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Die Minimalversion: Bedürfnis nach Sicherheit

4 Die Suche nach „dem“ Stoff und verschiedene Lösungsvorschläge, oder: Niobes Hybris

4.3 Die Minimalversion: Bedürfnis nach Sicherheit

nicht geteilt werden. Weitere Gründe hierfür werden noch einmal deutlicher wer-den, wenn das Thema „Urversion“ unter einer noch anderen Perspektive in den Kapiteln 7.1-2 erneut aufgegriffen wird.

4.3 Die Minimalversion: Bedürfnis nach Sicherheit

Ist ein mythischer Stoff nicht dadurch bestimmbar, daß man eine Urversion re-konstruiert, die man dann zu „dem“ Stoff deklariert, von dem alle anderen Vari-anten abgeleitet werden können, indem man in ihnen unter Bezug auf die Urver-sion Zutaten, Streichungen oder Veränderungen konstatiert, was ist dann unter

„dem“ mythischen Stoff zu verstehen? Gibt es überhaupt einen solchen Referenz-punkt?

Wenn zwei Menschen sich über einen bestimmten mythischen Stoff unter-halten, dann hat keiner genau dieselbe Vorstellung im Kopf27. Trotz alledem gibt es unzweifelhaft Faktoren, die dazu führen, daß in vielen Fällen, wenn es etwa um bekanntere Stoffe geht, eine gemeinsame Grundlage für das gegenseitige Ver-ständnis vorhanden ist. Das ist der Ausgangspunkt für einen weiteren Lösungs-weg auf der Suche nach „dem“ Stoff. Er besteht in der Annahme, daß es bei jedem mythischen Stoff so etwas wie einen kleinsten gemeinsamen Nenner gibt, etwas, das bei aller Variation gleichbleibt. Ein Begriff, der in diesem Zusammenhang eine Rolle spielt, ist das „Mythologem“.

Der vom griechischen τὸ μυθολόγημα abgeleitete Begriff „Mythologem“ ist antik belegt im Sinn von „mythischer Erzählung“28, oder auch im Sinn von „ein-zelner Zug einer mythischen Erzählung“29. In der heutigen Forschung wird der Begriff sehr uneinheitlich verwendet. Einmal bezeichnet „Mythologem“ die Zu-sammenfassung mehrerer semantisch konstitutiver, in allen Stoffvarianten vor-handener Einheiten zu einem im Prinzip immer gleichbleibenden „Grundge-rüst“30 (darauf wird unter dem Stichwort „Standardversion“ zurückzukommen sein). In anderer Verwendung ist das Wort nach der Darstellung von Zimmer-mann (der den Begriff zurecht als wenig hilfreich ablehnt) sehr allgemein „mit

|| 27 S. zur Art der Abspeicherung mythischer Stoffe im Gedächtnis unten, Kapitel 12.2.

28 Bspw. Plat. Phaidr. 229c, vom Raub der Oreithyia durch den Windgott Boreas, oder Ail. nat.

12,5, in Bezug auf die Geschichte, wie Apollon zu seinem Beinamen „Smintheus“ kam.

29 So Ail. var. 5,21 in Bezug auf den Kindermord der Medeia.

30 So bei Assmann, Blumenberg oder Diakonoff, s. dazu Anm. 67.

einem einzelnen ‘mythischen Stoffmotiv’ gleichzusetzen“31. Ähnlich spricht Jun-ker von einem Mythologem als „einem motivischen Grundmuster“ bzw. einem

„wiederkehrenden mythischen Handlungsmoment“, dem „ein im Kern unverän-derliches inhaltliches Moment“ entspreche32. Reinhardt wiederum will unter My-thologemen (oder Mythennovellen) „in sich abgeschlossene Einzelerzählungen begrenzten Umfangs“ verstanden wissen, die „kaum oder überhaupt nicht mit anderen Mythen vernetzt sind“, wodurch die Stoffebene (auf die sich die anderen Mythologem-Begriffe beziehen) zusätzlich mit der Ebene der literarischen Gestal-tung vermischt würde, da sich die Angabe „begrenzten Umfangs“ bei ihm auf die Textlänge bezieht33. Noch einmal in einem anderen Sinn schließlich, nämlich stärker eingeschränkt bzw. zugespitzt verstehen manche Forscher unter einem Mythologem nur die kleinste semantisch konstitutive, in allen Stoffvarianten vor-handene Einheit, also eine Einheit, die im vorliegenden Zusammenhang der Su-che nach „dem“ Stoff auf eine Art „Minimalversion“ abzielt. So dient „Mytholo-gem“ in der Definition der Germanistin und Theaterwissenschaftlerin Keim als

„Bezeichnung der kleinsten, semantisch und historisch invariablen, konstituti-ven Einheit des Mythos“; dies sei bspw. „beim Medea-Mythos der Kindermord“34.

