - d.h. auf dem Hintergrund ihrer Vorstellungen interpretierte -, an sich zutreffende Informationen des Lehrers füh-ren bei den Schülern zu Vorstellungen, die der Lehrer nicht beabsichtigt hatte (Duit, 1992, S. 285).

Das Problem ist, dass die Sinnesdaten, die ein Adressat empfängt, keine ihnen innewohnende Be-deutung haben, sondern diese erst vom Adressaten aufgrund seiner Vorstellungen bekommen. So ergibt sich folgendes Problem: Der Lehrer sagt etwas, das im Rahmen seiner physikalischen Vor-stellungen eine bestimmte Bedeutung hat. Der Schüler interpretiert das Gesagte aufgrund seines andersartigen Vorverständnisses (er hat ja noch nicht die physikalische Vorstellung) jedoch anders, also aus Sicht des Lehrers falsch. Umgekehrt hat die Antwort des Schülers im Rahmen seiner vo-runterrichtlichen Vorstellungen eine bestimmte Bedeutung. Der Lehrer interpretiert das aufgrund seiner anderen Vorstellungen (er kennt evtl. nur die physikalische Vorstellung) jedoch auch anders als vom Schüler gemeint und bestätigt ihm z.B. fälschlicherweise die Richtigkeit der Aussage. So redet man aneinander vorbei und missversteht sich („hermeneutischer Zirkel“) (Duit, 2002, S. 7).

Auf diese Weise macht der Unterricht nach NACHTIGALL aus den ursprünglichen Präkonzepten häu-fig Misskonzepte (Nachtigall, 1992, S. 12). Damit ist nach NACHTIGALL in erster Linie gemeint, dass zwar noch präkonzeptionell gedacht wird, aber das wohldefinierte physikalische Vokabular zur Erklärung benutzt wird.

Die beim Schüler bereits vorhandenen Vorstellungen führen zu Schwierigkeiten, die sich in sach-bedingte, lehrbedingte und innenbedingte Lernschwierigkeiten unterscheiden lassen. Sachbedingte Lernschwierigkeiten ergeben sich aus der Komplexität und Abstraktheit der Inhalte, wofür W OD-ZINSKI die Schwierigkeiten mit dem Begriff „Beschleunigung“ als ein Beispiel nennt (Wodzinski,

1996, S. 22). Lehrbedingte Schwierigkeiten ergeben sich wie genannt aus dem Unterricht, wobei nicht optimale Elementarisierungen und Vorgehensweisen Ursachen sind. Innenbedingte Lern-schwierigkeiten liegen am kognitiven Apparat des Schülers, wobei sich Gedächtniskapazität, Kon-zentrationsvermögen, vorhandene Vorstellungen u.a. auswirken.

2.1.3 Eigenschaften von Schülervorstellungen

Die Schülervorstellungen können zwar von Schüler zu Schüler variieren, sie weisen aber gemein-same Grundzüge auf, die es ermöglichen, im Rahmen didaktischer Forschung verallgemeinerbare Aussagen zu machen, obwohl es Vorstellungen individueller Schüler sind (Hericks, 1993, S. 129).

Unterscheiden muss man zwischen spontan erzeugten Vorstellungen, auch „ad-hoc-konstruierte Vorstellungen“ genannt (Häußler et al., 1998, S. 177), die durch eine Befragung in einer konkreten Situation erzeugt werden und Vorstellungen, die fest verwurzelt sind und immer wieder zum Tragen kommen. NIEDDERER und SCHECKER verwenden dafür die beiden Begriffe „current construction“

und „deep structure“ (Niedderer, Schecker, 1992b, S. 79 f.). DYKSTRA ET AL.(1992) unterscheiden deshalb auch zwischen • Fehlkonzepten im Sinne „falscher“ Antworten, • Fehlkonzepten im Sinne von Vorstellungen über bestimmte Phänomene, die zu „falschen“ Antworten führen und • grundle-gende Überzeugungen, die in verschiedenen Situationen immer wieder zum Vorschein kommen.

Die physikalischen Begriffe sind in den Schülervorstellungen wie in der Umgangssprache Sammel-begriffe, die vielfältige Bedeutungen haben können. Die konkret gemeinte Bedeutung eines Begriffs ergibt sich häufig erst an dem jeweiligen Kontext, in dem das Wort benutzt wird (current construc-tion). Die Begriffe selbst und ihre Beziehungen bleiben meist relativ unbewusst und können nicht an sich, sondern nur unter dem Einfluss konkreter Aufgabenstellungen, also bezüglich konkreter Situationen geäußert werden. Auffällig ist auch, dass ein Schüler oft gleichzeitig vielfältige und widersprüchliche Vorstellungen hat. So können in physikalisch äquivalenten Situationen ganz un-terschiedliche Vorstellungen aktiviert werden, wofür äußere, physikalisch unbedeutende Aspekte entscheidend sind. Ein außenstehender Beobachter bekommt dann leicht den Eindruck, dass die Schülervorstellungen inkohärent sind. Folglich ist die Überzeugungskraft eines Demonstrationsex-perimentes oder einer Analogie beschränkt, da es für den Schüler nicht unbedingt auf andere Kon-texte übertragbar ist.

