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1 Grundsätzliches

Open Access. © 2019 Zgoll, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz.

https://doi.org/10.1515/9783110541588-001

1 Grundsätzliches

1.1 Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit

erit ergo etiam obscurior, quo quisque deterior.

Folgt: Je schlechter einer ist, um so dunkler wird er auch sein.

Quintilian (inst. 2,3,9)

Mythen sind anders1. Sie bzw. ihre einzelnen, konkret vorliegenden Stoffvarian-ten „funktionieren“ nicht so, wie man dies von der Gestaltung der Figuren und dem Aufbau der Handlung bspw. in historischen Dramen, Entwicklungsromanen oder Kriminalgeschichten erwartet. Ist man allerdings herausgefordert zu erklä-ren, was genau Mythen anders macht, dann merkt man erst, wieviel anders ist, und daß man, wenn man an einem Ende mit dem Erklären anfängt, zwangsläufig viele andere „Enden“ auch noch mit einbeziehen müßte, und zwar möglichst gleichzeitig2. Was natürlich unmöglich ist – woraus aber folgt, daß erst durch eine Rahmentheorie ein Gesamtbild entstehen kann, in dem verschiedene

ein-|| 1 Zu verschiedenen Verwendungsweisen eines ausgeweiteten und säkularen Mythosbegriffs, der in der vorliegenden Arbeit lediglich als Option einer erweiterten Mythosdefinition eine Rolle spielt (s. Kapitel 24.1), also etwa „politischer Mythos“; „Mythos Napoleon“; „Mythos vom Teller-wäscher zum Millionär“, Mythos als „Lügengeschichte“ etc., s. bspw. den Überblick über diese und andere Bedeutungen des Wortes „Mythos“ im Sprachgebrauch bei Tepe, 2001, 15-68; zu wei-terführender Literatur zum ausgeweiteten Mythosbegriff in der Moderne s. auch Scheer, 1993, 13, mit den Anm. 1-5; Reinhardt, 2011, 19, mit Anm. 20; und Reinhardt, 2016, 8. Zu „durchaus schwierigen ‘konstruktiven’ Abgrenzungsversuchen zum Begriffsgebrauch von Mythos in der feuilletonistischen Alltagssprache oder zu sach- und sinnverwandten Begriffen der Kulturwis-senschaften und der Philosophie“ s. Mohn, 1998, 58-68 (Zitat ebd. 68). Zur Geschichte des My-thosbegriffs einschlägig: Burkert/ Horstmann, 1984; zur Wortbedeutungsgeschichte s. grundle-gend Nesselrath, 1999. Der in dieser Arbeit im Zentrum stehende Mythosbegriff zielt nicht auf

„Mythos“ im Singular, also auf eine Denk- und Weltanschauungsform i. S. v. „mythisches Den-ken“ o. a. (zur Diskussion um die Existenz oder Nicht-Existenz des „mythischen Denkens“ s. u. a.

Bouvrie, 2002, 53-58), sondern auf Mythen im Plural, also auf mythische Erzählstoffe (zur Unter-scheidung von „Mythos“ als „terminus technicus einer wissenschaftlichen Metasprache“ und

„Mythen“ als konkreten Phänomenen s. auch Mohn, 1998, 55 und 62). Zur Definitionsproblema-tik und zu der in dieser Arbeit vorgestellten Mythosdefinition s. ausführlicher Kapitel 23.6.

2 Dieser Vernetzung der verschiedenen Aspekte wird dadurch ansatzweise Rechnung getragen, daß innerhalb der Arbeit zahlreiche Querverweise auf andere Kapitel gegeben werden.

zelne Elemente sinnvoll aufeinander bezogen werden können. Denn nur im Zu-sammenspiel ergeben die verschiedenen einzelnen Beobachtungen und daraus gezogenen Folgerungen ein schlüssiges Gesamtbild, und erst auf dem Hinter-grund eines solchen Gesamtbildes bzw. einer Rahmentheorie wird es wiederum möglich, Rolle und Wichtigkeit einzelner Beobachtungen zu erfassen und richtig zu bewerten und damit zu „mytho-logischen“, also zu sowohl theoretisch als auch methodisch fundierten Aussagen über Mythen zu kommen3.

