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7 Stoff und Stoffschema: Weitere Differenzierung des Stoffbegriffs

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 159-162)

Open Access. © 2019 Zgoll, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz.

https://doi.org/10.1515/9783110541588-007

7 Stoff und Stoffschema: Weitere Differenzierung des Stoffbegriffs

7.1 Die Suche nach der Urversion angesichts des Themenfeldes Mündlichkeit und Schriftlichkeit

Von der Problematik bei der Suche nach einer Urversion von mythischen Stoffen war bereits die Rede, doch ist hier noch einmal darauf zurückzukommen. schärft wird diese Problematik noch dadurch, daß mythische Stoffe vor ihrer Ver-schriftung aller Wahrscheinlichkeit nach längere Zeit hindurch mündlich tradiert worden sind. Ein Fall, in dem der ikonographische Befund einen Hinweis darauf liefert, daß ein Stoff lange vor der frühesten bezeugten Verschriftung bekannt war, ist bspw. beim Etana-Mythos gegeben. Die ältesten schriftlichen Quellen stammen aus dem 18. Jahrhundert v. Chr., aber es existieren bereits aus der alt-akkadischen Zeit (23./ 22. Jh. v. Chr.) Rollsiegel, bei denen es zumindest wahr-scheinlich ist, daß sie Varianten des Etana-Stoffes darstellen sollen (s. dazu auch Abb. 3 in Kapitel 11.1)1.

Bei aller Plausibilität ist die These, daß vor einer Verschriftung mythischer Stoffvarianten grundsätzlich eine Phase der oralen Überlieferung stand, freilich nicht letztlich beweisbar. Daran ändert auch das Etana-Beispiel nichts, denn selbst hier kann man noch annehmen, daß der Stoff zuerst verschriftet wurde, noch vor den Darstellungen auf den Rollsiegeln, nur daß die ältesten textlichen Quellen nicht erhalten geblieben sind2. Selbst wenn man eine Tonaufzeichnung bspw. der Erzählung über Hybris und Bestrafung der Niobe aus der Antike fände,

|| 1 S. dazu Boehmer, 1965, 122 f; Haul, 2000, 40-44; A. Zgoll, 2002; Rohn, 2011, 87; weitere

Hin-weise auf die kontroverse Diskussion zu Etana-Darstellungen auf akkadezeitlichen Siegeln ver-danke ich G. Gabriel: Alster, 1989, 83; Steinkeller, 1992, 252-255; Bernbeck, 1996, 176-178;

Hrouda, 1996, 158 f; Selz, 1998, 153 f; Westenholz, 1999, 80-82; Nadali/ Verderame, 2008, 311. Ein Abdruck wichtiger Rollsiegel-Darstellungen bspw. im (nicht paginierten) Anhang von Kinnier Wilson, 2007, Plates XIV-XV. Zur Problematik bildlicher Quellen s. bereits die Ausführungen in Kapitel 2.2.

2 Zum Problem des Überlieferungszufalls in Bezug auf die altorientalischen Quellen s. allge-mein Bottéro, 2001, 24 f, und exemplarisch A. Zgoll, 2006a, 18 f.

in welcher der Erzähler zudem einleitend die Information gäbe, daß er im Folgen-den eine ganz neue, bisher nie gehörte Geschichte zu Gehör bringen wolle, dann ließe sich wiederum die Richtigkeit dieser Information unmöglich verifizieren.

Umgekehrt wäre das mehr oder weniger zeitgleiche Auftauchen einer beson-deren historischen Konstellation oder Problemlage zusammen mit einer Text-quelle, in der sich ein bis dahin nicht bezeugter mythischer Stoff findet, der ge-nau auf diese historische Situation Bezug nimmt, auch kein Beweis für die gegenteilige Annahme, nämlich daß eine Verschriftung an erster Stelle steht.

Selbstverständlich könnte auch in einem solchen Fall eine Phase der mündlichen Überlieferung der Verschriftung vorangegangen sein, und wenn sie auch noch so kurz gewesen sein mag.

