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4.2.1 Betonung der physikalischen Struktur

Wichtige Aussagen über physikalische Abläufe können prinzipiell auf unterschiedliche Weise dar-gestellt werden, nicht nur in Graphen. Um die Abläufe von Versuchssituationen zu erklären oder bei Variation von Parametern vorherzusagen, ist mehr nötig als die aufbereiteten Daten zu kennen.

Hierfür muss der Lernende Vorstellungen einbringen, wie eine Größe eine andere beeinflusst, wo-bei auch die Abhängigkeiten von bestimmten Bedingungen und von weiteren Größen zu berück-sichtigen sind. Dies ist aber i. Allg. nur ein Glied in einer Kette von Abhängigkeiten, die zu beden-ken sind, um den gesamten Ablauf zu verstehen. Um Vorstellungen beim Lernenden zu unterstüt-zen, wie Einzelabhängigkeiten untereinander verknüpft sind, kann man solche Wirkungszusam-menhänge auch dadurch sichtbar machen, dass in einer Skizze an der Tafel die Beziehungen

zwi-schen den Größen durch Wirkungspfeile wiedergegeben werden (siehe Abb. 4.6) (ein logisches Bild, auch Blockdiagramm ge-nannt).

Die lernpsychologische Intension beim Er-stellen und Nutzen solcher Wirkungsketten

ist vergleichbar dem Einsatz von Concept Maps im instruktionellen Bereich. Es geht darum, ge-dankliche Strukturzusammenhänge bewusster zu machen und Hilfestellungen zu geben, wenn dar-auf zurückgegriffen werden soll, z.B. um Erklärungen zu geben. Solche graphischen Darstellungen von Strukturzusammenhängen wurden bisher im Physikunterricht kaum genutzt, obwohl sie für qualitative Begründungen sehr hilfreich sein können.

Werden solche graphischen Wirkungszu-sammenhänge nicht auf Papier sondern am Bildschirm mit einem Modellbildungssystem erstellt (siehe Abb. 4.7), so können sie auto-matisch in ein Rechenprogramm umgesetzt werden, das den physikalischen Ablauf be-rechnet und dann auch die zeitlichen Verläu-fe der interessierenden Größen darstellen

kann. Die physikalische Struktur eines Vorgangs wird also bei der graphischen Modellbildung be-tont. Es soll deutlich werden, welche Größe auf welche andere einen Einfluss hat, z.B. Gesamtkraft auf Beschleunigung, Beschleunigung auf Geschwindigkeit und diese auf den Ort. In VisEdit ist es nun möglich, diese Wirkungszusammenhänge klarer und übersichtlicher strukturiert darzustellen, als das üblicherweise in STELLA/Dynasys gemacht wird. So wurde in dieser Interventionsstudie immer darauf geachtet, die „dynamische Kette“ der „Newton-Maschine“ Fges→a→v→x in einer horizontalen Linie anzuordnen (siehe Abb. 4.7). Die einzelnen Kräfte wurden links von Fges gleich-wertig untereinander angeordnet. So kann man das Wirkungsgefüge stets von links nach rechts le-sen, während in STELLA/Dynasys eher von unten nach oben gelesen wird. Nur Rückkopplungen gehen dagegen von rechts nach links.

Diese Darstellung der Wirkungsstruktur in einem Blockdiagramm kann man als eine eigene Dar-stellungsart von physikalischen Aussagen auffassen. Sie soll nicht anstelle, sondern als Ergänzung zu anderen Darstellungsarten hinzutreten. Nach HEUER kann man dann fünf Darstellungsebenen physikalischer Aussagen unterscheiden (siehe Abb. 3.2), die jeweils verschiedenen Repräsentatio-nen des Wissens im Gedächtnis entsprechen (Heuer, 2003a, S. 3): Die höchste Ebene sind demnach Wirkungsgefüge, wie es in einem graphisch-orientierten Modellbildungssystem dargestellt wird, bei dem Zusammenhänge deutlich werden.

Wichtig sind die Lernprozesse beim Erstellen dieses Modells, die helfen, eigene Vorstellungen über die Strukturzusammenhänge zu klären. Zusätzlich zur Klärung der Vorstellungen beim Erstellen des Modells erhalten die Lernenden beim nächsten Schritt, nämlich der Berechnung und Darstellung des Modellablaufs ein entscheidendes Feedback: Entspricht das Phänomen bzw. die detaillierte

Abb. 4.6: Mögliche Tafelskizze, die Wirkungszusam-menhänge zwischen Größen visualisiert.