Auf dem Hintergrund von Erfahrungen in der Lehre, von Auseinandersetzun-gen mit der Forschungsliteratur und von Diskussionen im Rahmen interdiszipli-närer Forschungsverbünde entwickelte sich aus dem Umgang mit Primärquellen und aus dem Wunsch heraus, die in diesen Quellen verarbeiteten Mythen besser verstehen bzw. erklären zu können, eine Mythostheorie, ja der Entwurf zur Grundlegung einer allgemeinen Stoffwissenschaft. Die Erarbeitung einer solchen in Grundzügen neu aufgestellten allgemeinen Stoffwissenschaft ist somit vom Produktionsprozeß her gesehen einem vorrangigen Interesse an der Erforschung mythischer Stoffe entsprungen; rein logisch betrachtet aber, so hat sich im Ver-lauf der Arbeit herausgestellt, müssen die Fundamente einer allgemeinen Stoff-wissenschaft der Errichtung des Gebäudes einer Erforschung speziell mythischer Stoffe vorgeordnet sein. Worin die Gewinne der vorgestellten theoretischen Über-legungen zum Stoffbegriff, zur Unterscheidung verschiedener Stoffarten allge-mein und zu einer näheren Bestimmung mythischer Stoffe im Besonderen, sowie der daraus entwickelten Methodik zur Analyse von Stoffen im Allgemeinen und mythischer Stoffe im Besonderen und zum transmedialen Vergleich einzelner Stoffvarianten bestehen4, soll im Verlauf der Arbeit an verschiedenen Beispielen deutlich gemacht werden, die, wiederum durch das initiale Interesse an der My-thosforschung bedingt, vorrangig aus dem Bereich mythischer Stoffe stammen.

|| 3 Zur terminologischen Unterscheidung von „Mythen“ (als Bezeichnung für Erzählstoffe) und

„Mythologie“ (sowohl als Bezeichnung für das Gesamt der mythischen Stoffe einer bestimmten Kultur als auch für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Mythen), und von „mythisch“ (als Bezeichnung einer bestimmten Weltsicht und entsprechender Erzählstoffe bzw. Figuren) und

„mythologisch“ (als Bezeichnung für eine v. a. wissenschaftliche Beschäftigung mit oder Rede über Mythen bzw. mythische Figuren) s. auch die Begriffsklärung bei Jamme, 1999, 24. Herakles bspw. ist eine Gestalt der griechischen Mythologie, aber keine mythologische Gestalt (sondern eine mythische); es kann wissenschaftlich eine mythologische Beschäftigung mit Herakles statt-finden, aber keine mythische – es sei denn, der Mythologe und seine Beschäftigung mit Herakles werden selbst Teil eines Mythos.

4 Zum Begriff der „Transmedialität“ s. ausführlicher Kapitel 9.2.1. Zum Begriff „medial“ bzw.

„Medium“ s. den Anfang von Kapitel 2.1.

Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit | 3

Es wäre durchaus spannend und in manchen Hinsichten einfacher gewesen, die theoretischen und methodischen Ansätze in der konkreten Umsetzung an ei-nem einzigen Mythos zu veranschaulichen. Der Vorteil wäre gewesen, daß ein-mal ein mythischer Stoff in seiner ganzen Komplexität und in all seinen Facetten hätte dargestellt und durchleuchtet werden können. Auf der anderen Seite lag in diesem Vorgehen die Gefahr einer Ermüdung der Leserinnen und Leser, die sich nach einer gewissen Zeit fast unausweichlich eingestellt hätte, und darüber hin-aus hätte man damit unweigerlich die Frage provoziert, ob Theorie und Methodik wirklich generell anwendbar seien und nicht doch eben nur bei der Erschließung des einen Kronzeugen zu guten Ergebnissen führten. Daher werden verschiedene Aspekte anhand verschiedener Beispiele erläutert. Es gibt trotzdem einen mythi-schen Stoff, der sich wie ein roter Faden durchzieht und an dem zwar nicht alle, aber immerhin etliche zentrale Aspekte veranschaulicht werden: der griechische Mythos von der Gründung der Stadt Troia durch Ilos, in dem das Kultbild der Pal-las, das Palladion, vom Himmel auf die Erde herabfällt5.