Schülervorstellungen können auch sinnstiftend miteinander vernetzt sein, so wie auch eine physika-lische Theorie durch ein Netz von Begriffen, Regeln und Vorstellungen beschrieben werden kann (deep structure). Deshalb ist beim Lernen oft nicht nur eine Vorstellung, sondern ein ganzes Netz, eine ganze Sichtweise zu ändern, was viel schwieriger ist als eine einzelne, isolierte Vorstellung zu ändern.

Erschwerend für den Unterricht ist, dass Schülervorstellungen außerordentlich stabil und dauerhaft sind. Selbst wenn die Schüler die physikalische Vorstellung verstehen, glauben sie entsprechende Behauptungen häufig nicht. So sind meist auch nach dem entsprechenden Unterricht immer noch dieselben Vorstellungen vorhanden, obwohl der Lehrer sich sehr um eine Veränderung bemühte.

Gerade nach dem Unterricht, wenn das oberflächlich angelernte Sachwissen wieder vergessen wur-de, treten die alten Vorstellungen wieder stärker hervor (Demidow et al., 1997, S. 196). Das ist

recht verständlich, da die oben dargelegten Quellen für die Alltagserkenntnisse ständig vorhanden sind. So wurden auch prinzipiell gleiche Vorstellungen bei Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Vorbildung - lediglich mit verschiedenen Häufigkeiten - gefunden. Die Vorstel-lungen bleiben außerdem dadurch stabil, dass Schüler im Unterricht in Experimenten häufig genau das sehen, was sie aufgrund ihrer Vorstellungen erwarten (Ein Beispiel beschriebt SCHLICHTING, (1991, S. 77), weitere nennt DUIT (1992, S. 283, oder 1989, S. 37 f., oder 1996, S. 154)). Aber selbst wenn sie sehen, dass ein einziger Versuchsausgang ihren Vorstellungen widerspricht, ändern sie deshalb noch nicht ihre Sichtweise (Duit, 1993a, S. 5). Die bekannte Tendenz, von den vorhan-denen Ansichten und Bewertungen möglichst wenig abzuweichen, wird in der Psychologie „Perse-verationstendenz“ genannt.

Bei Schülern sind aber nicht nur inkorrekte oder unvollständige Vorstellungen zu finden, sondern auch der unangemessene Einsatz eines an sich korrekten Konzeptes, d.h. ein richtiges Konzept wird überstrapaziert und auch dann immer wieder verwendet, wenn gerade ein anderes Konzept ange-messen wäre (Mandl, Gruber, Renkl, 1993a, S. 25).

2.1.4 Kompartmentalisierung von Schülervorstellungen

Der Physikunterricht in der Schule geht häufig nicht auf die vorhandenen Schülervorstellungen ein, sondern stellt das physikalische Konzept vor, das sich jeder Schüler anzueignen hat. Das führt zum Entstehen gewisser Wissensstrukturen, die von MANDL, GRUBER und RENKL (1993a, S. 27) mit dem Begriff „Wissenskompartmentalisierung“ (im Englischen: „knowledge compartmentalization“

(Mandl, Gruber, Renkl, 1993b, S. 162)) bezeichnet werden. Gemeint ist, dass das Wissen über ei-nen bestimmten Bereich aus verschiedeei-nen, separat gehalteei-nen und nicht miteinander verknüpften Teilen zusammengesetzt ist. MANDL, GRUBER und RENKL unterscheiden drei Arten von Wis-senskompartmentalisierung:

Als erstes ist die Kompartmentalisierung von korrekten und inkorrekten Konzepten zu nennen. Im Schulunterricht wird häufig nicht versucht, die vorhandenen Fehlkonzepte durch korrekte Konzepte zu ersetzen, sondern es wird ein zusätzliches Wissen vermittelt, so dass dann korrekte und inkorrek-te Konzepinkorrek-te unberührt nebeneinander sinkorrek-tehen bleiben. Das größinkorrek-te Problem bei dieser Art von Wis-senskompartmentalisierung ist, dass in Situationen, in denen Wissen angewendet werden soll, die Schüler oft auf ihre alten Fehlkonzepte vertrauen, anstatt auf das neu erworbene, adäquatere wissen-schaftliche Wissen. Im Gespräch mit Schülern ist häufig auch ein Hin- und Herspringen zwischen den zwei Theorien festzustellen. Spontan verwendet der Schüler eher sein altes Modell, wechselt aber bei einem kleinen Hinweis sofort zum neugelernten Modell über.

