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Stoffkonglomerate: „Den“ Oidipus-Mythos gibt es nur bei den Strukturalisten

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 184-188)

8 Stoffgrenzen: Zur Abgeschlossenheit und Abgrenzung von Stoffen bzw. Stoffvarianten

8.4 Stoffkonglomerate: „Den“ Oidipus-Mythos gibt es nur bei den Strukturalisten

bisher unvorhergesehene Ereignisse stattfinden (Kriterium einer anderen Hand-lung/ Thematik) und in diesem Zusammenhang neue Figuren auf den Plan tre-ten, die nach Verlassen des Ortes wiederum keine Rolle mehr für den weiteren Gang der Handlung spielen (Änderung im Bestand der Figuren), dann häufen sich die Kriterien, nach denen hier die Ortsveränderungen, zusammengenom-men mit den weiteren sich ändernden Faktoren, als Markierungen für Stoffgren-zen gelten können, daß also die an den verschiedenen Örtlichkeiten lokalisierten stofflichen Geschehnisse nicht notwendige Glieder in einer Kette eng aufeinan-der bezogener und voneinanaufeinan-der abhängiger Handlungsschritte darstellen, son-dern daß sie eine von dem stofflichen Rahmen unabhängige bzw. leicht trenn-bare Eigenständigkeit besitzen.

Der Rahmenstoff bzw. die Rahmenhandlung ist in einem solchen Fall (ebenso wie die in diesen Rahmen eingeflochtenen Einzelstoffe) wiederum als ein Einzelstoff mit einer Eigenständigkeit anzusehen, auch wenn diese zu einer blo-ßen Klammerfunktion verblaßt sein mag wie dies bspw. bei den Canterbury Tales von Geoffrey Chaucer der Fall ist. In anderen Fällen ist die Wichtigkeit und Ei-genständigkeit des Rahmenstoffes deutlicher. Die Argonauten fahren nach Kol-chis, um das Goldene Vlies zu holen – das ist ein stofflicher Rahmen, der unbe-streitbar einen eigenen Stoff abgibt, in den dann, bemessen an den oben in Kapitel 8.1 genannten Kriterien, weitere Einzelstoffe von einer ebenso unbestreit-baren Eigenständigkeit eingeflochten sind. Odysseus fährt von Troia zurück nach Ithaka und muß dort um seine alte Position kämpfen – und in diesen eigenstän-digen Rahmenstoff sind etliche weitere Stoffe in Form von „Reisestationen“ ein-gebettet, die selbst wiederum eigenständige, in sich abgeschlossene stoffliche Einheiten darstellen18.

8.4 Stoffkonglomerate: „Den“ Oidipus-Mythos gibt es nur bei den Strukturalisten

Im Zusammenhang mit dem Thema von Abgrenzungen von (mythischen) Stoffen gilt es abschließend, auf eine Ungenauigkeit im Sprachgebrauch hinzuweisen – und diese möglichst zu vermeiden. Nimmt man für eine wissenschaftlich

belast-|| 18 Auf der Textebene können diese in eine Rahmenhandlung eingewobenen Stoffe wie etwa im Fall der homerischen Odyssee bspw. durch Vor- oder Rückverweise kunstvoll aufeinander bezo-gen sein, was aber nichts an der prinzipiellen Eibezo-genständigkeit der solchermaßen miteinander verwobenen Stoffe ändert.

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bare Abgrenzung von (mythischen) Stoffen bzw. konkret vorliegenden Stoffvari-anten die in Kapitel 8.1 angeführten Kriterien zu Hilfe, dann führt dies notwendig zu einem Stoffbegriff, der den Untersuchungsgegenstand eher enger als zu weit zu fassen sucht. Dies wiederum bedeutet:

→ Bei allen Zyklen oder nach Protagonisten oder bestimmten Ereignissen zusammengestellten Stoffen handelt es sich nicht um Stoffe, sondern um Stoffkonglomerate19.

