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2.2 Schülervorstellungen zur Mechanik

2.2.4 Zum Begriff „Kraft“

2.2.4.2 Schülervorstellungen vom Begriff „Kraft“

Eine Gliederung der Schülervorstellungen gestaltet sich recht schwierig, da verschiedene Vorstel-lungen eng vernetzt sind und - wie gezeigt - die Bedeutung des Begriffs nicht scharf abgegrenzt ist.

Die hier getroffene Gliederung orientiert sich vor allem an SCHECKER (1985, S. 270 – 320) und JUNG (1980a, S. 110 – 115). Da sich die beschriebenen Vorstellungen in den Arbeiten sehr vieler Autoren finden, wird auf weitere Quellenangaben weitgehend verzichtet.

Sich bewegende Körper haben Kraft:

Häufig wurde und wird bei Schülern die Vorstellung gefunden, dass ein sich in Bewegung befin-dender Körper eine Kraft besitzt, die man auch Wucht, Schwung oder innere Kraft nennen könnte.

Man spürt diese Kraft, wenn man z.B. von einem sich bewegenden Körper getroffen wird, wie ei-nem Fußball oder eiei-nem Auto. „Man erkennt diese Kraft einmal in seiner Eigenbewegung (Durch-setzung gegen Bewegungswiderstände) und zum anderen in der Beeinflussung anderer Körper beim Stoß“ (Schecker, 1985, S. 286). Beim Stoß wird aber nur die Kraft sichtbar, die der Körper schon davor in sich hatte. Diese Kraft ist eine Eigenschaft des bewegten Körpers und abhängig von der Masse und der Geschwindigkeit des Körpers. Er hat die Kraft beim In-Bewegung-Setzen erhalten und kann sie bei Gelegenheit abgeben. HERICKS spricht hier von der Kraft (bzw. Energie) in der Bewegung (Hericks, 1993, S. 131). Man könnte diesen Kraftbegriff annähernd mit dem physika-lischen Begriff „Energie“ oder auch „Impuls“ beschreiben. Diese Kraft ist nach Schülervor-stellungen proportional zur Gesamtwirkung bei einem Stoß, die z.B. an der Verformung eines Kör-pers zu sehen ist. Dabei spielt die Zeit der Einwirkung keine Rolle, sondern nur das Ergebnis. So hängt die Größe der Kraft z.B. auch von der erreichten Endgeschwindigkeit eines Beschleuni-gungsvorgangs ab, aber nicht vom Beschleunigungsvorgang selbst. Diese Kraft kann beim Stoß auch von einem Körper auf einen anderen übertragen werden („Kraftübertragung“). Man kann also sagen, dass hier eine Vermischung mit den Begriffen „Energie“ oder „Impuls“ vorliegt und Erfah-rungen mit Kraftstößen eine Rolle spielen.

Für eine konstante Geschwindigkeit ist eine konstante Antriebskraft nötig:

Ebenso weit verbreitet ist die Vorstellung, dass für eine Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit der Einfluss einer von außen wirkenden, konstanten Kraft in Bewegungsrichtung nötig ist, die man mit Triebkraft, Bewegungskraft oder Antriebskraft bezeichnen könnte. HERICKS spricht hier von der Kraft (bzw. Energie) zum Bewegen (Hericks, 1993, S. 131). Diese wirkende Kraft ist proportional zu der Geschwindigkeit des Körpers und eine Zu- oder Abnahme der Geschwindigkeit kommt von einer Zu- oder Abnahme der Kraft. Ist jedoch kein externer Beweger vorhanden, bewegt der Körper sich zwar noch weiter durch die innere Kraft, die er von der vorher wirkenden äußeren Kraft gespei-chert hat, wird aber immer langsamer und kommt zum Stillstand, weil er die gespeigespei-cherte Antriebs-kraft verbraucht. Diese Vorstellung hängt sehr eng mit der erstgenannten Vorstellung „Sich bewe-gende Körper haben Kraft“ zusammen. Ohne Antriebskräfte befindet sich ein Körper also in Ruhe oder kommt zur Ruhe. Diese Vorstellungen entsprechen unseren Erfahrungen in einer Welt, in der es stets Reibung gibt, und ohne Antrieb jede Bewegung zur Ruhe kommt. Wirken mehrere Kräfte auf einen Körper gleichzeitig ein, bewegt er sich je nach Vorstellung in Richtung der resultierenden oder in Richtung der stärksten Kraft.