Abb. 4.7: Die „Newton-Maschine“, ein Teil der Wir-kungsgefüge der meisten Modelle in der Dynamik, hier in PAKMA/VisEdit-Darstellung

Vorhersage dem Modellablauf? Evtl. auftretende Diskrepanzen sind zu klären: Waren die eigenen Vorstellungen richtig, ist die Umsetzung in das Modell stimmig, wo wurden Aspekte wie die Rich-tungen von Kräften vergessen? Warum erwarte ich trotz eines sinnvollen Modells in einzelnen De-tails andere Ergebnisse oder andere Graphenverläufe? Dies sind Herausforderungen, denen sich die Lernenden stellen müssen und die die Lernprozesse weiterführen.

4.2.2 Zur didaktischen Funktion authentischer Probleme und Aufgaben

Eine Forderung, die zur Veränderung von Lernschwierigkeiten beim Lernen der Mechanik und ins-besondere der newtonschen Dynamik immer wieder erhoben wird, ist die Ausrichtung des Unter-richts auf die Alltagserfahrungen. Im Physikunterricht machen Schüler durch einzelne Experimente nur wenig Erfahrungen, um die neuen Erkenntnisse zu verstehen und längerfristig zu behalten. An-dererseits haben die Schüler gerade im Bereich Mechanik schon viele Vorerfahrungen zu den be-handelten Themen. Diese Alltagserfahrungen müssen aktiviert und mit den physikalischen Konzep-ten in Zusammenhang gebracht werden. Beziehungen zwischen Alltagserkenntnissen und Facher-kenntnissen müssen aufgedeckt bzw. hergestellt werden.

Häufig glauben Schüler, die physikalischen Erkenntnisse beziehen sich nur auf ideale Gedanken- und Laborwelten, mit denen man im Alltag nichts anfangen kann (Schecker, 1985, S. 166). Physi-kalische Aussagen und Gesetze sind demnach nur für Situationen unter Laborbedingungen gültig;

im Physikunterricht werden also andere Vorstellungen verwendet als im Alltag. Deswegen ist es wichtig, dass im Physikunterricht authentische Probleme behandelt werden. Dabei sollen die Schü-ler erfahren, dass das physikalische Wissen für die reale Welt relevant und in ihr anwendbar ist.

Dies wiederum kann auch für den Schüler motivierend sein. Die Schüler selbst fordern, dass sich der Physikunterricht stärker den Alltagsphänomenen zuwendet, für die sie sich interessieren. In ei-ner Befragung von 449 Schülern der Sekundarstufe II stimmten 91 % der Aussage zu, dass Physik die Aufgabe habe, die Phänomene systematisch zu untersuchen, denen wir im Alltag begegnen (Schecker, 1985, S. 160).

Authentische Aufgaben sind - vor allem in der Mechanik - meistens auch komplexe Aufgaben. Im traditionellen Physikunterricht kommen jedoch kaum komplexe Aufgaben vor. Verschiedene Phä-nomene und Gesetzmäßigkeiten, die in der realen Welt gleichzeitig auftreten, werden separiert und dann getrennt behandelt, wodurch es zu einer Kompartmentalisierung unterschiedlicher korrekter Konzepte kommen kann (Kapitel 2.1.4). Der Schüler lernt nur verschiedene Einzelfakten und The-men, ohne ein umfassendes Verständnis zu bekommen und einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Themen zu erkennen. Dies sollte durch den Einsatz komplexer Aufgaben reduziert wer-den können. Die Behandlung kann ferner helfen, die Tragfähigkeit physikalischer Konzepte zu se-hen. Hiermit wird nicht gefordert, nur noch komplexe Aufgaben zu verwenden, sondern auch Auf-gaben verschiedener Kompetenzstufen zu verwenden.

In den vergangenen 15 Jahren wurde wiederholt auf eine Überbetonung von Rechen- und Einsetz-aufgaben - vor allem in der Mechanik und hier wiederum in der Kinematik – hingewiesen (z.B.

