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Die Maximalversion als Weg in die richtige Richtung

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 102-105)

4 Die Suche nach „dem“ Stoff und verschiedene Lösungsvorschläge, oder: Niobes Hybris

4.5 Die Maximalversion als Weg in die richtige Richtung

ein Beispiel aus dem deutschsprachigen Raum anzuführen. Liest man diese Werke, muß man fast unweigerlich dem Irrtum aufsitzen, so seien die Mythen gewesen, und je früher man diese Geschichten gleichsam wie mit der Mutter-milch eingesogen hat, desto tiefer wird diese Überzeugung sitzen.

Die Annäherung an „den“ Stoff durch die Konstruktion einer Standardver-sion erscheint unter pragmatischen Gesichtspunkten verlockend, und in be-stimmten Fällen kann sie durchaus einen heuristischen Wert haben, wenn es etwa um den Vergleich verschiedener Stoffvarianten geht und um die Frage, ob und in welcher Hinsicht und Verteilung sich Schwerpunkte in der Stoffbehand-lung feststellen lassen90. Den Alternativen der Bestimmung einer Urversion, einer Minimalversion oder der alleinigen Berücksichtigung der Glanzversion eines Stoffes ist die der Erstellung einer Standardversion allemal vorzuziehen; sie kann in beschränktem Umfang gewinnbringend sein. Aber man muß sich der grund-sätzlichen Künstlichkeit solchermaßen erschlossener Standardversionen und der damit verbundenen Probleme bewußt bleiben; die Einordnung bestimmter Varianten als „Sonderfälle“ und ihr damit begründeter Ausschluß bei der Bestim-mung „des“ Stoffes ist und bleibt methodisch äußerst fragwürdig. Auf jeden Fall abzulehnen aber ist die Verabsolutierung einer solchen allenfalls zu Behelfs-zwecken dienenden Standardversion zu „der“ Form eines mythischen Stoffes.

4.5 Die Maximalversion als Weg in die richtige Richtung

Die Suche nach „dem“ Stoff gestaltet sich schwierig. Offenbar handelt es sich ge-rade bei einem mythischen Stoff um ein Gebilde, das sich dem Zugriff immer wie-der zu entziehen scheint. Nach den verschiedenen vorgenannten Lösungswegen aber scheint zumindest der Schluß unausweichlich, daß alle Versuche, „den“

Stoff auf eine Einzelgestalt zu reduzieren, der Komplexität des Gegenstandes nicht gerecht werden91. Es schält sich die Erkenntnis heraus, daß „der“ Stoff nicht

|| 90 Vgl. bspw. den Versuch von Henrichs, 1987, 264, durch eine „mythographical analysis“ der verschiedenen erhaltenen Stoffvarianten (und ikonographischer Zeugnisse) „des“ Kallisto-My-thos (vgl. die von ihm erstellte tabellarische Übersicht ebd. 256 f) die weniger zentralen Aspekte (Henrichs nennt sie u. a. „embellishments“) zu entfernen, um zu „the main story pattern“ bzw.

zur „Substanz“ des Mythos („substance of the myth“) zu gelangen; mag die dahinterstehende theoretische Grundannahme problematisch sein, so heißt das nicht, daß deswegen die Ergeb-nisse des Stoffvarianten-Vergleichs uninteressant oder unbrauchbar wären.

91 Vgl. Scheer, 1993, 71: „Von ‘dem’ Telephosmythos zu sprechen birgt … gewisse Gefahren in sich. Es kann nicht darum gehen, die ‘richtige’ Variante festzustellen …“