Tatsächlich scheint sich bei etlichen Stoffen trotz allen Variantenreichtums eine Art „Minimalversion“ anzubieten, auf die man sich als Bezugspunkt einigen könnte, um „den“ Stoff näher zu bestimmen, ein kleinster gemeinsamer Nenner, der für das sinnvolle Funktionieren einer Geschichte und zu ihrer Wiedererken-nung absolut notwendig ist35.

Allerdings ergeben sich hier verschiedene Probleme. Zunächst einmal wird schnell deutlich, daß die eine Minimalversion nicht durch rein formale Kriterien bestimmt werden kann wie bspw. durch eine rein statistische Auswertung der in den verschiedenen Stoffvarianten bezeugten einzelnen Handlungsschritte. Denn in etlichen Quellen werden mythische Stoffe oft nicht vollständig, sondern nur

|| 31 Zimmermann, 1993, 24. In diesem etwas unscharfen und weit gefaßten Sinn wird „Mytholo-gem“ bspw. auch verwendet bei Heldmann, 2016, 199 f, mit den Anm. 73-77.

32 Junker, 2005, 127.

33 Reinhardt, 2011, 364.

34 Keim, 1998, 101, Anm. 1. Ähnlich auch Erdbrügger, 2011, 206, Anm. 17: „Mythologem bezeich-net die kleinste semantische Einheit des Mythos, die sich durch ihre Invarianz auszeichbezeich-net.“

35 Ein solcher minimaler Kern ist wohl auch das, was Barthes, 1988, 133, unter dem „Resümee“

einer Erzählung versteht: „Eine Erzählung läßt sich identifizieren, selbst wenn man ihr ganzes Syntagma auf ihre Aktanten und großen Funktionen reduziert, wie sie sich aus dem fortschrei-tenden Ansteigen der funktionellen Einheiten ergeben. Kurz, die Erzählung läßt sich einem Re-sümee unterziehen …“

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ausschnittsweise erzählt oder dargestellt, was vor allem für die ikonographi-schen Darstellungen, aber auch für etliche textliche Belege gilt. Bei Texten kann auf vieles verzichtet worden sein, was für einen mythischen Stoff und dessen Ver-ständnis wichtig oder sogar unverzichtbar war, z. B. aus literarisch-ästhetischen Gründen, oder weil den Rezipienten Einzelheiten des Stoffes so selbstverständ-lich waren, daß man sie getrost unerwähnt lassen konnte. So wäre es vorstellbar, daß eine Quelle ausführlich die Hochzeit zwischen Perseus und Andromeda er-zählt, ohne daß die für alle Rezipienten sattsam bekannte Vorgeschichte mit der Tötung des Seeungeheuers auch nur gestreift würde.

Selbst wenn man sich aber auf die vollständigen Stoffbehandlungen schränken will, stößt man auf Probleme. Denn wer garantiert, daß eine be-stimmte Stoffbehandlung wirklich vollständig ist? Gesetzt den Fall, auch diese Schwierigkeit wäre durch einen gesunden, philologisch geschulten Menschen-verstand aus dem Weg geräumt, bliebe immer noch die Frage, wie man mit Vari-anten umgehen soll, die einen vor grundlegend unterschiedliche Alternativen stellen. Herakles geht in den Hades und befreit dort … nun, wen? Theseus oder Peirithoos oder beide oder keinen von beiden? Alle diese Varianten sind be-zeugt36. Es wäre absurd, in diesem Fall als Minimalversion nur noch „Herakles geht in den Hades“ gelten zu lassen. Wenn Theseus und Peirithoos schon mit ei-ner Reise des Herakles ins Totenreich in Verbindung gebracht werden, muß die Erzählung ein Ziel oder ein Ergebnis haben, das sich auf diese beiden bezieht, in welcher Form auch immer, so daß man sich für einen der verschiedenen überlie-ferten Ausgänge entscheiden muß. Hat Paris nun Helena geraubt und nach Troia entführt, oder hat Hermes im Auftrag des Zeus Helena gestohlen und zum Ägyp-terkönig Proteus gebracht, während Paris nur ein aus Wolken gemachtes Abbild der Helena nach Troia entführt hat37? Selbst im Werk ein und desselben Autors wie Euripides können sich zwei widersprechende Varianten eines mythischen Stoffes finden. So findet sich in der Helena des Euripides die Version von Helena in Ägypten, während in der Tragödie Orestes Helena von ihrer Fahrt nach Troia