Dittmann et al., 1988), aber daran hat sich bisher nur wenig geändert. Qualitative Zusammenhänge spielen im Unterricht im Vergleich zu quantitativen nur eine untergeordnete Rolle. Die Vorstellung,

dass es in Physik vor allem auf Formelkenntnis und Rechenfertigkeit ankommt, ist sehr verbreitet und beruht auf einer häufig anzutreffenden Schwerpunktsetzung im Unterricht (Schecker, 1985, S.

199). So kritisieren Lehrer an Schulbüchern am meisten, dass sie zu wenige Aufgaben enthalten (Merzyn, 1994, S. 110), obwohl die Anzahl der Aufgaben in Schulbüchern zugenommen haben (Dittmann et al., 1988, S. 389; Merzyn, 1994, S. 185). „Einsetzaufgaben“ sind hier aber wenig hilf-reich, da die Schüler nur eine Rechenroutine durchführen. Zwar können die Schüler durch Auswen-diglernen der Formeln und durch Trainieren der Einsetzaufgaben mit Hilfe einer Gegeben-Gesucht-Strategie, die HÄUßLER ET AL. (2000, S. 3) die Rückwärtssuche nennen, eine sichere Methode erlan-gen, um gute Noten zu erzielen, allerdings nur wenn diese Fähigkeiten des Formelkombinierens unangemessen gewichtet werden. Die Schüler lernen in einem solchen Physikunterricht letztlich nur, so zu reden, dass der Lehrer zufrieden ist (Aufschnaiter, Aufschnaiter, 2001, S. 414). Die Phy-sik wird damit aber kaum verstanden oder gar Vorstellungen verändert. Unter den Gymnasialleh-rern sind insbesondere die bayerischen am häufigsten der Meinung, das Rechnen von Übungsauf-gaben führe zu Physikverständnis (Merzyn, 1994, S. 187) und diese setzen das AufÜbungsauf-gabenlösen am häufigsten als Hausaufgabe ein (Merzyn, 1994, S. 97).

Als Folge der TIMS-Studie wird viel über eine neue Aufgabenkultur diskutiert (Schecker et al., 2001), z.B. im deutschen Verein zur Förderung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unter-richts (MNU, 2001, S. XI – XIV) oder in den bundesweiten BLK-Programmen „Sinus“ bzw. „Si-nus-Transfer“ (Bund-Länder-Kommission, 1997, S. 32 - 33). Dabei wird wieder betont, dass der Schwerpunkt im Physikunterricht auf dem qualitativen Verstehen liegen sollte und nicht auf dem Auswendiglernen von Fakten und Formeln. Dieser Gesichtspunkt ist zwar nicht neu, scheint aber immer wenig umgesetzt zu werden. Dabei empfinden Schüler die quantitative Beschreibung von Gesetzmäßigkeiten mit Formeln als wenig interessant (Häußler et al., 1998, S. 134). Von Seiten der Universität wird kritisiert, dass die Erstsemester-Studenten zu sehr auf die speziellen Bewegungs-funktionen fixiert sind, die bei komplexen Vorgängen aber nichts nützen. Ein solches auswendig gelerntes Wissen wird sehr schnell wieder vergessen. Wird dagegen das physikalische Konzept ver-standen und damit die Alltagsvorstellung geändert, kann dies langfristig Bestand haben. So wurde auch in einer bundesweiten Erhebung festgestellt, dass sich ein Physikunterricht, in dem das Entde-cken und Verstehen von Gesetzmäßigkeiten im Vordergrund steht, auf das theoretische Wissen günstiger auswirkte als andere Unterrichtskonzepte und diese Unterrichtsart einen fördernden Ein-fluss auf die spätere Interessenlage hat (Häußler et al., 1987, S. 327).

Authentische und komplexe Aufgaben in der Dynamik bedeuten Aufgaben, in denen mehrere Kräf-te gleichzeitig wirken und Reibung eine Rolle spielt. Denn bei fast allen Bewegungen in Natur und Technik spielen Reibungsvorgänge eine entscheidende Rolle. Im Physikunterricht wird aber in der Regel von Reibung abgesehen. Es werden vielfältige Idealisierungen vorgenommen, um „reine Phä-nomene“ zu erhalten, an denen sich einfache Begriffe, Prinzipien und Gesetze entwickeln lassen.