Die Rede von dem Mythos vom Troianischen Krieg, von dem Oidipus-Mythos oder dem Herakles-Mythos20, von dem Innana-Mythos oder dem Gilgameš-Mythos ist jeweils zwar als abkürzende und erste Annäherung an das Gemeinte in einer all-täglichen Kommunikationssituation praktisch, unter stoffanalytischen Gesichts-punkten aber weder präzise noch hilfreich. Jede in sich abgeschlossene Erzäh-lung bspw. von Taten der Göttin Innana oder aus dem Leben des Oidipus oder des Gilgameš ist jeweils als eine in sich abgeschlossene Handlung und somit als ein mythischer Stoff zu behandeln.

Anhand der Überlieferungen etwa zu Gilgameš läßt sich der Unterschied zwi-schen Einzelstoffen und einem Stoffkonglomerat auch textlich greifen: Während das akkadische Gilgameš-Epos in einem großen epischen Erzählkranz mehrere mit Gilgameš assoziierte Stoffe kunstvoll zusammengeführt hat, sind in sumeri-schen Epen über Gilgameš kleine, in sich abgeschlossene und getrennt überlie-ferte Stoffe behandelt worden21.

Daß man zwischen einem mythischen Stoff und einer mythischen Figur un-terscheiden muß, darauf hat im Übrigen bereits Aristoteles in seiner Poetik in al-ler Deutlichkeit hingewiesen. Es gibt, so Aristoteles, nicht den Herakles- oder

|| 19 Oder „Stoffkombinationen“; vgl. zur Sache bereits Müller, 1825, 218 f.

20 So spricht bspw. Csapo, 2005, mehrmals von dem Herakles-Mythos (z. B. 302, 304), und meint damit die Gesamtheit der sich um Herakles rankenden Stoffe (die auch nicht unterschie-den werunterschie-den von unterschie-den zahlreichen, jeweils verschieunterschie-denen konkreten Stoffvarianten).

21 Vgl. etwa zum Einzelstoff von der Erschlagung des Huwawa durch Gilgameš exemplarisch die Untersuchung von Fleming/ Milstein, 2010, die auch ältere akkadische Überlieferungsstufen postulieren; allgemeiner zur Zusammenführung verschiedener Einzelstoffe im Gilgameš-Epos s.

George, 2003, 3-70. Einzeln überlieferte Gilgameš-Stoffe stecken bspw. in den sumerischen Epen Gilgameš und Akka (nicht ins babylonische Epos eingearbeitet), Gilgameš und Huwawa, Gilgameš und der Himmelsstier, Gilgameš, Enkidu und die Unterwelt, Der Tod desGilgameš (in völliger Ab-wandlung hat letzterer Stoff Spuren im babylonischen Epos hinterlassen, wo es vom Tod des Enkidu handelt). Allgemein zur Zusammenführung mehrerer mythischer Stoffe zu einem Kon-glomerat als Phänomen im Bereich sumerischer Mythen s. Rodin, 2014, 34, mit Literaturhinwei-sen auf entsprechende AnalyLiteraturhinwei-sen.

Theseus-Stoff, sondern viele Stoffe, die sich um Herakles bzw. Theseus ranken, und es sei ein Fehler, wenn Dichter eine ganze Herakleïs oder Theseïs dichten würden, weil sie meinen, eine Figur entspräche einem Stoff22. Eine Einheitlichkeit nur in Bezug auf den Protagonisten ist kein alleiniges Kriterium für die Einheit-lichkeit eines Stoffes bzw. einer konkreten Stoffvariante.

