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Zu den altorientalischen und griechisch-römischen Quellen

Hauptteil IV: Vertiefender Überblick, Ausblick und Rückblick 22 Zusammenfassende Vertiefung am Beispiel mythischer Figuren 23 Ergebnisse im Überblick

24 Ein Ausblick und ein Rückblick

1.2 Zu den altorientalischen und griechisch-römischen Quellen

Daß in diesem Buch vor allem textliche Quellen behandelt werden, hängt unter anderem damit zusammen, daß Texte unter den verschiedenen medialen Kon-kretionsformen mythischer Stoffe die mit Abstand differenziertesten und präzi-sesten Quellen darstellen8. Eine transmediale Stoffwissenschaft, welche die Grundlagen schaffen kann, auch ikonographische und andere Quellen mit in die Mythosforschung einzubeziehen, gilt es in Grundzügen erst zu entwickeln; Mög-lichkeiten und Wege einer solchen transmedialen Mythosforschung werden theo-retisch ausgearbeitet und aufgezeigt, können aber aus Platzgründen nicht an praktischen Beispielen so ausgeführt werden, wie der Gegenstand es erfordern würde. Eine solche Ausweitung muß weiteren Arbeiten vorbehalten bleiben.

Daß hinsichtlich der textlichen Quellen hauptsächlich solche aus den grie-chisch-römischen und altorientalischen Kulturen im Zentrum stehen werden, hängt nicht nur damit zusammen, daß der Autor hier heimisch ist. Was die grie-chisch-römischen Mythen anbelangt, so ist diese Auswahl vor allem dadurch be-dingt, daß sie in einer außergewöhnlichen Fülle und Breite an Stoffvarianten er-halten sind, daß sie wissenschaftsgeschichtlich betrachtet oft als Ausgangs-punkte für Arbeiten im Bereich der Mythosforschung dienten, auch heute noch immer wieder im Fokus stehen und rezeptionsgeschichtlich betrachtet eine so außerordentlich prägende Rolle gespielt haben9. Altorientalische Mythen wie-derum gehören zu den ältesten überhaupt überlieferten mythischen Stoffen, in denen noch vieles unerforscht und unerklärt ist, so daß sie als Studienobjekte ein

|| 8 S. dazu Kapitel 2.2.

9 Was Mythen sind und was sie leisten können, ist oft vorwiegend am griechischen Material untersucht worden; von hier kommt das Wort „Mythos“ (zur Wortbedeutungsgeschichte s. v. a.

Nesselrath, 1999; vgl. auch Scheer, 1993, 22-24; Powell, 2009, 1-14; Reinhardt, 2011, 13-15; ebd.

13, Anm. 6 weitere Literaturhinweise), von hier wurde die Mythosforschung bis heute wesentlich geprägt (vgl. Puhvel, 1987, 126; Mohn, 1998, 109, mit Anm. 3; Jamme, 1999, 150; Horstmann, 2013; Rüpke, 2013).

faszinierendes und lohnendes Pendant zu den vielfältig bearbeiteten („klassi-schen“) griechisch-römischen Mythen darstellen10. Theorie und Methodik, die hier vorgestellt werden, lassen sich aber auch für andere Mythen aus anderen Zeiten und Kulturen fruchtbar machen.

Es lohnt sich, noch etwas näher darauf einzugehen, warum hier der Vorstoß unternommen wird, neben griechisch-römischen auch altorientalische Mythen verstärkt mit in die Untersuchung einzubeziehen. Traditionell und bis heute nimmt die Mythosforschung in nicht unerheblichem Ausmaß vor allem auf grie-chisch-römische Quellen Bezug, und dort vornehmlich auf herausragende Werke aus den Gattungen Epos und Tragödie. Es ist das Verdienst der Ethnologie, ver-mehrt auch spätere Mythologien anderer Völker und Kulturen in die Mythosfor-schung einbezogen zu haben. Ein Manko ist allerdings nach wie vor die nur zö-gerlich einsetzende Rezeption und Erforschung mythischer Stoffe, die noch älter sind als die griechisch-römischen. Erst allmählich gelangt der Umstand in das Bewußtsein der wissenschaftlichen und erst recht einer breiteren Öffentlichkeit, daß aus dem Bereich der altorientalischen Kulturen mittlerweile mindestens ebenso wertvolle Schätze geborgen werden konnten wie das aufsehenerregende