Es entsteht somit eine Art Patt-Situation, denn letztlich lassen sich weder die Priorität der Verschriftung noch die Priorität einer mündlichen Tradierung hieb- und stichfest beweisen. Die Unbeweisbarkeit einer vorgängigen mündlichen Überlieferung mythischer Stoffe und die Unberechenbarkeit des Überlieferungs-zufalls in Bezug auf eventuell ihrerseits prioritäre, aber verlorene Textquellen ist allerdings nur scheinbar ein Problem. Die Problematik bei der Suche nach einer Urversion geht noch tiefer; es soll darauf in Kapitel 7.2 näher eingegangen wer-den.

Vorerst soll es genügen, daß die Annahme einer vorgängigen oralen Tradie-rung mythischer Stoffe, auch wenn sie letztlich unbeweisbar bleibt, viel für sich hat. Geschichten werden in antiken Kulturen erst erzählt, dann aufgeschrieben worden sein. Und auch parallel zur schriftlichen Überlieferung wird es weiterhin einen breiten Strom an mündlicher Überlieferung gegeben haben. Für diese An-nahme der Priorität mündlicher Überlieferung, die oft schlicht als selbstverständ-lich vorausgesetzt wird3, sollen im Folgenden einige Gründe zusammengetragen werden.

Zunächst einmal ist es wesentlich einfacher, Inhalte mündlich als über den Umweg der Schrift zu kommunizieren. Das gilt sowohl inner- als auch interkul-turell. Für einen schriftlichen Transfer ist mehr an Wissen, Material und nicht zu-letzt Ausgaben nötig als für einen oralen Transfer. Schon rein mnemotechnisch betrachtet ist es ein viel höherer Aufwand, einen Text auswendig zu lernen, als wenn man einen Stoff in einer bestimmten Variante nur in groben Zügen und mit Gestaltungsspielraum wiederzugeben hat4, und entsprechend ist es wesentlich material- und zeitaufwändiger und bedarf eines höheren Bildungsgrades, eine

|| 3 Vgl. etwa Powell, 2009, 66.

4 Vgl. Burkert, 1982, 63: „Wir können uns, wie jeder weiss und erfahren kann, eine Erzählung ohne weiteres durch einmaliges Anhören ‘merken’, ohne dass wir einen Text memorieren …“

Suche nach der Urversion – Mündlichkeit und Schriftlichkeit | 137

Stoffvariante zu verschriften oder einen schon existierenden Text erneut abzu-schreiben und ihn so in materialisierter Textform im Gepäck mitzuführen, als im geselligen Miteinander eine Stoffvariante in ungefähren Umrissen zu rezipieren und sie später aus dem Gedächtnis nachzuerzählen.

Von daher ist es klar, daß in den antiken Kulturen die Wanderung von oral vermittelten Stoffen bzw. ihren Varianten in einem sehr viel größeren Umfang stattgefunden haben wird als eine Wanderung von Texten5. Das gilt innerkultu-rell und erst recht interkultuinnerkultu-rell, da dort die jeweils unterschiedlichen Sprachen und Schriften noch zusätzliche Barrieren darstellten. Ein Grieche auf einer Han-delsreise oder auf einer militärischen Expedition konnte aller Wahrscheinlichkeit nach einen Text in Keilschrift und im babylonischen Dialekt des Akkadischen gar nicht erst lesen und dann noch verstehen oder ihn gar (in Keilschrift!) abschreiben oder (auf Babylonisch) auswendig lernen. Viel eher wird er von der Variante ei-nes mythischen Stoffes auf dem Umweg über Dolmetscher von Gastgebern oder über erbeutete Sklaven oder angeheiratete Frauen aus der Fremde hören6. Direkt und zweifelsfrei nachweisbare intertextuelle Bezüge zwischen verschiedenen Kulturen sind über die Schrift- und Sprachgrenzen hinweg somit a priori nur sel-ten zu erwarsel-ten7. Das heißt allerdings umgekehrt, daß für jede sicher identifi-zierte intertextuelle Anspielung zwischen zwei Kulturen ein Vielfaches an inter-stofflichen Austauschprozessen angenommen werden muß8.