Aktive Körper üben Kräfte aus, passive Körper leisten Widerstand:

Allgemein findet man bei Schülern die Tendenz, die Körper, die bei einem Vorgang beteiligt sind, in aktive und passive Körper einzuteilen. Nur den aktiven Körpern wird die Fähigkeit zugespro-chen, eine Kraft auszuüben, während ein passiver Körper keine Kraft ausüben kann, sondern ledig-lich aktive Kräfte oder Bewegungen hemmen kann. In einer engeren Vorstellung zählen nur belebte Körper als aktive, in einer weiteren Vorstellung auch solche, die sich in Bewegung befinden oder sich wie eine Feder in einem Spannungszustand befinden. Schließlich gehören auch magnetische Körper oder eventuell bei Fallvorgängen schwere Körper durch ihre Gewichtseigenschaft dazu.

Passive Körper sind dagegen solche, die sich nicht bewegen und sich in entspannten, stabilen Lagen befinden.

BAO ET AL. (2002) untersuchten bei Problemlöseaufgaben zum dritten newtonschen Gesetz, von welchen Merkmalen die Antworten von Studenten nach entsprechendem Unterricht abhängen: Zu einem großen Teil werden falsche Antworten gegeben gemäß den stabilen Vorstellungen „Der schwere Körper übt eine größere Kraft aus.“ und „Der schnellere Körper übt eine größere Kraft aus.“ Ebenfalls noch häufig, aber abhängig vom erhaltenen Unterricht zeigt sich die Vorstellung

„Der Aktive übt die größere Kraft aus.“, wobei hier aber auch die Erfahrung eine Rolle spielen kann, dass der Stoßende ebenso gestoßen wird.

OPITZ zeigt an dem Beispiel zweier unterschiedlich schwerer schwimmender Magnete, dass die Mehrheit (69 %) der Studienanfänger naturwissenschaftlicher und technischer Fachrichtungen (N = 81) die Bewegung, d.h. die Geschwindigkeit, richtig voraussagen können (schwerer Magnet ist langsamer). Dennoch geben 43 % dieser Studenten, die die richtigen Geschwindigkeiten angeben, falsche Kräfte im Sinne von „leichterer Magnet erfährt geringere Kraft“ an (Opitz, 1997, S. 209).

Das bedeutet, dass diese Schüler so antworten, als wäre nach der Beschleunigung der Körper statt nach der auf ihnen einwirkenden Kräfte gefragt. Insgesamt geben nur 31 % aller Studenten richtige Kräfte an.

Eng damit verbunden sind Vorstellungen von Absichten und Zielen. Aktive Kräfte dienen in Schü-lervorstellungen einem bestimmten Ziel, d.h. sie können mit einem bestimmten Ziel auf sich oder auf andere Körper einwirken. Passive Widerstände sind ohne Absicht nur Hemmnisse. Demnach sind Reibungskräfte immer nur Widerstände gegen Bewegungen, aber keine wirklichen Kräfte.

Beispielsweise wurden Schüler mit der Aussage konfrontiert, dass es beim Anfahren eines Autos die Straße ist, die die beschleunigende Kraft ausübt, was von den Schülern entschieden als völlig absurd abgelehnt wurde: Die Straße, die einfach nur so daliege (passiv, absichtslos), könne doch keine Kraft ausüben und kein Auto beschleunigen (aktiv, zielgerichtet) (Jung, Wiesner, 1980, S.

117, und Engelhardt, Wiesner, 1983, S. 18, und Schecker, 1985, S. 195). Ebenso gilt für die Schü-ler, dass ein Sprinter sich selbst durch seine eigene Kraft vom Startblock abstoßen kann, während der Startblock keine Kraft ausübt, sondern als Widerstand ein Wegrutschen des Fußes verhindert (Schecker, 1985, S. 310). „Ein Tisch übt auf ein auf ihm liegendes Buch keine Kraft aus. Er verhin-dert lediglich als Hemmnis, dass das Buch auf den Boden fällt“ (Schecker, 1985, S. 311).

Bei diesen Aussagen merkt man schon, dass das 3. newtonsche Axiom überhaupt nicht verstanden wird. Die Formulierungen „actio gleich reactio“ bzw. „Kraft gleich Gegenkraft“ verleiten allerdings auch zu der beschriebenen Einteilung in eine aktive Ursache und in eine passive Wirkung. In der newtonschen Sichtweise sind jedoch beides völlig gleichberechtigte Kräfte. Das 3. Axiom wird von den Schülern meistens so verstanden, dass beide Kräfte am gleichen Körper angreifen. „Die 'Ge-genkraft' wird von einem Körper als passiver Widerstand gegen eine von außen einwirkende Kraft mobilisiert“ (Schecker, 1985, S. 311). Wirkt also auf einen ruhenden Körper eine äußere Kraft ein, bewirkt seine Gegenkraft, dass er sich nicht oder nur allmählich in Bewegung setzen lässt. „Eine Beeinflussung des in Wechselwirkung stehenden Körpers wird aus drei Gründen oft nicht ins Auge gefasst:

- Die Gegenkraft ist die Reaktion eines passiven Körpers.