„Gold der Pharaonen“, nämlich neben unzähligen Dokumenten über das tägliche Leben und seine politischen, wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Abläufe auch literarische Texte in einem beträchtlichen Umfang, in denen wiederum zahlreiche mythische Stoffe verarbeitet sind. Während man in Bezug auf Ägypten konstatieren muß, daß die Überlieferungslage mythischer Stoffe rein quantitativ

|| 10 Hat man früher bei dem Ausdruck „klassische Mythologie“ v. a. an die griechischen (evtl.

noch römischen) Stoffe gedacht (vgl. bspw. noch das Handbuch Classical Mythology von Mor-ford/ Lenardon/ Sham, 2011), so ist mittlerweile auch schon die Gesamtheit „der lateinischen und griechischen sowie orientalischen Quellen“ als „klassische Mythologie“ bezeichnet worden (Powell, 2009, IX). Das Label „klassisch“ ist aber eher unscharf und von daher entbehrlich; so bezieht sich bspw. in dem erwähnten Handbuch von Morford/ Lenardon/ Sham, 2011, das Ad-jektiv „klassisch“ einerseits, wie die thematische Aufteilung erkennen läßt, speziell auf griechi-sche und römigriechi-sche mythigriechi-sche Stoffe, andererseits aber wird „klassisch“ i. S. v. „rezeptionsge-schichtlich außerordentlich bedeutsam“ (und damit „inextricably woven into the very fabric of our culture“) gebraucht, wenn die Definition gegeben wird: „A classical myth is a story that, through its classical form (gemeint ist damit eine besonders gelungene literarische Bearbeitung des mythischen Stoffes), has attained a kind of immortality because its inherent archetypal beauty, profundity, and power have inspired rewarding renewal and transformation by successive generations“ (ebd. 25). Etwas weniger problematisch scheint es, von „antiken Mythen“ zu reden;

zu einer ungefähren Abgrenzung des Feldes „antiker Mythen“ in einem weiteren, nicht nur auf die griechisch-römische Antike begrenzten Sinn s. Reinhardt, 2011, 24.

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betrachtet eher unbefriedigend und eine verläßliche Rekonstruktion selbst zen-traler Stoffe wie des Isis-Osiris-Mythos sich als reichlich kompliziert erweist11, be-sitzen wir aus den altorientalischen Kulturen mittlerweile etliche, nach langjäh-riger Grundlagenarbeit inzwischen auch philologisch hinreichend erschlossene Texte, die eine ganze Bandbreite mythischer Stoffe behandeln12.

Anders als im Fall der griechisch-römischen Literatur sind die altorientali-schen Texte ohne eine verwickelte Überlieferungsgeschichte auf uns gekommen.

Während nur in sehr seltenen Fällen griechische oder römische Texte im Original oder sogar als Autographen vorliegen, die Tradierung meist über mehrere Zwi-schenschritte erfolgt und die ältesten erreichbaren Abschriften oft nur bis ins Mit-telalter zurückreichen, liegen die keilschriftlichen Quellen, obwohl meistenteils sogar noch deutlich früher abgefaßt als das Gros der griechisch-römischen Lite-ratur, im antiken Original vor. Vielfach ist sogar noch der originäre Fundkontext bekannt. Somit stellen die altorientalischen Texte einen außerordentlich wertvol-len Fundus dar; hier findet sich die größte Anzahl von den ältesten verschrifteten Mythen der Menschheit in teilweise rekonstruierbaren, originären Kontexten, während man es angesichts der Überlieferung von griechisch-römischen Mythen nicht nur textgeschichtlich, sondern auch rezeptionsgeschichtlich oft mit der Re-zeption der ReRe-zeption zu tun hat13. Eine Mythosforschung, die hauptsächlich auf die unter so speziellen Umständen überlieferte griechisch-römische Mythologie fokussiert ist, erhält durch eine Ausweitung des Blicks auf den Alten Orient die Chance, daß eine möglicherweise verzerrte, weil zu einseitig fixierte Sichtweise auf das, was Mythen sind und leisten, korrigiert werden kann.

Eine spezifische Herausforderung bei der Erforschung der altorientalischen Mythen liegt allerdings darin, daß man für ihre Erschließung im Vergleich etwa zur griechisch-römischen Kultur über weit weniger Zusatzmaterialien wie Scho-lien, Handbücher oder gelehrte mythologische Abhandlungen verfügt, und daß die Anzahl und Bandbreite an literarischen Verarbeitungen deutlich geringer ist.

So bleibt man bei der Erforschung und Deutung eines mythischen Stoffes aus dem Alten Orient möglicherweise häufiger als bei griechisch-römischen Mythen

|| 11 Zum Einstieg in ägyptische Mythen (und andere Erzählungen) s. bspw. die Anthologien von Roeder, 1960; Blumenthal et al., 1995; vgl. auch Lichtheim, 1973-1980.