WILHELM (1994, S. 81) berichtet von einem Beispiel für dieses Verhalten in einem Interview, bei dem zwei Schülerinnen mit lautem Denken den Fragebogen „Fragen zu Kraft und Bewegung“ be-arbeiten sollten (siehe Kapitel 6.4.2.1). Dabei haben sie fast durchgehend und überzeugt aristote-lisch geantwortet. Anschließend wollten sie die richtigen Antworten wissen. Nachdem mit wenigen Worten das newtonsche Konzept in Erinnerung gerufen wurde, konnte eine Schülerin plötzlich selbst die gleichen Aufgaben richtig beantworten. Solche Verständnistests zeigen also nur, welche

Vorstellung Schüler spontan nutzen. Es ist durchaus möglich, dass sie trotz physikalisch falschen Antworten auch über das physikalische Konzept verfügen.

Zweitens gibt es eine Kompartmentalisierung unterschiedlicher korrekter Konzepte. Im Unterricht wird ein komplexes Thema in der Regel stark vereinfacht dargestellt und in verschiedene Themen aufgeteilt. Nach MANDL ET AL. (1993a, S. 28) werden möglicherweise unterschiedliche wissen-schaftliche Konzepte, die eng miteinander verknüpft sind, als separate Wissenseinheiten erworben und unabhängig voneinander gespeichert. Die Gefahr dabei ist, dass die Komplexität des Gegen-standes in der realen Welt nicht gewürdigt wird und es in der Anwendung dieser Wissensstrukturen zu unangemessenen Übervereinfachungen kommt.

Schließlich gibt es noch die Kompartmentalisierung von Symbolsystemen und Dingen der wirkli-chen Welt, d.h. es fehlt der Transfer zwiswirkli-chen diesen beiden. „Die Gesetze der Physik werden bei dieser Form der Kompartmentalisierung also im Prinzip wie die Spielregeln eines erfundenen Spiels aufgefasst, die überhaupt nichts mit den Entitäten und Prozessen der wirklichen Welt zu tun haben“ (Perkins et al., 1988, zitiert nach Mandl et al., 1993a, S. 28). Daraus folgt, dass einerseits Alltagsvorstellungen in der Schule nicht zum Lösen arithmetischer Probleme verwendet werden - sondern bedeutungslose Formelmanipulationen ohne Verständnis der Relevanz für das tägliche Le-ben durchgeführt werden -, und auf der anderen Seite die Schulkenntnisse nicht zum Erklären der alltäglichen Geschehnisse benutzt werden.

Man kann davon ausgehen, dass es nach einem Lernprozess immer ein komplexes Nebeneinander verschiedener Vorstellungen (alter und neu erworbener) gibt. Die Frage ist, ob es ein unberührtes und unbewusstes oder ein bewusstes, reflektiertes Nebeneinander ist. Des Weiteren ist die Frage, ob die Schüler auch über die physikalische Vorstellung verfügen und welche Vorstellung sie bei phy-sikalischen Fragestellungen als erstes verwenden.

HARTMANN zeigt, dass Schüler zur gleichen mechanischen Fragestellung, wenn man ihnen Zeit lässt, verschiedene (meist zwei) und miteinander konkurrierende Erklärungen erzeugen (Hartmann, Niedderer, 2003 und 2004; Hartmann, 2004). Über 70 % der Schüler der elften Jahrgangsstufe mit Physik-Leistungskurs geben so bei typischen qualitativen Aufgaben mehrere Erklärungen ab und zwar sowohl vor als auch nach dem Unterricht (Hartmann, Niedderer, 2003, S. 4). Der Anteil der physikalischen Erklärungselemente in den Interviews steigt dabei durch den Unterricht der elften Jahrgangsstufe von 32 % vor dem Unterricht auf 47 % direkt nach dem Dynamikunterricht. Sind die gleichen Aufgaben schriftlich als Multiple-Choice-Aufgaben zu lösen, ist der Anteil mit 12 % (vor-her) bzw. 41 % (nach(vor-her) geringer, so dass die Ergebnisse von Multiple-Choice-Aufgaben das Wis-sen und die Fähigkeiten der Schüler nicht völlig korrekt beschreiben.

2.1.5 Lernertheorien in der Entwicklung physikalischer Kompetenz

Durch den Unterricht und das dadurch angeregte Lernen entstehen beim Schüler Vorstellungen, die sich von den Alltagsvorstellungen unterscheiden, aber noch nicht den angestrebten Vorstellungen entsprechen (z.B. in der geometrischen Optik: siehe Goldberg, 1994, S. 45 – 49). NIEDDERER nennt dies Zwischenzustände (Niedderer, 1999, S. 56). Beim Lernen durchläuft ein Lerner evtl. mehrere Zwischenzustände, so dass auch von einem Lernpfad gesprochen wird.