|| 36 Beide werden befreit nach Hyg. fab. 79 und Diod. 4,26; so wahrscheinlich bereits eine Tragö-die Peirithoos von Kritias oder Euripides, vgl. dazu Alvoni, 2006. Nach anderen Versionen wird nur Theseus befreit (Apollod. 1,24; Diod. 4,63,4) oder keiner von beiden (Diod. 4,63,4). Zur Kata-basis von Theseus und Peirithoos s. auch Dova, 2015 (mit Verweis auf die unterschiedlichen Aus-gänge mit Quellenangaben ebd. 62 f mit Anm. 51), und Bremmer, 2015b, der unter anderem eine Abhängigkeit des Stoffes von dem mesopotamischen Stoff des Unterweltsgangs von Enkidu ver-mutet (ebd. 35-37), bei seiner Beschreibung der Varianten des Endes des Mythos (ebd. 43) aber die Version von Diodoros nicht erwähnt, nach der keiner der beiden Helden befreit wird.

37 Vgl. Apollod. 3,3-5. Zur Version der nach Ägypten zu Proteus gelangten Helena s. bereits Hdt.

2,113-117.

spricht38. Soll hier der kleinste gemeinsame Nenner in dem Umstand bestehen, daß Helena entführt wurde, während es „marginal“ ist, von wem und wohin?

Oder wer ist von Achilleus und Patroklos der Ältere gewesen – soll man hierin Homer oder Aischylos folgen39? Hier gibt es keinen kleinsten gemeinsamen Nen-ner mehr, sondern nur noch zwei Alternativen, für deren eine man sich entschei-den muß.

Und selbst bei dem so eindeutig erscheinenden Fall des Kindermordes der Medeia kommt man in Schwierigkeiten. So behauptet der antike Schriftsteller Ai-lianos, die Erzählung vom Kindermord der Medeia sei falsch; nicht sie, sondern die Korinther hätten Medeias Kinder getötet, und die Version von Medeia als Mut-ter, die ihre eigenen Kinder ermordet haben soll, habe erst Euripides auf Bitten der Korinther hin erfunden, und nur durch die Vortrefflichkeit des Dichters habe das Falsche dann über die eigentliche Wahrheit den Sieg davongetragen40. Au-ßerdem gibt es eine dem Epiker Eumelos zugeschriebene Variante des Medeia-Mythos, nach der Medeia ihre Kinder nicht getötet, sondern sie in den Tempel der Hera getragen hat, um sie unsterblich zu machen41. Aber selbst wenn diese Vari-anten nicht bezeugt wären: Wieso sollte beim Medeia-Mythos denn ausgerechnet der Kindermord die kleinste semantisch wirklich konstitutive Einheit sein? Wa-rum nicht Medeias Liebe zu Iason? Oder die von ihr angezettelte Zerstückelung des Pelias42? Hier stößt man auf eine Problematik, auf die später noch einmal zu-rückzukommen sein wird und die u. a. in einer offensichtlich zu unscharfen Rede von „dem Mythos des NN“ begründet liegt43.

Wenn man einen kleinsten gemeinsamen Nenner der Handlung ausmachen und diese konstruierte Minimalversion als „den“ mythischen Stoff verstehen will, kommt man um die Einführung inhaltlicher Kriterien nicht herum. Doch welche Kriterien sollen hier eine allgemeine Gültigkeit für sich beanspruchen dürfen?

|| 38 S. Eur. Hel. 31-36 (vgl. auch Eur. El. 1280-1283) und dagegen Eur. Or. 78-80 (zu Helena in Troia vgl. auch Eur. Tro. 860-883.

39 Patroklos als der Ältere s. Hom. Il. 11,785-789; Achilleus als der Ältere s. Aischyl. Myrmidones TrGF 3 F 134a (Plat. symp. 179e-180a).