12 Einen ersten Zugang bieten bspw. folgende Anthologien: Römer, 1993; Hecker et al., 1994;

Dietrich/ Loretz, 1997; Hallo, 1997-2003; Foster, 2005; Dalley, 2008; Franke, 2013; López-Ruiz, 2014; Volk, 2015; Janowski/ Schwemer, 2015. Vgl. auch die Internet-Plattformen The Electronic Text Corpus of Sumerian Literature (ETCSL) und Sources of Early Akkadian Literature (SEAL).

13 Vgl. Jamme, 1999, 32: „Der griechische Mythos, wie wir ihn kennen, ist selbst schon das Zeug-nis einer Brechung, ist schon Auslegung, Reflexion … Er ist spätzeitlich und nicht archaisch-früh.“

auf Vermutungen angewiesen, weil sich nur Andeutungen und Anspielungen auf einen solchen Stoff erhalten haben, der ansonsten aber bislang nicht belegt und daher auch nicht mehr oder nur noch annähernd rekonstruiert werden kann.

Schwieriger wird es auch dadurch, daß die Textcorpora schmaler sind und Mehr-fachbezeugungen eines mythischen Stoffes eher seltener sind, so daß als Quel-lenbasis teilweise nur wenige und oft dazu noch lückenhafte oder schadhafte Textzeugen in Frage kommen; manchmal ist auch nur ein einziger Textzeuge er-halten. Dennoch sind manche mythischen Stoffe durchaus mehrfach belegt und werden zum Teil auch ausführlicher erzählt, wie etwa die sumerisch und akka-disch überlieferten Mythen über Gilgameš oder der Mythos vom Abstieg der Göt-tin Innana ins Totenreich, oder der akkadisch bezeugte Mythos von Nergal und Ereškigal, und es gibt schon früh komplexe Texte, in denen mehrere mythische Stoffe miteinander verwoben werden wie etwa im sumerischen Text Gilgameš, Enkidu und die Unterwelt und dann später natürlich im akkadischen Gilgameš-Epos.

In Mesopotamien wurden Mythen weit über die Zeiten sumerischer Stadt-staaten hinaus eher in sumerischer als in akkadischer Sprache (bzw. in den ak-kadischen Dialekten Babylonisch und Assyrisch) niedergeschrieben. So machen die sumerisch überlieferten Mythen rein zahlenmäßig den größten Anteil, grob geschätzt etwa zwei Drittel der mesopotamischen Mythen-Überlieferung aus.

Speziell im Hinblick auf die sumerischen Texte sieht man sich vor besondere Her-ausforderungen gestellt, weil die Erforschung der sumerischen Sprache noch nicht als abgeschlossen gelten kann, so daß beim Übersetzen teilweise noch Grundlagenarbeit geleistet werden muß. Zudem sind manche v. a. hymnischen und epischen Texte literarisch so komplex, daß die Rekonstruktion der darin ge-wissermaßen versteckten oder nur andeutungsweise erwähnten mythischen Stoffe sich oft als außerordentlich diffizil erweist. Das ist freilich auch bei den literarisch anspruchsvollen Texten aus der griechisch-römischen Literatur eine nicht einfache Aufgabe, aber die Arbeit, die antike Handbuchschreiber und Stoff-sammler für die griechische Mythologie bereits im Wesentlichen erledigt haben, die Sammlung verschiedener Varianten eines mythischen Stoffes und die Präsen-tation einer Stoffvariante in einer auf die natürliche chronologische Reihenfolge gebrachten, literarisch weitgehend anspruchslosen Form, stellt für den moder-nen Forscher eine Erleichterung dar, die es in dieser Art und in diesem Umfang für den Alten Orient nicht gibt.

Es ist nun aber nicht nur der Umstand, daß im Bereich der Sumerologie so-wohl die Grundlagenforschung als naturgemäß auch die darauf aufbauende, in-terpretative Erschließung der Texte teilweise noch stark im Fluß war, der dazu

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geführt hat, daß speziell sumerische Texte bislang eher nur marginal in eine ver-gleichende Mythosforschung einbezogen werden14, sondern auch die Fremdheit der sumerischen Kultur. Dabei können Vergleiche etwa zwischen griechischen und sumerischen Mythen unter einer speziell typologischen Perspektive beson-ders interessant und vielversprechend sein, weil gerade die sumerischen Stadt-staaten unter historisch-politischen Gesichtspunkten in besonderer Nähe zu den griechischen Stadtstaaten stehen, viel mehr jedenfalls als die späteren babyloni-schen und assyribabyloni-schen Großreiche.