Sie dienen also der Theoriebildung. Dabei darf der Physikunterricht aber nicht stehen bleiben. Wie in der angewandten Physik und der Technik muss es auch im Physikunterricht um die Anwendung der Theorien an realen Einzelfällen gehen. D.h. es muss auch ausführlich diskutiert werden, wie die physikalischen Abläufe ohne die Idealisierungen ablaufen.

Das Lösen von komplexen Rechenaufgaben ist in der Schule jedoch kaum möglich. Hängt z.B. eine Kraft und damit die Beschleunigung von der Geschwindigkeit oder vom Ort ab, kann dies zu Diffe-rentialgleichungen führen, die nur schwer oder überhaupt nicht explizit lösbar sind, sondern ledig-lich numerisch mit Hilfe eines Computers. Eine gute Lösung bilden hier die Modellbildungssyste-me. „Physikalische Modellbildung ist die Beschreibung eines Phänomens durch Formulierung von Hypothesen über die Verknüpfungen einer begrenzten Anzahl von Modellgrößen“ (Schecker et al., 1989, S. 360). Es geht um Hypothesen über die Verknüpfung von Größen. Simulation ist die An-wendung bzw. der Ablauf eines Modells unter Setzung bestimmter Randbedingungen, was erst nach Erstellen des Modells im zweiten Schritt möglich ist. Somit stehen Modellbildung und Simulation in enger Wechselwirkung. Von größerer didaktischer Relevanz ist aber die Entwicklung des Mo-dells, nicht dessen Simulation. Natürlich werden auch hier noch Elementarisierungen vorgenom-men. Man kann aber schrittweise den Grad der Elementarisierung verringern, indem man zunächst vernachlässigte Effekte wie Reibung zusätzlich berücksichtigt.

Man kommt selbst bei sehr komplexen Phänomenen mit wenigen Grundbegriffen und Grundregeln der Mechanik aus. Im gängigen Physikunterricht stehen mehr spezielle Gleichungen im Mittel-punkt; bei der Behandlung gleichförmig beschleunigter Bewegungen z.B. die Bewegungsfunktio-nen x= 21at2 +vt+ x0 und v=at+v0. Bei Modellbildungssystemen bilden die grundlegenden Definitionen wie v = )x/)t und a = )v/)t und fundamentalen Gesetze wie aF/m die Grundlage.

„Eine große Anzahl von Phänomenen soll durch eine kleine Anzahl allgemeingültiger Gesetze und Regeln (‚power tools‘) erklärt werden“ (Bethge, 1992, S. 153). Beim Arbeiten mit Modellbildung werden statt einer Fülle spezieller Formeln für Einzelfälle die strukturellen Zusammenhänge betont;

nicht das quantitative Rechnen, sondern qualitative Zusammenhänge stehen im Vordergrund. Die-ses qualitative Durchdenken physikalischer Probleme kann durch das Arbeiten mit Modellbildungs-systemen gefördert werden.

Der bayerische Physiklehrplan für das achtjährige Gymnasium schreibt numerische Verfahren ex-plizit für reale Bewegungsabläufe vor. Das Thema „die Mechanik Newtons“ ist dabei eingebunden in das Jahrgangsstufenthema „physikalische Weltbilder“ (zehnte Jahrgangsstufe): von historischen Weltbildern über ein mechanistisches bis hin zu modernen Weltbildern, wie sie die Quantenphysik liefert. Gerade die Vorhersagbarkeit in einem mechanistischen Weltbild und die Reichweite des zweiten newtonschen Gesetzes kann mit Modellbildung verdeutlicht werden. Zurzeit werden die physikalischen Grundzusammenhänge im Unterricht allerdings noch durch eine Vielzahl spezieller Lösungen überdeckt.

Neben diesen beiden Aspekten „Betonung der physikalischen Struktur“ und „Einbeziehung kom-plexer authentischer Probleme“ weisen SANDER (2000, S. 47) und SANDER ET AL. (2001, S. 149) außerdem darauf hin, dass beim Einbeziehen von Modellbildung in das experimentelle Praktikum an der Universität eine wissenschaftliche Vorgehensweise gefördert wird, indem zwischen theoreti-scher und experimenteller Perspektive hin und her gewechselt wird. Dabei wird die Möglichkeit geschaffen, eigene Ideen eigenständig zu entfalten und zu verfolgen.