- Sie hat nicht das 'Ziel', den anderen Körper zu beeinflussen.

- Die Bewegungsrichtung des in Gang gesetzten Körpers ist entgegengesetzt zu der Richtung, in der er die Kraft ausüben müßte“ (Schecker, 1985, S. 311).

Bei den beschriebenen Vorstellungen spielen auch Überwindungsvorstellungen eine entscheidende Rolle. Damit ein Körper beschleunigt wird, muss für manche Schüler die von außen wirkende Kraft größer sein als die Gegenkraft bzw. größer als die Trägheit des Körpers, die als Gegenkraft be-zeichnet wird. Aber „der ganze Vorgang wird nicht unter dem Aspekt von Größen auf einer einheit-lichen Dimension gesehen“ (Jung, 1980a, S. 112 - 113), denn die Trägheit bzw. die Gegenkraft sind in der Schülervorstellung keine Kräfte. Ist die äußere Kraft nicht groß genug, bewegt sich nach die-ser Vorstellung der Körper nicht; das bedeutet, dass hier eine Schwellenvorstellung vorliegt.

Insgesamt kann man sagen, dass viele Aspekte der Schülervorstellungen zum Begriff „Kraft“ stark an Aspekte der Aristotelischen Bewegungslehre bzw. ihrer scholastischen Interpretation oder mehr noch an Aspekte der Impetustheorie erinnern. Hier sei nochmals erwähnt, dass diese Vorstellungen

„relativ geschlossene und widerspruchsarme Strukturen [haben], die diesen Aussagen eine erstaun-liche Leistungsfähigkeit und Beständigkeit verleihen“ (Weber, 1989, S. 22).

Absolute Zahlenwerte:

Die Untersuchungen in den Kapiteln 6.5.1.2, 6.5.2.1 und 6.5.2.2 und zeigen, wie viele bzw. wie wenige Schüler vor und nach dem Mechanikunterricht der Oberstufe des Gymnasiums in typischen Testaufgaben entsprechend dem newtonschen Konzept antworten bzw. entsprechend den beschrie-benen Alltagsvorstellungen antworten. Bei den sehr unterschiedlichen qualitativen Multiple-Choice-Denkaufgaben des FCI-Tests, bei denen als Alternativen typische Alltagsvorstellungen be-schrieben werden, antworten nach der Mittelstufe (nach der S I) 28 % der Schüler richtig im physi-kalischen Sinn (siehe Kapitel 6.5.1.2). Durch einen geringen mittleren relativen Zugewinn von nur 18 % geben nach dem Mechanikunterricht der Oberstufe (S II) 41 % eine korrekte Antwort.

Wenn die Schüler zu beschriebenen eindimensionalen Bewegungen die passende Kraft FG aG

~ - beschrieben in Textform - auswählen sollten, wird dies nach der Mittelstufe (nach der Sekundarstu-fe I) im Durchschnitt nur von ca. ein Siebtel der Schüler richtig gelöst (siehe Kapitel 6.5.2.1). Im traditionellen bayerischen Unterricht der elften Jahrgangsstufe gibt es hierbei einen geringen relati-ven Zugewinn (bezogen auf den möglichen Zugewinn) von ca. 20 %, so dass nach diesem Unter-richt ein Drittel der Schüler diese einfachen Aufgaben Unter-richtig lösen. Antworten, bei denen eine der Geschwindigkeit entsprechende Kraft angegeben wird, werden dagegen nach der Mittelstufe von ca. zwei Dritteln der Schüler gegeben. Dieser Anteil nimmt durch den Unterricht auf die Hälfte der Schüler ab, die restlichen Schüler geben diverse andere Antworten.

Werden dagegen die möglichen Antworten stattdessen als Zeit-Kraftgraphen vorgegeben, werden die quasi gleichen Aufgaben nach der Mittelstufe von unter ein Zehntel der Schüler im newtonschen Sinne FG aG

~ beantwortet (siehe Kapitel 6.5.2.2). Durch den Unterricht steigt dieser Anteil auf nur ca. zwei Zehntel an (relativer Zugewinn: ca. 15 %). Der Anteil von Antworten, bei denen eine zur Geschwindigkeit proportionale Kraft FG vG

~ angegeben wird, ist nach der Mittelstufe bei ca. 69 % und fällt durch den Unterricht nur auf 65 % ab. Die Kombination von „Kraftrichtung ermitteln“ und

„Graphen interpretieren“ ist wohl deutlich schwerer als jede dieser Aufgaben allein.