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etwas Einzelnes, eindeutig Eingrenzbares ist, sondern als eine „Vielgestalt“ be-griffen werden muß, so unbequem dies auch zunächst erscheinen mag. Die Form eines mythischen Stoffes als festumrissener Gegenstand, den man aus dem Kor-pus aller Varianten exakt herauspräparieren und von dem ausgehend man dann Abweichungen oder Sonderformen bestimmen könnte, gibt es nicht. Jeder Wan-del von individuellen oder gesellschaftlichen Interessen, Vorstellungen, Deutun-gen, Gegebenheiten, Vorlieben etc. kann zu Veränderungen eines mythischen Stoffes führen. Diese Veränderungen können von kleinsten Eingriffen bis zur Er-setzung, Neueinführung oder Streichung von einzelnen Elementen bzw. zu grundlegenden Veränderungen einzelner Handlungsschritte oder der Struktur einer Handlungssequenz insgesamt reichen. Jede Stoffvariante fügt bereits vor-handenen Stoffvarianten eine weitere hinzu und trägt so zur grundsätzlichen Po-lymorphie eines Stoffes bei.

Das führt zu dem nächsten Lösungsvorschlag auf der Suche nach „dem Stoff“, der darin besteht, ihn zu bestimmen als die Gesamtheit all seiner Varian-ten. In der Formulierung von Lévi-Strauss92: „Wir schlagen … vor, jeden Mythos durch die Gesamtheit seiner Fassungen zu definieren. … Da ein Mythos aus der Gesamtheit seiner Varianten besteht, muß die Strukturanalyse sie alle mit dem gleichen Ernst betrachten.“ Man kann diese Lösung des Problems auch die Er-stellung der „Maximalversion“ eines Stoffes nennen93.

Bei diesem Vorschlag ergibt sich zunächst einmal ein rein pragmatisches Problem. Wenn man bei dem am Anfang von Kapitel 4 angeführten Beispiel „des“

Niobe-Mythos bleibt, dann stellt sich das Unterfangen, wirklich alle verfügbaren Belege für diesen mythischen Stoff aus der Antike zu sammeln, als eine wahrhaft herkulische Aufgabe dar. Lexika und Handbücher beschränken sich normaler-weise wie in dem obigen Zitat auf einige wenige, länger ausgeführte Belegstel-len94. Wollte man die für „den“ Niobe-Mythos in der griechisch-römischen Litera-tur insgesamt zur Verfügung stehenden Quellen umfassend berücksichtigen, ergäbe sich eine ungleich längere Auflistung, die nicht nur den Rahmen eines

|| 92 Lévi-Strauss, 1955, zitiert nach Barner et al., 2003, 71. Zur Ausweitung, die Lévi-Strauss dann noch vornimmt, s. das nächste Kapitel.

93 Vgl. bspw. auch Powell, 2009, 16: „… ist der Ödipus-Mythos die Sammlung aller existieren-den Versionen, wie viele es davon auch geben mag.“ Vgl. auch Le Quellec/ Sergent, 2017, 862:

„Un mythe se compose de l’ensemble de ses VARIANTS.“ S. zur (kurzen) Darstellung dieser Posi-tion auch Masciadri, 2008, 367 (mit Anm. 42). Masciadri sieht in diesem Ansatz v. a. das Problem, daß er nicht zu klären vermag, „welches jenes Gemeinsame sein soll, das sich in der ganzen Reihe der Varianten einer Erzählung immer wieder zeigt“; auf diese Problematik wird v. a. in den Kapiteln 8.1, 12.3 und 12.4 näher eingegangen werden.

94 S. oben Anm. 1.

eher für die Allgemeinheit bestimmten Lexikonartikels bei weitem sprengen wür-de, sondern eine Erforschung dieses mythischen Stoffes zu einer aufwändigen Angelegenheit machen würde, bei der bereits die Vorarbeit äußerst zeitraubend wäre95. Nicht zuletzt gilt es zu bedenken, daß zu den literarischen Quellen die ikonographischen noch hinzukommen müßten96.

Nun ist der Hinweis auf die Aufwändigkeit eines Unternehmens zugegebe-nermaßen kein besonders stichhaltiges Argument für die Ablehnung desselben.