40 Ail. var. 5,21.

41 Eumelos fr. 5 PEG (bei Paus. 2,3,10 f). Zwar scheitert nach Eumelos dieses Vorhaben, doch gibt es eine andere Stofftradition, nach der die Kinder der Medeia tatsächlich Unsterblichkeit erlangen, vgl. Schol. ad Pind. O. 13,74. Nach noch einer anderen Version geht die Ermordung der Kinder nicht auf das Konto der Medeia, sondern Medeias Kinder werden von den Einwohnern von Korinth gesteinigt, vgl. Paus. 2,3,6 und Schol. ad Eur. Med. 273.

42 Hier ist die Überlieferung nach Tripp, 1974, 330, jedenfalls unisono. Literaturhinweise zu Me-deia bei Reinhardt, 2011, 262, Anm. 990, und Reinhardt, 2016, 43.

43 S. dazu Kapitel 8.4.

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Mit einer Handlungslogik läßt sich nur schwer argumentieren, denn warum oder nach welchen Kriterien sollte eine bestimmte Handlungsfolge oder eine Konstel-lation (wie z. B. das Altersverhältnis von Achilleus und Patroklos) „stimmiger“

sein als eine andere? Vergleiche mit anderen, ähnlich gelagerten Stoffen liefern allenfalls Plausibilitäten, ein Rückgriff auf das Alter einer bestimmten Variante bleibt unzuverlässig, da eine noch ältere mündliche Tradition wiederum anders ausgesehen haben kann, und wenn man sich auf die Häufigkeit der Belege für eine Stoffvariante beruft, ist man wieder bei einer rein quantitativen Argumenta-tion, die ähnlich wenig Beweiskraft hat wie die Berufung auf das Alter mancher Quellen.

Beim Überdenken der Konsequenzen dürfte schnell deutlich werden, daß weder hinreichende formale noch schlüssige inhaltliche Kriterien zur Verfügung stehen, die es erlauben würden, eine allgemein verbindliche Minimalversion zu bestimmen. Dazu kommt noch der etwas heikle Umstand, daß es sich bei einer solchen Konstruktion möglicherweise um ein vom Wissenschaftler erst generier-tes Kunstprodukt handelt, das in dieser Form nirgends in den Quellen belegt ist.

So verlockend es anfänglich erscheinen mag, bei näherer Betrachtung ist es höchst problematisch, einen eher subjektiv postulierten als objektiv bestimmba-ren kleinsten gemeinsamen inhaltlichen Nenner zur „Essenz“ des gesuchten Stoffes und damit zu „dem“ Stoff zu erklären und dieses Konstrukt als Ausgangs- und Referenzpunkt für eine Mythosinterpretation zu verwenden. Vollends un-möglich ist der Versuch eines Rückschlusses von einem solchermaßen konstru-ierten, minimalen Stoffgerüst auf die Urversion eines mythischen Stoffes, von der sich alle anderen Varianten ableiten ließen, da bereits, wie eben ausgeführt, die verläßliche Bestimmung eines solchen Stoff-Minimums höchst problematisch, um nicht zu sagen unmöglich ist.

Eine besondere Ausprägung erhält der Gedanke von einem festen, minima-len „Kern“ eines mythischen Stoffes im Kontext der von Scheid und Svenbro ent-wickelten „generativen Mythenanalyse“44, auf die daher abschließend noch et-was näher eingegangen werden soll. Die beiden in der Tradition der fran-zösischen Strukturalisten stehenden Autoren verbinden die Vorstellung von ei-nem Mythenkern mit einer Hypothese zur Entstehung von Mythen. Sie gehen von der Annahme aus, mythische Stoffe seien nicht entstanden, um Vorfindliches zu erklären, sondern das Vorfindliche habe die mythischen Stoffe „generiert“45. Ein-zelne Begriffe, Eigennamen, überhaupt bestimmte kulturspezifische, bedeu-tungstragende Elemente und ihre Verkettung – die Autoren sprechen hier von

|| 44 Im französischen Original bspw. (2014, 215) „mythologie générative“ genannt.

45 Scheid/ Svenbro, 2017, 18 f.

einer „Konkatenation von Kategorien“ (concaténation des catégories) oder von einem „Konglomerat von Bedeutungen“ (agrégat des significations) –, sind in ih-ren Augen „der Mythos als solcher, wenn man ihn als Matrix oder Nukleus der Geschichte versteht“46, und damit nicht der Zielpunkt, um den es in einem mythi-schen Stoff geht, sondern der Ausgangspunkt, aus dem heraus er entstanden ist.