Zu einer Vernachlässigung sumerischer Quellen dürfte schließlich aber vor allem der Umstand geführt haben und noch führen, daß man sich durch das hohe Alter mancher sumerischer Textzeugen täuschen und zu der Annahme verleiten läßt, sie kämen aufgrund der teilweise großen zeitlichen Distanz als wirkungs-starke Prätexte nicht wirklich in Betracht. Eine solche Annahme steht jedoch auf schwachen Füßen. Denn was die rein zeitliche Dimension betrifft, so sind viele sumerische Mythen bis ins 1. Jahrtausend v. Chr. tradiert worden und ermögli-chen daher auch direkte synchrone Vergleichsmöglichkeiten mit Mythen anderer antiker Kulturen wie etwa der griechischen15. Darüber hinaus verfängt das Argu-ment, daß sumerische Texte für einen interkulturellen Vergleich schon allein deswegen weniger in Frage kommen, weil manche von ihnen Jahrhunderte frü-her anzusetzen sind und deshalb von dem Beginn griechiscfrü-her Literatur und Kul-tur durch einen beträchtlichen zeitlichen Abstand getrennt sind, schon allein deshalb nicht, weil es sich bei der sumerisch-akkadischen ähnlich wie bei der

|| 14 Dieses Defizit weisen fast alle bis dato erschienenen Abhandlungen und

Quellensammlun-gen auf, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Texte aus den altorientalischen Kulturen ver-stärkt in komparatistische Untersuchungen einzubeziehen, denn es sind gerade die in sumeri-schen Texten überlieferten Mythen, die in solchen Büchern oft fehlen oder nur marginal und wenn, dann in meist überholten Übersetzungen zitiert werden. Selbst Studien mit einem weite-ren Horizont wie Kirk, 1970, West, 1997, oder Burkert, 2003, nehmen aus dem antiken Mesopo-tamien fast ausschließlich akkadische Quellen auf und können auf sumerische Quellen nur am Rande verweisen, wobei die Übersetzungen inzwischen teilweise vom Forschungsstand über-holt sind. Was Quellensammlungen angeht, so wurde etwa in das umfangreiche Sourcebook of Greek, Roman, and Near Eastern Myths in Translation von López-Ruiz (2014, 609 Seiten) nur ein einziger, zudem als „Legende“ und nicht als „Mythos“ gekennzeichneter und auch nur 2 Seiten langer sumerischer Text aufgenommen, die Sargonlegende in der Übersetzung der Internet-Platt-form The Electronic Text Corpus of Sumerian Literature (ETCSL). Eine Ausnahme stellen zwei Bände aus der Reihe Texte aus der Umwelt des Alten Testaments (TUAT) dar, nämlich Römer, 1993 (TUAT Bd. III/3) und der in der „Neuen Folge“ 2015 erschienene Bd. 8 (Janowski/ Schwemer, 2015), in denen allerdings keine griechisch-römischen Quellen zu finden sind.

15 Vgl. etwa die Mythen von Ninurta und den Steinen, von Enlil und Ninlil oder von Innanas bzw. Ištars Gang ins Totenreich (sumerisch und akkadisch bezeugte Stoffvarianten).

griechisch-römischen um eine Doppelkultur handelt, in der sich die jüngere ohne die ältere nicht verstehen läßt. Das Sumerische hat als literarisch-religiöse Presti-gesprache im Alten Orient die Kultur im Allgemeinen und die mythische Überlie-ferung im Besonderen maßgeblich geprägt, und zwar weit über die Zeit aktiver Sprecher hinaus. Kein Latinist dürfte die homerischen Epen für die Interpretation von Vergils Aeneis ausschließen, nur weil sie rund 750 Jahre früher entstanden sind. Ähnlich verhält es sich etwa mit dem akkadischen Gilgameš-Epos und den in sumerischer Sprache überlieferten Gilgameš-Mythen; gerade bei einer Inter-pretation der um Gilgameš kreisenden Mythen läßt sich die historische Tiefe nicht ohne essentielle Verluste ausblenden. Unter Einbeziehung sumerischer, aber natürlich auch akkadischer oder weiterer altorientalischer (wie bspw. hethi-tischer oder ugarihethi-tischer) Quellen kann eine vergleichende Mythosforschung für die Aufarbeitung des komplexen Problemfeldes der Kulturkontakte zwischen dem Alten Orient und Griechenland einen substantiellen Beitrag liefern, an deren Vorhandensein aufgrund etlicher Untersuchungen kaum mehr Zweifel bestehen können16, deren Art, Umfang und Verlauf im Einzelnen jedoch noch einiger Auf-hellungen bedürfen.

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