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Die Standardversion: Wunsch, das Chaos zu beherrschen

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 94-102)

4 Die Suche nach „dem“ Stoff und verschiedene Lösungsvorschläge, oder: Niobes Hybris

4.4 Die Standardversion: Wunsch, das Chaos zu beherrschen

4.4 Die Standardversion: Wunsch, das Chaos zu beherrschen

Neben der Suche nach einer „vollkommenen“ Glanzversion, einer Urversion oder der Reduktion auf einen unveränderlichen „kleinsten gemeinsamen Nenner“ be-steht eine weitere Lösungsmöglichkeit auf der Suche nach „dem“ Stoff darin, daß man versucht, unter Ausschluß von besonders ausgefallenen und solitär daste-henden Stoffvarianten eine Art Vulgata des betreffenden Stoffes zu erstellen.

Eine solche Vorgehensweise ist vor allem in allgemeiner gehaltenen Lexika und Handbüchern gängige Praxis60 und beruht auf einem nur allzu verständli-chen menschliverständli-chen Drang, „Ordnung in das Chaos zu bringen“61, und daher auf einem häufig zu beobachtenden theoretischen Konzept62. So schreibt Blumen-berg einmal63: „Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres

|| 60 Vgl. etwa das am Anfang von Kapitel 4 zu Niobe gegebene Beispiel.

61 So die treffende Analyse von Fowler, 2017, 158: „Yet the bewildering variety of myth consti-tutes a challenge which mythographers from antiquity to the present day cannot resist. Their desire is to bring order to the chaos, to still the flux by finding amidst the welter of variants the one underlying myth.“

62 Die Rede vom „Kern des Mythus“, den poetische oder andere Stoffbearbeitungen vorausset-zen und im Großen und Ganvorausset-zen unverändert lassen, findet sich bereits bei Müller, 1825, 103. Vgl.

auch Henrichs’ Programm der „applied mythography, which is instrumental in establishing the essential elements of a given myth“ (Henrichs, 1987, 267), das er anhand einer Analyse „des“

Kallisto-Mythos vorführt (ebd. 254-267). Vgl. auch Giuliani, 2003, 290, der mit Blick auf griechi-sche Mythen vom „narrativen Kern einer Geschichte“ spricht, oder Junker, 2005, 38, der von den attischen Tragikern ausgehend schreibt: „Dabei bleibt der narrative Kern des Mythos zwangs-läufig unverändert.“ Masciadri, 2008, 370, schreibt, daß Mythen sich „bei aller Wandelbarkeit im Einzelnen doch immer wieder um einen gemeinsamen Kern versammeln. Dieser umfasst meist den Namen einer Hauptperson und ein Element der Handlung: Philoktet und seine Ver-wundung, die Frauen von Lemnos und ihre Mordtat, Hephaistos und seinen Sturz vom Himmel

…“ An die Möglichkeit der Rekonstruktion eines „Mythoskerns“ glaubt auch Fühmann, 1993, 421, wobei der Schriftsteller (nach einer – vergeblichen – Suche nach „dem“ Prometheus bzw.

Prometheus-Mythos) allerdings treffend auf die weitgehende Leere eines solchen rekonstruier-ten Kerns aufmerksam macht: „Das, was man die Urform eines Mythos nennen möchte, das ist weder zu entdecken noch zu rekonstruieren, man kann nur aus den verschiedenen Fassungen die übereinstimmenden Elemente herauspräparieren, die aber dann in ihrer Gesamtheit nicht mehr als eine formlose Bereitstellung bestimmter Gestalten, bestimmter Handlungen und be-stimmter Attribute sind, eine Bündelung, die durchaus verschiedene Ausdeutungen zuläßt, die erst durch die konkrete Gestaltung werthaltig werden.“

63 Blumenberg, 1984, 40; vgl. auch ebd. 165, wo von der „ikonische(n) Konstanz“ des „Kernbe-standes“ mythischer Stoffe die Rede ist. Vgl. auch ebd. 176: „… es überlebt nur, was so lange immer wieder erzählt werden kann, bis es aufgeschrieben wird“ (Gegenthese zu Blumenberg z. B. bei Parzinger, 2015, 135, wo es heißt, daß „eine Kluft von Jahrtausenden … zu überbrücken für schriftlose Kulturen unmöglich scheint“). Ähnlich wie Blumenberg bspw. auch Graf, 1985, 8:

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narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit.“ Man begegnet einer solchen Auffassung von einem in wesentlichen Punkten relativ stabil bleibenden stofflichen Grundgerüst auch bei manchen Analysten unter den Homer-Forschern, wenn sie tendenziell von einer relativ festen Struktur stofflicher Vorlagen ausgehen, die in die Konstitution der homerischen Epen ein-geflossen sein sollen, so daß diese Vorlagen in der Vorstellung fast schon in die Nähe von „Texten“ rücken, die zwar bspw. hinsichtlich stilistischer Details mit Variationen vorgetragen wurden, aber im Stoffablauf wenig Abweichungen oder Alternativen boten64.

