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Forschung und allgemeine Stoffwissenschaft (Hylistik)

3.1 Die Gründung von Troia: Literaturwissenschaftliche Annäherungen an den Stoffbegriff

Wenn Mythen als Erzählstoffe aufzufassen sind, wie lassen sich diese Erzählstof-fe dann greiErzählstof-fen und erforschen? Hier stößt man auf eine Problematik mit weitrei-chenden Folgen. Da Erzählstoffe oft in Textform überliefert sind, hat sich bislang vor allem die literaturwissenschaftliche Narratologie auf die Erforschung dessen spezialisiert, was unter „Stoff“ zu verstehen ist, und welche Verständnisebenen es hier zu unterscheiden gilt. Man ist dabei zu einem hoch differenzierten Stoff-begriff gelangt, der in vielen Punkten auch für die Mythosforschung hilfreich ist.

Es wird sich jedoch herausstellen, daß hier noch weitere Arbeit zu leisten ist.

Die folgenden theoretischen Ausführungen sollen anhand eines konkreten Beispiels verdeutlicht werden. Wenn man sich einer mythischen oder überhaupt irgendeiner stofflichen Struktur über eine textliche Konkretion anzunähern ver-sucht, dann ist die erste Ebene der Untersuchung der Text selbst. Im mythologi-schen Handbuch von Apollodoros wird von der Gründung der Stadt Ilion berich-tet, die nach Ilos’ Vater Tros auch Troia genannt wird1. Dort heißt es, daß Ilos aufgrund eines Orakelspruches einer gescheckten Kuh folgen und an dem Ort, an dem sie sich niederlegen würde, eine Stadt gründen sollte. Weiter heißt es im Text2:

ἡ δὲ ἀφικομένη ἐπὶ τὸν λεγόμενον τῆς Φρυγίας Ἄτης λόφον κλίνεται· ἔνθα πόλιν κτίσας Ἶλος ταύτην μὲν Ἴλιον ἐκάλεσε, τῷ δὲ Διὶ σημεῖον εὐξάμενος αὐτῷ τι φανῆναι, μεθ’ ἡμέραν τὸ διιπετὲς παλλάδιον πρὸ τῆς σκηνῆς κείμενον ἐθεάσατο.

|| 1 Zur diffizilen Frage, ob bzw. inwiefern ἡ Τροία mit τὸ Ἴλιον (oder auch ἡ Ἴλιος) gleichgesetzt werden kann, s. Mannsperger, 2002, 852 f, der sich für „ein organisches Nebeneinander von Troia als Land und Siedlungszentrum der Troianer und Ilios als städtischer Mitte“ ausspricht (ebd. 853). Ungeachtet dieser differenzierenden, wissenschaftlichen Außenperspektive erschei-nen in den antiken Quellen die beiden topographischen Bezeichnungen oft als austauschbar.

2 Apollod. 3,143; die Vorgeschichte von der Kuh in 3,142. Text nach Scarpi/ Ciani, 1998 (die neue Apollodoros-Edition von Cuartero stand dem Verfasser nicht zur Verfügung).

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Angekommen beim sogenannten Hügel der phrygischen Ate aber legt sie [sc. die Kuh] sich nieder. Dort gründete Ilos eine Stadt und nannte diese Ilion; als er zu Zeus gebetet hatte, daß ihm irgendein Zeichen erscheinen möge, erblickte er bei Tage das vor dem Zelt lie-gende, vom Himmel herabgefallene Palladion3.

In diesem textlichen Abschnitt, dessen Erschließung und Interpretation zunächst eine Aufgabe der Philologie(in diesem Fall der Gräzistik) ist, steckt ein den Text strukturierendes, stofflichesHandlungsgerüst, das sich folgendermaßen darstel-len läßt:

– Kuh kommt zum Ate-Hügel – Kuh legt sich dort nieder – Ilos gründet eine Stadt – Ilos nennt die Stadt Ilion – Ilos bittet Zeus um ein Zeichen

– Ilos erblickt nach Tagesanbruch das Palladion vor seinem Zelt – Palladion ist vom Himmel herabgefallen

Dieses Handlungsgerüst in der Reihenfolge der Handlungsschritte, wie sie im Text nacheinander vorkommen, wird in der Narratologie unter anderem als plot bezeichnet (vgl. französisch discours oder récit, russisch sjužet, deutsch u. a. „Er-zählung“)4.