An verschiedenen Stellen werden Folgerungen für die Mytheninterpretation gezogen, was bei etlichen Kapiteln schon in der Überschrift explizit vermerkt ist6. In diesen Kapiteln geht es vor allem um das Interpretieren an sich, also mehr um das anzuwendende Instrumentarium und um die sinnvollerweise zu stellenden Fragen oder zu vermeidenden Fallen, nicht so sehr um die Antworten. Im Zen-trum stehen, wie von einer theoretisch-methodischen Grundlegung zu erwarten, in erster Linie die Bedingungen, Möglichkeiten und Gefahren des Interpretierens von Mythen – konkrete Einzelinterpretationen bestimmter Mythen zwar durch-aus auch, aber nicht vorrangig.

In der vorliegenden Arbeit wurde bewußt versucht, einen zu stark esoterisch-wissenschaftlichen Stil zu vermeiden und theoretische Ausführungen an konkre-ten Beispielen zu verdeutlichen. Es wäre gerade im Bereich der Mythosforschung nicht besonders schwer gewesen, unter Präferenz theoretischer Reflexion eine exemplifizierende Illustration zu negligieren und präfigurierte Diskurse so zu de-konstruieren, daß ein hermeneutischer Zugriff auf die autorspezifischen Positio-nen und terminologischen InnovatioPositio-nen diffizil, diese PositioPositio-nen und Innovatio-nen selbst dafür aber um so Respekt einflößender ausgefallen wären, was manchmal mit „wissenschaftlich“ verwechselt wird7. Nicht so zu schreiben wie

|| 5 S. die Kapitel 3.1, 6.4, 8.2, 9.8.3, 11.2-3 und 17.2.

6 S. die Kapitel 6.3, 15.4, 18.1.3, 19.1, 20.9, 21.1, 22.2 und 22.3, 23.2 und 23.5.

7 Vgl. Quintilian (inst. 8,2,17 f): est etiam in quibusdam turba inanium verborum … in hoc malum a quibusdam etiam laboratur … unde illa scilicet egregia laudatio: ‘tanto melior: ne ego quidem intellexi.’ – „Es findet sich bei manchen auch ein Schwall leerer Worthülsen … Auf ein solches

Teile des eben verflossenen Satzes geschrieben sind, Komplexes nicht allzu kom-pliziert darzustellen war umgekehrt nicht immer einfach, aber eine Herausforde-rung, der sich der Verfasser um so lieber gestellt hat, als sich Mythen nicht nur innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft, und dort fächerübergreifend, sondern auch deutlich darüber hinaus eines breiten Interesses erfreuen. Es wäre viel erreicht, wenn der hier entwickelte theoretische Ansatz und die davon abge-leiteten Methoden zu weiteren Fragestellungen und Ergebnissen führen, die sich bei der konkreten Arbeit an Mythen als fruchtbar erweisen, indem sie neue Per-spektiven auf Verstehenshorizonte eröffnen, die auf den ersten und vielleicht auch zweiten Blick verdeckt geblieben wären.

Manche Aspekte des Problemfeldes „Mythos“ mußten länger ausgeführt wer-den als geplant, vor allem was die manchmal notgedrungen etwas analytisch-formalistischen, aber unabdingbar notwendigen Überlegungen zum Begriff

„Stoff“, zu seinen Konstituenten, zu der Rekonstruktion von Stoffvarianten aus ihren medialen Konkretionen oder zu den Herausforderungen angeht, die sich bei Stoffvergleichen ergeben. Einige Gründe sprachen daher dafür, diese Arbeit in getrennte Publikationen aufzuspalten (Skylla), doch letztlich standen noch mehr Gründe dagegen. Mit der Entscheidung, alles zwischen zwei Buchdeckel zu stecken (Charybdis), aber auch mit dem Facettenreichtum des Phänomens „My-thos“ hängt es zusammen, daß die Zahl der übergeordneten Kapitel relativ hoch ausgefallen ist. Betrachtet man diese 24 Kapitel im Überblick, lassen sich jedoch – v. a. unter thematischem Aspekt – vier verschiedene Hauptteile benennen.

Im ersten thematischen Hauptteil (Kapitel 2-9) geht es um die Definition und Differenzierung des Stoffbegriffs – eine wichtige, ja unerläßliche Basis für die Grundlegung einer allgemeinen Stoffwissenschaft (Kapitel 2-8). Daraus werden Folgerungen gezogen einerseits für die Rekonstruktion von Stoffvarianten durch eine Hylemanalyse (s. zusammenfassend Kapitel 6.3), andererseits für den Ver-gleich von einzelnen Stoffvarianten, also für eine transmedial und komparati-stisch ausgerichtete Stoffwissenschaft (Kapitel 9).