Trotzdem ist der Einwand wiederum nicht zu unterschätzen. In manchen Kultu-ren mögen die Belege für einen mythischen Stoff zahlenmäßig so gering sein, daß die Sammlung aller Stoffvarianten kein größeres Problem darstellt; in anderen Fällen aber würde das Postulat einer vollständigen Variantensammlung die Er-forschung des mythischen Stoffes annähernd in die Knie zwingen, jedenfalls aber kaum mehr Spielraum als nur noch für hochspezialisierte Einzeluntersuchungen lassen. Im Bereich der griechisch-römischen Kultur listet selbst das monumen-tale, von Roscher herausgegebene Ausführliche Lexikon der griechischen und rö-mischen Mythologie in all seiner Ausführlichkeit und trotz der angestrebten Voll-ständigkeit nicht immer alle Belege97.

|| 95 Literarische Quellen für den Niobe-Stoff: Hom. Il. 24,605-617; Hesiod fr. 183 Merkelbach/

West; Sappho fr. 142 Voigt; Bakchylides fr. 20 Snell/ Maehler; Aischyl. Niobe fr. 154a,1-3 (TrGF);

Soph. Ant. 823-838; El. 150-152 (und Scholien); Niobe fr. 441a-451 (TrGF); Eur. Kresphontes fr. 73 Austin; Eur. Phoen. 159 f; Schol. Eur. Or. 4; Aristoph. Ran. 911-920; Pherekydes FGrH 3 F 38; Hel-lanikos FGrH 4 F 21; Palaiphatos 8; Kall. h. 2,22-24; 4,96 f; Philemon fr. 102 PCG; Anth. Gr. 7,530;

11,253-255; 16,129-134; Cic. Tusc. 3,63; Parthenios 33; Diod. 4,74,3; Ov. met. 6,146-312; Sen. Oed.

613 f; Mart. 5,53; Stat. Theb. 3,191-200; 4,575-578; 6,122-125; Ps.-Plut. De musica 15,1136c; Lukian.

De luctu 24; Suet. Nero 21; Apollod. 2,2; 3,45-47; 3,96; Gell. 20,7; Hygin. fab. 9-11; 145; Achill. Tat.

3,15,6; Artem. 4,47; Paus. 1,21,3; 3,22,4; 8,2,5; Ail. var. 12,36; Q. Smyrn. 1,294-306; Auson. epit.

27; Auson. epigrammata 63; Aphthonios, progymnasmata 11; Nikolaos Sophistes, progym-nasmata 6,6; Nonn. Dion. 2,159-162; 48,406-408.412-413.417.425-435. Auch das ist immer noch nur eine Auswahl aus den in Frage kommenden Belegen; u. a. fehlen kurze Anspielungen auf den Niobe-Mythos fast gänzlich wie etwa in philosophischen Schriften (z. B. Plat. rep. 380a; Ari-stot. Poet. 1456a; Aristot. Nikom. 1148a; Sen. epist. 63,2) oder in der Dichtung (Stellensammlung zu Niobe in der augusteischen Dichtung bei Zgoll, 2004, 49-52; es handelt sich allein für dieses zeitlich eng umgrenzte Textkorpus um 11 Stellen).

96 S. dazu ausführlich Geominy, 1992, und Schmidt, 1992.

97 So fehlt bspw. beim Stichwort „Atalante“ die Anspielung auf den mythischen Stoff bei Ovid (Ib. 457 f), und unter dem Stichwort „Verwandlungen“ fehlen manche Stoffe gänzlich (s. dazu Zgoll, 2004, 329, und die darauf folgenden Übersichten), um nur willkürlich zwei Beobachtun-gen herauszugreifen; man könnte noch weitere Beispiele anführen.

Die Approximalversion als Lösungsansatz | 81

Es gibt aber neben dieser rein pragmatischen Argumentation noch inhaltli-che Gründe, mit denen sich die zunächst unangreifbar sinhaltli-cheinende Notwendig-keit einer Berücksichtigung aller verfügbaren Varianten anzweifeln läßt. Darum soll es bei der Behandlung der „Approximalversion“ gehen.

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 102-105)

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