SCHENK entwickelte allgemein ein Konzept von Lernertheorien (Schenk, 1984), das HERICKS wei-terentwickelte (Hericks, 1993, S. 103). Die Entfaltung der konzeptualen Dimension physikalischer Kompetenz, also in welcher Weise der Lernende Sachverhalte der Wirklichkeit sieht, die in physi-kalischer Hinsicht als Tatbestände elaborierter Theorien beschrieben werden können, sieht HERICKS

als sukzessive Umgestaltung von Lernertheorien an (Hericks, 1993, S. 106). Im Bereich Mechanik unterscheidet er in der Entwicklung der konzeptualen Dimension vier Niveaustufen, d.h. vier Ler-nertheorien (KM 0 bis 3: Konzeptuale Dimension Mechanik) (Hericks, 1993, S. 124 – 137), die im Folgenden kurz vorgestellt werden.

Die Schülervorstellungen werden hierbei mit den Theorien der Wissenschaftler verglichen: Wissen-schaft ist als Versuch einer theoriengeleiteten Erschließung von Wirklichkeit zu sehen. Die Sicht des Wissenschaftlers auf bestimmte Sachverhalte ist durch die Theorien, von denen er sich leiten lässt, in gewisser Weise vorstrukturiert. Eine Theorie legt dabei ein Raster auf die ursprünglich ein-heitliche Gesamtwirklichkeit, indem sie die Gegenstände der Betrachtung zusammenfasst und ord-net. Ähnliches gilt für die Schülervorstellungen, so dass sie als Lernertheorien aufgefasst und be-zeichnet werden können.

Alltagstheorien zur Mechanik (KM 1): Die Vorstellungen, die ein Schüler vor bzw. zu Beginn eines Physikunterrichts hat, werden als Alltagstheorien beschrieben und sind der Ausgangspunkt physika-lischer Kompetenzentwicklung. Diese Alltagstheorien kommen aus der Alltagssprache, die Erklä-rungsmuster für entsprechende Sachverhalte bereithält und die man sich durch den Gebrauch der Sprache aneignet. Über die Sachverhalte, die zur Mechanik zählen, im Alltag angemessen reden zu können, wird von jedem Menschen in unserer Kultur erwartet. Ein Beherrschen dieser Alltagsspra-che reicht auch für den alltägliAlltagsspra-chen Umgang mit diesen Sachverhalten aus. Durch ihre Bedeutung für die alltägliche Kommunikation haben die Alltagstheorien eine soziale Geltung. „Physikalische Theoriebildung über diese Alltagstheorien hinaus weiter zu entwickeln, setzt ein spezifisches Inte-resse des Einzelnen an Physik voraus, wie es nicht für jeden in unserer Gesellschaft notwendig ist“

(Hericks, 1993, S. 127).

Vorwissenschaftliche Lernertheorien (KM 2): Die Alltagstheorien der Mechanik werden bei einer Entwicklung der physikalischen Kompetenz dadurch weiterentwickelt, dass - beispielsweise durch den Physikunterricht angeregt - neue Elemente in die Alltagstheorien eingebaut werden und die bereits verwendeten Begriffe in Richtung auf ihre physikalische Gebrauchsweise präzisiert und dif-ferenziert werden. So kann eine in sich mehr oder weniger geschlossene Theorie entstehen, die sich zwar deutlich von der ursprünglichen Alltagstheorie unterscheidet, aber noch nicht der wissen-schaftlichen Lernertheorie entspricht.

Wissenschaftliche Lernertheorien (KM 3): Diese Niveaustufe der physikalischen Kompetenz ist das, was angesichts der im Physikunterricht üblicherweise vermittelten Anforderungen und themati-sierten Sachverhalte günstigstenfalls erwarten werden kann. Diese Lernertheorie wird als „wissen-schaftlich“ bezeichnet, weil sie einer physikalischen Theorie am nächsten liegt, hier also der new-tonschen Mechanik. Dieses Niveau beinhaltet nicht die volle Beherrschung der physikalischen The-orie: das kann vom Physikunterricht in der Schule nicht erwartet werden.

Kritisch regredierte Konzeptualisierung der Mechanik (KM 0): Viele Schüler verlieren in der unter-richtlichen Konfrontation mit Physik die Fähigkeit, das Interesse oder den Mut, mechanische Sach-verhalte unter Einsatz von Alltagstheorien zu konzeptualisieren und in entsprechender Weise über

Kritisch regredierte Konzeptualisierung der Mechanik (KM 0): Viele Schüler verlieren in der unter-richtlichen Konfrontation mit Physik die Fähigkeit, das Interesse oder den Mut, mechanische Sach-verhalte unter Einsatz von Alltagstheorien zu konzeptualisieren und in entsprechender Weise über