Nun wird in einem Text die Abfolge der Handlungsschritte oft nicht in ihrer chronologischen Reihenfolge wiedergegeben; Genette bezeichnet diese „ver-schiedenen Formen von Dissonanz zwischen der Ordnung der Geschichte ( hi-stoire) und der der Erzählung (récit)“ mit dem Terminus der „narrativen Anachro-nien“5. Folglich ist zu unterscheiden zwischen dem plot in seiner konkreten, textlichen, gegebenenfalls kunstvoll angeordneten Präsentation (im ordo artifi-cialis) und seiner natürlichen chronologischen Abfolge (im ordo naturalis bzw.

nach der ἀκολουθία πραγμάτων). Für diesen zweiten Stoffbegriff existieren in der Literaturwissenschaft ebenfalls verschiedene Bezeichnungen; im Englischen hat sich dafür weithin die Bezeichnung story durchgesetzt (vgl. französisch histoire,

|| 3 „Palladion“ ist die Bezeichnung für die Statue der Schutzgottheit einer Stadt; ein ursprüngli-cher Bezug auf „Pallas“ Athene ist nicht gesiursprüngli-chert; s. dazu Näheres in Kapitel 17.2.

4 Im deutschen Sprachraum findet man dafür unterschiedliche Bezeichnungen; vgl. Martínez, 2003, 92, der dafür die Bezeichnung „Fabel“ vorschlägt, was insofern etwas problematisch ist, als im russischen Formalismus fabula für den Stoff in seiner chronologischen Reihenfolge ver-wendet wird; Schmid, 2014, 225, verver-wendet die Bezeichnung „Erzählung“. Zur Forschungsge-schichte und den verschiedenen Terminologien s. die konzise Zusammenfassung bei Schmid, 2007, 104-107.

5 Genette, 2010, 18.

im russischen Formalismus fabula, deutsch „Geschichte“)6. In unserem Textbei-spiel erfolgt die Information, daß das Palladion vom Himmel herabgefallen ist, erst am Ende des Abschnittes, obwohl der Vorgang selbst eindeutig früher ange-setzt werden muß: Wenn Ilos das „herabgefallene Palladion“ erblickt, muß es bereits vor dieser Sichtung herabgefallen sein.

Ein etwas komplexeres Problem ergibt sich bei der Frage nach der chronolo-gischen Einordnung der Gründung und Benennung von Ilion durch Ilos: Sind diese Gründungsakte vor oder nach dem Herabfallen des Palladions anzusetzen?

Rein von der Reihenfolge im Text her betrachtet, werden sie vor dem Herabfallen des Palladions genannt; somit könnte Ilos auf das Zeichen der sich niederlassen-den Kuh hin die Stadt gegründet und benannt haben, und erst nach der Grün-dung der Stadt wäre dann das Palladion herabgefallen. Warum auch sollte Ilos zwei Zeichen benötigen, bevor er eine Stadt gründet?

Gegen eine solche Interpretation aber sprechen mehrere Gründe. Zum einen bittet Ilos Zeus um ein „Zeichen“ (σημεῖον). Für was aber sollte dies Zeichen die-nen, wenn nicht für die Gründung einer Stadt? Im Kontext wird nichts anderes erwähnt, wofür sonst Ilos ein Zeichen hätte benötigen sollen. Daß Ilos das Palla-dion nicht als Zeichen, sondern zum Schutz der bereits gegründeten Stadt von Zeus erfleht, davon ist ebenfalls im Text nicht andeutungsweise die Rede. Zum anderen wird durch die Zeitangabe, daß Ilos das herabgefallene Palladion „bei Tage“ (μεθ’ ἡμέραν)7 vor seinem Zelt erblickt, implizit deutlich, daß zwischen der Ankunft an dem Ort, wo die Kuh sich niedergelegt hat, und dem Erblicken des Palladions nur eine Nacht vergangen ist, in der die Stadtgründung kaum abge-laufen sein kann. Somit ist die Erwähnung der Gründung und Benennung von

|| 6 Vgl. Asmuth, 2000, 6: „Rohstoff, engl. story; gestalteter Stoff, engl. plot“. Manchmal wird für

story ebenfalls der Begriff plot verwendet, so daß von der Bezeichnung her nicht immer zwischen plot (1) als Stoff im ordo artificialis und plot (2) als Stoff im ordo naturalis unterschieden wird. Zur Unterscheidung von „Fabel“ und „Sujet“ im russischen Formalismus s. Tomaševskij, 1985, 218:

