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Innerstoffliche und interstoffliche Stoffvarianten-Vergleiche

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 193-197)

Voraussetzung und Fundament einer transmedialen und komparatistischen Hylistik

9.2.2 Innerstoffliche und interstoffliche Stoffvarianten-Vergleiche

Während all diese vorrangigen Gegenstandsbereiche der Intermedialitätsfor-schung (Medienwechsel, Medienkombinationen, intra- und intermediale Be-züge) sich gewissermaßen auf Vorgänge beziehen, bezeichnet der vergleichs-weise seltener im Zentrum des Interesses stehende Begriff der Transmedialität eher eine Eigenschaft, nämlich die Eigenschaft von Inhalten, nicht a priori auf bestimmte Medien und Medienarten festgelegt zu sein15. In diesem Sinn werden die Bezeichnungen „transmedial“ bzw. „Transmedialität“, bezogen auf Erzähl-stoffe, auch in der vorliegenden Arbeit verwendet.

Eine auf bestimmte mediale oder einzelsprachliche Konkretionen nicht fest-gelegte, in sich abgeschlossene Sequenz verschiedener, aufeinander bezogener Hyleme gilt es aus den jeweiligen medialen Konkretionen zu rekonstruieren und in ihrem ordo naturalis darzustellen. Dabei ist zu beachten, daß die Hylemana-lyse einer Stoffvariante formalisiert erfolgt und alle kleinsten handlungstragen-den Einheiten zu erfassen sucht; die Hylemanalyse muß von einer nach ästheti-schen, semantischen oder funktionalen Kriterien geleiteten Vorauswahl be-stimmter Stoffbausteine unabhängig vorgenommen werden16.

Durch die Auffassung von Stoffvarianten als Hylemsequenzen wird es mög-lich, eine Stoffvariante – unter der Voraussetzung, daß sie in ihrer inhaltlichen Struktur gleichbleibt – auf ein und dieselbe Hylemsequenz zurückzuführen, auch wenn sie medial in unterschiedlichsten Formenwie etwa durch Pantomime, Filmszenen, Comics, Reliefs, Statuengruppen, Texte in verschiedenen Sprachen etc. dargeboten wird.

9.2.2 Innerstoffliche und interstoffliche Stoffvarianten-Vergleiche

Transmediale Stoff-Analysen haben insofern bereits eine komparatistische Kom-ponente, als sie ermöglichen, medienvergleichend vorzugehen: verschiedene

|| 15 Vgl. zur Definition von Transmedialität Rajewsky, 2002, 12 f: „Phänomene, die man als me-dienunspezifische ‘Wanderphänomene’ bezeichnen könnte, wie z. B. das Auftreten desselben Stoffes oder die Umsetzung einer bestimmten Ästhetik bzw. eines bestimmten Diskurstyps in verschiedenen Medien, ohne daß hierbei die Annahme eines kontaktgebenden Ursprungsmedi-ums wichtig oder möglich ist oder für die Bedeutungskonstitution des jeweiligen Medienpro-dukts relevant würde.“ Vgl. ähnlich und in Anlehung an Rajewsky auch Fraas/ Barczok, 2006, 134-137; Zemanek, 2012, 168; auf der theoretischen Grundlegung von Rajewsky baut auch die Einführung in eine „transmediale Erzähltheorie“ von Mahne (2007) auf.

16 Zur Mythemanalyse bei Lévi-Strauss, zur Untersuchung einzelner „Funktionen“ bei Propp (und Barthes) und zum literaturwissenschaftlichen Motivbegriff s. ausführlich die Kapitel 5.1 und 5.2.

mediale Ausgestaltungen einer Stoffvariante können nun nebeneinandergestellt werden. Noch einen Schritt weiter aber gehen stoffvergleichende Analysen. Hier gilt es nicht nur, die Hylemsequenz einer Stoffvariante, sondern die Hylemse-quenzen von verschiedenen Varianten ein und desselben Stoffes oder unter-schiedlicher Stoffe, sowohl kulturintern wie kulturenübergreifend, aus ihren ggf.

verschiedenen medialen Konkretionsformen zu extrahieren und die Stoffverläufe zu rekonstruieren, um sie dann miteinander zu vergleichen.

Wieder bleibt die Hylemanalyse das grundlegende Arbeitsinstrument, aber es kommt nun ein weiterer, wichtiger Punkt hinzu:

→ Um eine Einheitlichkeit zu erreichen, auf der aufbauend verschiedene Hylemsequenzen erst sinnvoll miteinander verglichen werden können, muß grundsätzlich sowohl die logische Grundstruktur von Hylemen als auch die sprachliche Form, in die man sie kleidet, standardisiert werden, da erst standardisierte Strukturen und Formen eine hinreichend einheit-liche Grundlage für Vergleiche bieten.