Die Rede von bspw. „dem“ Oidipus-Mythos hat wissenschaftlich nur dann einen Sinn und seine Berechtigung, wenn man einen dezidiert strukturalisti-schen Standpunkt vertritt. Hier spielen Stoffabgrenzungen insofern keine Rolle, als alle mythischen Stoffe einer bestimmten Kultur als Ausdrucksformen von tieferen Bedeutungsstrukturen in einem prinzipiell als geschlossen vorgestellten kulturellen Bedeutungssystem vorgestellt werden, analog zu dem „System“ einer einzelnen Sprache, in der die Bedeutungen aller Worte als miteinander verfloch-ten und aufeinander bezogen angesehen werden23. Deshalb können Lévi-Strauss und seine Nachfolger von ihren theoretischen Voraussetzungen her mit Recht von „dem“ Oidipus-Mythos reden und für eine strukturalistische Analyse nicht nur unterschiedslos alle Stoffe, die sich um Oidipus ranken, zu einer Synopse zu-sammenführen, sondern darüber hinaus auch noch Stoffe, die von Oidipus’ Vor-fahren und ihren Taten handeln24. Auf die Spitze getrieben erscheint ein solcher Ansatz, wenn er von Scheid und Svenbro sogar auf die vielschichtige Figur des Herakles angewendet wird. Die zahlreichen mit Herakles verbundenen Stoffe werden von den beiden Autoren als „ein relativ umfangreiches Narrativ“ angese-hen25, als eine zusammengehörige Einheit, die unter einer (terminologisch

un-|| 22 Aristot. poet. 8,1451a16-22: Μῦθος δ' ἐστὶν εἷς οὐχ, ὥσπερ τινὲς οἴονται, ἐὰν περὶ ἕνα ᾖ· πολλὰ γὰρ καὶ ἄπειρα τῷ ἑνὶ συμβαίνει, ἐξ ὧν ἐνίων οὐδέν ἐστιν ἕν· οὕτως δὲ καὶ πράξεις ἑνὸς πολλαί εἰσιν, ἐξ ὧν μία οὐδεμία γίνεται πρᾶξις. διὸ πάντες ἐοίκασιν ἁμαρτάνειν, ὅσοι τῶν ποιητῶν Ἡρακληίδα Θησηίδα καὶ τὰ τοιαῦτα ποιήματα πεποιήκασιν· οἴονται γάρ, ἐπεὶ εἷς ἦν ὁ Ἡρακλῆς, ἕνα καὶ τὸν μῦθον εἶναι προσήκειν.

23 Vgl. die grundsätzlichen Ausführungen zu den Prinzipien einer strukturalistischen My-thenanalyse bei Vernant, 1987, 134-136 (allgemein) und 229-235 (dort v. a. zu Lévi-Strauss), u. a.

134: „Verglichen wird nun innerhalb des untersuchten Kulturbereichs selbst … Der Vergleich ist nur in dem Maße gültig, wie er mit der Konstitution eines Untersuchungsfeldes einhergeht, das Vollständigkeit und innere Kohärenz ausreichend gewährleistet.“ Zum linguistischen Hinter-grund strukturalistischer Mythostheorien s. ausführlicher Csapo, 2005, 181-189.

24 S. Lévi-Strauss, 1955. S. dazu Csapo, 2005, 225 f. Der Ansatz, alle mit Oidipus verbundenen Stoffe in strukturalistischer Tradition als Einheit aufzufassen und zu interpretieren findet sich bspw. auch bei Scheid/ Svenbro, 2017, 21-25, die sich dabei stark auf Vernants Analysen bezie-hen.

25 Scheid/ Svenbro, 2017, 177; Kursivierung C. Zgoll.

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scharfen) Heranziehung von Bezeichnungen aus dem Bereich literaturwissen-schaftlicher Gattungsbegriffe von ihnen unter anderem auch als „Herakles-Sage“

oder als das „Heldenepos“ des Herakles bezeichnet wird26.

Hinter der Annahme, prinzipiell alle Elemente aller mit einer mythischen Fi-gur verknüpften Stoffe und deren Varianten (oder sogar noch angrenzender Stoffe und ihrer Varianten) ließen sich in ihrer Relationalität sinnvoll auf einen einheitlichen Deuthorizont beziehen, verbirgt sich freilich eine grundsätzliche Problematik. Auf diese soll später noch genauer eingegangen werden27.

|| 26 Scheid/ Svenbro, 2017, 184 bzw. 178.

27 S. Kapitel 15.4.1.

Open Access. © 2019 Zgoll, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz.

https://doi.org/10.1515/9783110541588-009

9 Stoffvergleiche: Skizzierung einer

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 184-188)

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