„Die Motive bilden, indem sie sich miteinander verbinden, die thematische Verknüpfung des Werkes. Unter diesem Aspekt ist die Fabel die Gesamtheit der Motive in ihrer logischen, kausal-temporalen Verknüpfung, das Sujet die Gesamtheit derselben Motive in derjenigen Reihenfolge und Verknüpfung, in der sie im Werk vorliegen.“ Eine andere Herangehensweise an die Unter-scheidung von story und plot liegt der Arbeit von Forster zugrunde, der die begriffliche Differen-zierung nicht primär an der Gestaltung der Stoffchronologie (ordo naturalis vs. ordo artificialis) festmacht, sondern nur am Vorhandensein oder Fehlen einer kausallogischen Verknüpfung;

vgl. Forster, 1927, 87: „We have defined a story as a narrative of events arranged in their time-sequence. A plot is also a narrative of events, the emphasis falling on causality. ‘The king died and then the queen died’, is a story. ‘The king died, and then the queen died of grief’, is a plot.“

7 Vgl. zu μεθ’ ἡμέραν Scarpi/ Ciani, 1998, 586 („sul far del giorno“).

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Ilion offensichtlich die proleptische Zusammenfassung eines Vorganges8, der erst nach dem Herabfallen des Palladions anzusetzen ist – auf die auffällige und daher etwas seltsame Doppelung der Zeichen wird später noch zurückzukommen sein9. Die story, die unserem Text zugrundeliegt, ist daher so zu rekonstruieren:

– Kuh kommt zum Ate-Hügel – Kuh legt sich dort nieder – Ilos bittet Zeus um ein Zeichen

– Palladion fällt nachts vom Himmel herab

– Ilos erblickt nach Tagesanbruch das Palladion vor seinem Zelt – Ilos gründet eine Stadt

– Ilos nennt die Stadt Ilion

In der literaturwissenschaftlichen Narratologie ist inzwischen ein noch weiter ausdifferenziertes Modell entwickelt worden, das an dieser Stelle noch einmal zwischen der „Geschichte“ (story)und dem „Geschehen“ unterscheidet10, wobei unter „Geschehen“ die Gesamtheit der räumlich wie zeitlich unbegrenzten Hand-lungen, Situationen und Figuren zu verstehen ist, aus denen die story wiederum nur einen ausgewählten Abschnitt zum Inhalt hat – und selbst dieser Ausschnitt behandelt nicht alles, was im Zusammenhang mit der story steht, sondern wie-derum nur einen Teil davon. Der obige Textabschnitt hat eine Vorgeschichte (wie Ilos zu der Kuh kommt) und eine Fortsetzung (Hochzeit des Ilos), und selbst der gewählte Ausschnitt übergeht beispielsweise, wie genau man sich den Vorgang vorzustellen hat, in dessen Verlauf das Palladion vom Himmel herabgefallen ist, und daß dies offenbar bei Nacht geschah. Dieses Beispiel wird an verschiedenen Stellen dieser Arbeit nochmals in den Blick kommen11.

|| 8 In hymnischen Texten und auch in Epen sind Prolepsen eine häufig anzutreffende Erzähltech-nik. Oft zeigen solche Prolepsen etwas an, worauf es in dem jeweiligen Stoff besonders ankommt. Vgl. etwa Psalm 47, wo Gott bereits am Anfang als großer König über die ganze Erde gepriesen wird (47,2 f), während die Erwähnung der Thronbesteigung erst in 47,9 erfolgt.

9 S. Kapitel 8.2.

10 Schmid, 1982; ihm folgt weitgehend Martínez, 2003, 92; s. auch die zusammenfassende Dar-stellung bei Schmid, 2007, 104-107, und Schmid, 2014, 224 f, mit einer schematischen Übersicht.

11 S. dazu die Hinweise in Anm. 7 von Kapitel 1.1.

3.2 Der Stoff und die Stoffe in Ovids Metamorphosen:

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