Um ein Beispiel aus dem Bereich textlicher Konkretionen mythischer Stoffe an-zuführen: Ob man von der deutschen, passivischen sprachlichen Formulierung

„Medeias Kinder werden von ihrer Mutter getötet“ oder von der aktivischen Wen-dung Medea natos suos interfecit im Lateinischen oder von einer z. B. im Rahmen einer Ergativsprache wie dem Sumerischen wiederum anderen grammatischen (mit Absolutiv und Ergativ) und sprachlichen Formung der Aussage ausgeht, ob diese kleinste handlungstragende Einheit nun rückblickend als bereits gesche-hen oder im Tempus der Gegenwart oder im Modus eines Wunsches erzählt wird („o hätte Medeia doch damals ihre Kinder nicht getötet!“), ob sie einem allwis-senden Erzähler in den Mund gelegt wird oder von einer literarischen, am Ge-schehen unmittelbar beteiligten Figur vorgetragen wird, in all diesen und noch weiteren Fällen unterschiedlichster erzählerischer Gestaltungen läßt sich die lo-gische Grundstruktur des vorliegenden Hylems bestimmen als die Verbindung eines Handlungsträgers mit einem Handlungsobjekt durch eine vom Handlungs-träger Medeia ausgehende und ihre in Objekt-Funktion stehenden Kinder betref-fende Handlung („töten“), und diese logische Relation kann wiederum standar-disiert durch die Struktur (logisches) Subjekt – (logisches) Prädikat – (logisches) Objekt („Medeia tötet ihre Kinder“) zum Ausdruck gebracht werden.

Hylemanalyse als Fundament einer transmedialen und komparatistischen Hylistik | 171

Aufgrund dieser Überlegungen kann jede kleinste handlungstragende Ein-heit aller in unterschiedlichen medialen Konkretionsformen vorliegenden Stoff-varianten von Mythen aus allen Sprachen und Kulturen formal folgendermaßen standardisiert dargestellt werden17:

(jeweils logisches) Subjekt + Prädikat (+ ggf. Objekt)

Was die Wiedergabe des Prädikats angeht, so legt sich eine präsentische Aktiv-Form als Standardform nahe18. Neben einer Analyse von verschiedenen Konkre-tionen mythischer Stoffe bzw. ihrer Varianten auf ihre Hylemsequenzen hin ist die Rückführung der Mannigfaltigkeit unterschiedlicher Ausdrucksformen stoff-licher Gestaltungen auf die logisch standardisierte Grundstruktur von Hylemen und die Wiedergabe der solchermaßen gebildeten Hyleme in einer wiederum sprachlich standardisierten Form eine wichtige, ja unerläßliche Voraussetzung und Grundlage für die im Rahmen einer komparatistischen Hylistik angestrebten Stoffvarianten-Vergleiche.

Auch wenn die auf den ersten Blick einfache logische Grundstruktur von Hylemen suggerieren mag, es könne die Extraktion von Hylemen aus einer kon-kreten Stoffvariante und ihre Darstellung in einer sprachlich standardisierten Form so schwer nicht sein, so darf die scheinbare Schlichtheit der Hylemstruktur doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Arbeit an konkreten Stoffvarianten etliche Herausforderungen mit sich bringen kann19. Dies gilt schon in Bezug auf textliche Quellen, erst recht aber in Hinsicht auf Quellen, die mythische Stoffva-rianten nicht oder zumindest nicht hauptsächlich durch das Medium der Spra-che, sondern mit Hilfe anderer medialer Ausdrucksformen zur Darstellung brin-gen. Welches Hylem steckt oder welche Hyleme oder Hylemelemente stecken in

|| 17 Nicht-singularische Numeri (wie Dual oder Plural) sind jeweils als Möglichkeit mitzudenken.

Zu einer notwendigen Erweiterung dieses Schemas s. das folgende Kapitel 9.3.

18 Bei Passiv-Konstruktionen ist das Subjekt, soweit möglich, aus dem Kontext zu ergänzen.

Aus dem Satz „Medeias Kinder wurden getötet (sc. von Medeia)“ läßt sich standardisiert das Hylem „Medeia tötet ihre Kinder“ bilden. In mythischen Stoffen bleiben Subjekte (oft Götter) in literarischen Konkretionen oft ungenannt bzw. in Passiv-Konstruktionen „versteckt“, obwohl oder gerade weil ihre Kenntnis als selbstverständlich vorausgesetzt wird (nicht aus Furcht, den Gottesnamen auszusprechen, wie dies im Neuen Testament in der Regel für das sog. passivum divinum vorausgesetzt wird; kritisch zur Konzeption und Eindeutigkeit des passivum divinum Smit/ Renssen, 2014).