|| 5 Zu vorwiegend mündlichen Übertragungswegen hinsichtlich der vorderorientalisch-griechi-schen Kontakte s. Graf, 1985, 90-92. Zum Primat der Mündlichkeit selbst noch bis in die helleni-stische Zeit Griechenlands vgl. Bauks, 2012, 2.4.2 (mit Literaturhinweisen): „Wenigstens bis zum Beginn der hellenistischen Zeit ist davon auszugehen, dass es zwar Schriftwerke gab, diese aber lediglich der Ausbildung sehr weniger Personen dienten, während die Allgemeinheit Überliefer-tes nur durch Hören z. B. des auswendig Gelernten und Rezitierten wahrnahm.“

6 Vgl. zu diesen eher oralen als textbasierten Übertragungswegen auch Fox, 2011, 142, 276, 314, 322 und 419. Zu einer weiteren Differenzierung s. Ong, 1982, der neben „orally based thought“

auf der einen Seite und „chirographically based, typographically based, and electronically ba-sed thought“ auf der anderen Seite unterscheidet (ebd. 36).

7 Vgl. Bauks, 2012, 2.4.2, wonach „eine materiell gestützte Rekonstruktion von Überlieferungs-wegen nicht nur Überlieferungs-wegen der oft ungleichen Fundlage von Texten, sondern auch mangels schrift-licher Fixierung nur im Ausnahmefall möglich ist“.

8 Dies arbeitet in aller Deutlichkeit Henkelman, 2006, 809-815, in Hinblick auf die Kontakte zwi-schen Altem Orient und Griechenland heraus. Vgl. ebd. 810: „A direct relationship between texts is a rarity. … it is essential to realise that the actual intercultural connection is in most cases that between an oral tradition in the Near East and an oral tradition in Greece. … It is not between the texts themselves, but between the oral traditions, from which just the tip of the iceberg is revea-led, that a direct relation may be assumed. In fact, one needs to take one further step, for the plural ‘oral traditions’ is not entirely correct. When we assume that stories spread, like an oil-stain on the ocean surface, slowly from village to village and between people that were in close

Wenn sich eine vorgängige mündliche Überlieferung mythischer Stoffe aber als sehr wahrscheinlich herausstellt, dann wird deutlich, daß der Versuch der Wiederherstellung von Urversionen von vornherein problematisch ist. Im gün-stigsten Fall sind Rekonstruktionen der Beschaffenheit solcher mündlichen Vor-stufen plausibel, aber sie werden doch immer äußerst hypothetisch bleiben müs-sen. Jamme verfolgt in seiner philosophisch ausgerichteten Arbeit zum Mythos unter anderem die Absicht, Impulse aus der Ethnologie aufzugreifen und die ver-ändernden Auswirkungen zu betonen und herauszuarbeiten, die schriftliche Fi-xierungen und damit die Herauslösung von Mythen aus ihren „ursprünglichen“

oralen Kontexten gehabt haben müssen9. So wenig sich diese These grundsätz-lich bezweifeln läßt, so betritt man doch mit den Folgerungen für die Rekonstruk-tion und InterpretaRekonstruk-tion der vorschriftlichen Stoffvarianten und der vermuteten Kontexte, in denen sie entstanden sein und gestanden haben sollen, notwendig eher unsicheren Boden. Zudem bleibt die Frage, ob sich neben den Funktionen von Mythen, die sich sicherlich durch andere Medialisierungen und Kontextuali-sierungen ändern (können), tatsächlich auch die stofflichen Strukturen ändern müssen, wenn sie medial anders dargeboten werden. Eine Notwendigkeit besteht hier sicherlich nicht.

7.2 Wäre eine Urversion die Urversion? Zuspitzung der

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 159-162)

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