So versuchen Scheid und Svenbro in Anlehnung an Vernant zu erklären, wie der Name „Oidipus“ schon allein für sich genommen „wie eine Art Brühwürfel in kondensierter Form die gesamte Tragödie in sich trägt“47. Zum einen könne man ihn lesen als „Der mit den geschwollenen Füßen“48, was auf die Erzählung von der Aussetzung des Oidipus als neugeborenes Kind mit durchbohrten und damit geschwollenen Füßen deutet, zum anderen als „Der über Füße Bescheid weiß“49, was der Kern für die Erzählung sei, daß Oidipus das Rätsel der Sphinx von dem Wesen lösen konnte, das morgens auf vier, mittags auf zwei und abends auf drei

„Füßen“ läuft50. Die Bedeutung „Schwell-Fuß“ weise zudem nicht nur auf eben geschwollene Füße, sondern allgemeiner auf eine körperliche Behinderung beim Gehen hin wie z. B. auch auf ein Lahmen oder Hinken (χωλεύω = „lahmen, hin-ken“ bzw. χωλός = „lahmend, hinkend“). Von dieser Feststellung kommen die Autoren auf den Thronfolgestreit nach dem Tod des spartanischen Königs Agis51. Bei diesem Anlaß habe man Agesilaos, dem lahmen (χωλός) Bruder des Königs Agis, den Vorzug gegeben vor Agis’ Sohn Leotychides, dem der Thron eigentlich zustand, weil dieser Sohn im Verdacht stand, ein Bastard (νοθός) gewesen zu sein. Daher sei Lahmheit im antiken Griechenland mit einer Störung der norma-len Generationenfolge assoziiert, und eben eine solche, dem Bastard-Verdacht bei Leotychides vergleichbare Störung bilde im Oidipus-Mythos einen weiteren

|| 46 Scheid/ Svenbro, 2017, 25; Kursivierung im Original (französisch, 2014, 22 f: „… le mythe

même, compris comme la matrice ou le noyau du récit“). Durch ihre (nicht notwendige) Gleich-setzung von „Mythenkern“ mit „Mythos“ kommt es dazu, daß Scheid und Svenbro den Mythos-begriff entgegen allem Herkommen „ohne jede narrative Dimension“ (ebd. 14) zu denken versu-chen bzw. die „Idee eines nicht narrativen Mythos“ verfolgen (ebd. 30; Kursivierung im Original).

Damit entfällt allerdings die Differenzierungsmöglichkeit zwischen dem „Mythenkern“ und dem daraus entstandenen Mythos, eine Unterscheidung, die beide Autoren der Sache nach immer noch beibehalten.

47 Scheid/ Svenbro, 2017, 22; zur im Folgenden nachgezeichneten Interpretation „des“ Oidipus-Mythos s. ebd. 21-25.

48 Von οἰδάω = „schwellen, geschwollen sein“ und πούς = „Fuß“.

49 Von οἶδα = „wissen“ und πούς = „Fuß“.

50 Der Mensch, der als Kleinkind auf allen vieren krabbelt, als Erwachsener aufrecht geht und sich als Greis eines dritten „Fußes“, nämlich eines Krückstockes bedient.

51 Xen. hell. 3,3,1-3; Plut. Agesilaos 3,1,9.

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Strang, der ebenfalls aus der Namensbedeutung „Schwell-Fuß“ heraus generiert wurde.

Selbst wenn man der Argumentation soweit folgen will, so bleibt es doch schwer nachvollziehbar, wie eine solche, nicht einfach gewonnene „Konkatena-tion“ einzelner Begrifflichkeiten und Namen ein so hochkomplexes und spezifi-sches Gebilde erzeugen soll wie die verschiedenen Stoffe, die Scheid und Sven-bro, Vernant folgend, dann interpretierend so paraphrasieren, beginnend bei Oidipus’ Großvater Labdakos:

Als Labdakos starb, war sein Sohn Laios erst ein Jahr alt, sodass zunächst ein Fremder na-mens Lykos auf den Thron kam. Die legitime Thronfolge war damit unterbrochen. Die nor-male Generationenfolge fand nicht statt. Der junge Laios floh zu Pelops, verführte aber des-sen Sohn Chrysippos. Als dieser daraufhin Selbstmord beging, belegte sein Vater Laios mit einem Fluch, der sein Geschlecht zum Aussterben verurteilte. Nach seiner Rückkehr nach Theben warnte ihn das Orakel, er dürfe mit seiner Frau Iokaste keinen Sohn zeugen. Tue er es dennoch, werde dieser, obwohl ehelich geboren, seinen Vater Laios töten und mit seiner Mutter Iokaste schlafen und sich damit noch schlimmer gebärden als ein Bastard. Und ge-nau das trat auch ein: Der ‘Schwellfuß’ Ödipus richtete in der normalen Generationenfolge heilloses Chaos an, indem er seine Mutter heiratete und somit zum Bruder seiner eigenen Kinder wurde.