Ein zweiter thematischer Block (Kapitel 10-12) befaßt sich nach einem einlei-tenden bzw. überleieinlei-tenden Kapitel zur Unterscheidung verschiedener Stoffarten wie Mythos, Märchen und Sage (Kapitel 10) dann des Näheren mit Mythen, und zwar mit ihrer Eigenart in Abhebung von anderen Stoffarten (Kapitel 11) und mit ihrer Varianz bzw. Invarianz (Kapitel 12).

||

Übel wird von manchen sogar hingearbeitet … Daher kommt gewiß jener herausragende Lob-spruch: ‘Um so besser: Nicht einmal ich selbst habe es verstanden!’“

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Der dritte und vom Umfang her größte thematische Hauptteil (Kapitel 13-21) widmet sich dann aus verschiedenen Perspektiven der Vielschichtigkeit von My-then. Hier wird das Phänomen von Stoff-Stoff-Interferenzen („Interhylität“) an-hand von Beispielen näher beleuchtet (Kapitel 13-14) und der Befund des Ge-schichtet-Seins einzelner Stoffvarianten (Kapitel 15), das sich durch formale und logische Indizien wie Inkonsistenzen erkennen läßt (Kapitel 16), was wiederum exemplarisch veranschaulicht wird (Kapitel 17). In Kapitel 18 geht es darum, grundlegende Merkmale von Mythen herauszuarbeiten. Neben der eigenständi-gen Bedeutung, die diesem Kapitel zukommt, ist es zugleich funktional noch auf etwas anderes ausgerichtet, nämlich darauf zu zeigen, daß all die dort genannten Merkmale Mythen zu wichtigen Instrumenten im Umgang mit der Wirklichkeit machen, die immer wieder neu verwendet und dadurch gewissermaßen zu Kampfplätzen werden, auf denen Deutungsmachtkonflikte ausgetragen werden (Kapitel 18.4). Diese Deutungsmachtkonflikte und die mit ihnen verbundenen Be-arbeitungsprozesse hinterlassen Spuren, denn sie schlagen sich in bestimmten Erzähltaktiken nieder, mit deren Hilfe Wertungen und Hierarchisierungen vorge-nommen werden. Zusätzlich zu Stoff-Stoff-Interferenzen und den formalen und logischen Indizien der Inkonsistenzen stellen solche Erzähltaktiken semantische Indizien dar, anhand derer verschiedene Traditionen bzw. Stoffschichten ausge-macht werden können (Kapitel 19), was in Kapitel 20 an verschiedenen Mythen exemplarisch gezeigt wird. Kapitel 21 befaßt sich dann mit den Herausforderun-gen und Chancen und mit der historischen Dimension der Stratifikationsanalyse von Mythen.

Die abschließenden Kapitel 22-24 lassen sich insofern als eine Einheit begrei-fen, als hier die im Lauf der Arbeit gewonnenen Einsichten resümierend vertieft, ausblickhaft erweitert und durch einen Rückblick abgerundet werden. Zunächst werden die Erkenntnisse zu Mythen als polymorphen und je nach Variante poly-straten Erzählstoffen auf den Bereich der mythischen Figuren übertragen (Kapi-tel 22), bevor in Kapi(Kapi-tel 23 die Ergebnisse der Arbeit in theoretischer wie metho-discher Hinsicht zusammenfassend vertieft und zu einer Mythosdefinition komprimiert werden. In Kapitel 24 befindet sich ein kurzer Ausblick auf eine Aus-weitungsmöglichkeit dieser Mythosdefinition (Kapitel 24.1) und ein längerer

„Rückblick“ (Kapitel 24.2) auf einen Archegeten der Stoffwissenschaft, auf Ari-stoteles. In diesem Kapitel erscheinen einige Begriffe und Passagen in der aristo-telischen Poetik in einem neuen Licht, wenn gezeigt wird, daß Aristoteles bereits grundsätzliche Überlegungen zum Stoffbegriff angestellt, nicht aber, wie manch-mal angenommen wird, eine Mythosdefinition vorgelegt oder literaturwissen-schaftliche Termini wie story bzw. plot vorwegnehmend geprägt hat.

Durch die vor allem thematisch zusammengehörigen Blöcke ergibt sich im Überblick folgende Zuordnung der übergeordneten Kapitel zu den genannten Hauptteilen:

Hauptteil I: Stoffbegriff – Stoffwissenschaft – Stoffkomparatistik

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