19 S. dazu bereits die Ausführungen in Kapitel 6.3.

einem Mosaik, in einem Relief, in einer Statuengruppe, in einem Gemälde oder in bestimmten Bewegungen eines Tänzers, der einen mythischen Stoff vortanzt20? Es ist ebenso offensichtlich, vor wie viele Probleme im Allgemeinen und Be-sonderen man sich in diesen Fällen gestellt sieht, wie es unmöglich ist, im Rah-men dieser Skizzierung einer komparatistischen Hylistik bereits umfassende oder gar medienspezifische Lösungen anzubieten oder bereits unternommene Vorstöße im Detail zu diskutieren21. Wichtig ist in vorliegendem Zusammenhang vor allem die Feststellung der prinzipiellen Möglichkeit, transmediale Hylemana-lysen so durchzuführen, daß die jeweils extrahierten und rekonstruierten Stoffse-quenzen auf einen gemeinsamen und damit für ein vergleichendes Arbeiten ge-eigneten Nenner gebracht werden können. Auch wenn es unbestreitbar in manchen Fällen schwierig und kompliziert sein wird, gerade bei mythischen Stoffkonkretionen, die nicht durch das Medium der Sprache dargestellt sind, ist die – durchaus reizvolle – Aufgabe, aus diesen Konkretionen Hyleme oder Hy-lemelemente22 zu extrahieren und sprachlich vermittelbar zu machen, und zwar unter Berücksichtigung der durch die jeweilige mediale Gestaltung bedingten Be-sonderheiten und Gesetzmäßigkeiten der Darstellung, eine Herausforderung, die mit einer begründeten Aussicht auf Erfolg angenommen werden kann.

Warum ist die Aussicht auf Erfolg begründet? Dies liegt an dem Umstand, daß (mythische) Erzählstoffe eine Handlung zur Darstellung bringen. Es geht schließlich nicht darum, zu entschlüsseln oder zu verbalisieren, welche Aussage oder gar Erzählsequenz bspw. in oder hinter einem Werk aus dem Bereich der abstrakten Kunst stecken könnte. Umsetzungsversuche von Erzählstoffen, in wel-chen medialen Formen auch immer, stellen notwendig Versuche dar, Handlun-gen oder zumindest einzelne Elemente einer Handlungssequenz zum Ausdruck zu bringen. Von daher muß es zumindest prinzipiell möglich sein, eben diese Handlungssequenzen oder solchen Sequenzen zuweisbare Elemente, also ein-zelne Hyleme oder doch zumindest einein-zelne Hylemelemente zu identifizieren und in sprachlich standardisierter Form wiederzugeben. Es geht dabei außerdem noch nicht um eine ikonologische Interpretation, um die Aussageabsicht eines Künstlers, um die zeit- und fundkontextbedingte Auslegung der Wirkungen eines

|| 20 Ein Tanz muß nicht eine Hylemsequenz nachbilden, sondern kann auch auf ein einzelnes Hylemelement abzielen; s. dazu bei Graf, 1985, 102, das Beispiel von einem (kultischen) Tanz auf der Insel Delos, dessen Bewegungen die Windungen des Minotauros-Labyrinths (!) und damit eines Hylemelements darstellen sollen.

21 Vgl. zum bildwissenschaftlichen Bereich grundlegend Wolf, 2002; Giuliani, 2003; Junker, 2005; Frank/ Lange, 2010.

22 Zum Beispiel die bildlich isolierte Darstellung des Gorgonenhauptes, welches auf den mythi-schen Stoff von Perseus verweist, der Medusa den Kopf abschlägt.

Berücksichtigung von Determinationen | 173

Kunstwerkes oder seine Funktionalisierungen, sondern vor diesen weiterführen-den und im Einzelnen diffizilen Schritten zunächst – man ist versucht, zu schrei-ben: „nur“ – um eine ikonographische Beschreibung; aber schon diese kann na-türlich „erhebliche Schwierigkeiten bereiten“23.

Ist mit diesen Ausführungen ein wesentlicher Grundstein gelegt, so sind doch für eine differenzierte komparatistische Hylistik sowohl noch weitere theo-retische Überlegungen als auch weitere methodische Schritte erforderlich.

9.3 Die grausame Medeia tötet ihre unschuldigen Kinder mit

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 193-197)

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