Einige wenige Eigennamen wie Οἰδίπους und Begriffe wie οἰδάω, οἶδα, πούς, χωλός, νοθός und deren Verknüpfung sollen zur Gänze ein so buntes Tableau verschiedener einzelner Stoffe generiert haben, die hier zudem nur sehr abge-kürzt wiedergegeben worden sind? Und welche Instanz bzw. welche Person soll genauerhin dieser geniale „Erzähler“ sein, der den „Brühwürfel“ einzelner Na-men oder Wörter jeweils so „geschickt in seinem Schmortopf auflöst“52?

Folgt man dem Interpretationsansatz von Scheid und Svenbro, dann müßte es möglich sein, sogar bei einer so außerordentlich facettenreichen und „mythen-trächtigen“ Figur wie Herakles alle mit ihm verknüpften Erzählungen in konden-sierter Form in seinem Namen wiederzufinden, da dieser Name eben als „Kern“

und zugleich als „Generator“ für all diese Stoffe angesehen werden müßte. Genau dies tun die beiden Autoren tatsächlich, indem sie versuchen plausibel zu ma-chen, daß die beiden Namensbestandteile von Herakles, einmal der Name von Zeus’ Gattin Hera (Ἥρα), und zum zweiten das Wort κλέος, dessen Sinn hin und her pendele „zwischen einem positiven Pol (‘Ruhm’) und einem negativen Pol

|| 52 So formulieren Scheid/ Svenbro, 2017, 130.

(‘Schande’)“, so aufgefaßt werden können, „dass jede ruhmreiche Tat des Ba-stards Herakles der Ehefrau des Zeus zugleich zur Schande gereicht“53. Zum in-haltlichen Gewinn des Ergebnisses dieser „generativen Analyse“ gleich; vorher soll es um die sprachlich-formale Seite und um die kulturgeschichtlichen Hinter-gründe gehen.

Zunächst zum Sprachlich-Formalen. Zumindest für die frühgriechische Epik läßt sich die Bedeutung „Schande“ für κλέος nirgends nachweisen54, und die von den Autoren als erster Beleg angeführte Pindar-Stelle spricht genauer betrachtet gerade gegen die vorgebrachte Deutung, denn dort trägt κλέος die Bedeutung

„Schande“ oder „schlechte Nachrede“ nicht in sich, sondern erhält sie erst durch die Beifügung eines entsprechend negativen Adjektivs (κλέος ... τὸ δύσφαμον –

„der üble Ruf“)55.

Des Weiteren kann man an der Wahrscheinlichkeit kulturgeschichtlicher An-nahmen Zweifel anmelden. Wenn sich im Prinzip alle mit der Figur verbundenen Stoffe aus dem Eigennamen heraus erklären und entwickeln lassen, dann fragt man sich, wie es um die Plausibilität dieser These bestellt ist, wenn man berück-sichtigt, daß die gleichen von Herakles oder bspw. von Zeus, Hera oder Athene erzählten Geschichten in der römischen Kultur von Hercules, Iuppiter, Iuno und Minerva erzählt wurden. So natürlich, wie der Zusammenhang zwischen Eigen-name und Geschichten den Griechen vorgekommen sein muß, so unnatürlich muß er in den Augen der Römer gewesen sein. Warum hätten die Römer die Ei-gennamen latinisieren sollen, wenn damit die enge Verbindung zwischen Namen und Geschichten zerstört wurde?

Zur Unterstützung ihrer These halten die beiden Autoren es außerdem sogar für denkbar, daß man den Eigennamen „Herakles“ nicht nur in der Bedeutung

„Heras Ruf/ Ruhm“, sondern auch als „Heras Mangel an Ruf/ Ruhm“ verstanden

„Heras Ruf/ Ruhm“, sondern auch als „Heras Mangel an Ruf/ Ruhm“ verstanden

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