Eine solche Vorstellung von einem im Grunde festen Handlungskern mythi-scher Stoffe scheint auch der Konzeption von Assmann zugrundezuliegen, der mit Blick auf ägyptische Mythen begrifflich unterscheidet zwischen „dem“ my-thischen Stoff, den er „Geno-Text“ nennt, und den jeweiligen Konkretionen des mythischen Stoffes, die er als „mythische Aussagen“ oder als „Phäno-Texte“ be-zeichnet65. Dabei geht Assmann offenbar davon aus, daß der mythische Stoff, der

„Geno-Text“, etwas Einheitliches ist, das auf einen bestimmten „Handlungs-kern“ zurückgeführt werden kann66: „Jedenfalls handelt es sich bei mythischen Aussagen um konkrete Realisierungen (Vergegenwärtigungen) eines Mythos.

‘Mythos’ dagegen ist etwas Abstraktes: der Kern von Handlungen und Ereignis-sen, Helden und Schicksalen, der einer gegebenen Menge mythischer Aussagen als thematisch Gemeinsames zugrunde liegt.“ Assmann und auch Blumenberg

|| Mythos sei „ein in großen Zügen festgelegter Handlungsablauf mit ebenso festen Personen“. Vgl.

auch Vöhler/ Seidensticker, 2005, 3, die sich ausdrücklich auf Blumenberg beziehen. Eine Kon-stanz mag möglicherweise bei Stoffschemata auf einer relativ abstrakten Stufe zu beobachten sein (zum Begriff „Stoffschema“ s. Kapitel 7.3), nicht aber angesichts von „Kernbeständen“ (so es solche gibt) von konkreten Stoffen; und selbst bei abstrakten Stoffschemata wird man mit Va-rianten bzw. Variationsmöglichkeiten rechnen müssen.

64 Vgl. Codino, 1970, 43, mit Blick auf die mündlich vorgetragenen Lieder im archaischen Grie-chenland: „… der Gesang wiederholt sich, indem er einer in den Hauptpunkten unveränderli-chen Linie folgt …“ Der Gedanke an eine Standardversion, von der ggf. abgewiunveränderli-chen wird, begeg-net auch sonst (v. a. implizit), vgl. bspw. Graf, 1985, 66, wo davon die Rede ist, daß man nicht immer „Homer durch eine Parallelüberlieferung kontrollieren“ bzw. bei Homer nicht immer „die durch das erzählerische Anliegen verursachten Verzerrungen erkennen“ könne (Kursivierungen C. Zgoll); explizit und prominent bei Vöhler/ Seidensticker, 2005 (z. B. ebd. 7), deren Konzept von den „Mythenkorrekturen“ wesentlich auf der Annahme von Standardversionen basiert. Die Vorstellung von festen „narrativen Kernen“ bei Mythen wird zurecht von Wodianka, 2006, 5 f, abgelehnt, mit expliziter Kritik an Vöhler/ Seidensticker (ebd. 6, Anm. 17).

65 Assmann, 1977, 37-39.

66 Assmann, 1977, 38; diese Auffassung wird auch von Burkert, 1982, 63, übernommen.

bezeichnen das von ihnen anvisierte „Grundmuster von Mythen“ an manchen Stellen auch als „Mythologem“67.

Im Bereich der griechischen Kultur kann man sogar auf ein antikes Zitat aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. verweisen, das diese Vorstellung von einer Standard-version oder „NormalStandard-version“ eines mythischen Stoffes eindeutig zu untermau-ern scheint, und auf das daher guntermau-ern zurückgegriffen wird68. Dort heißt es, man müsse als Tragödiendichter nur das Wort „Oidipus“ aussprechen, und schon wüßte das Publikum genau Bescheid: daß der Vater Laios, die Mutter Iokaste heißt, welche Söhne und Töchter er hatte und was er alles erlitten und getan hat69. Allerdings werden bei dem Verweis auf dieses Zitat gern Gattung und Kon-texte übergangen, in denen es steht. Es handelt sich nämlich nicht um ein Zitat von einem antiken Literaturtheoretiker wie etwa Aristoteles, Longinos oder Demetrios, sondern von einem Komödiendichter namens Antiphanes. Außerdem hat Antiphanes diese Worte nicht etwa in einem Brief über sein schriftstelleri-sches Wirken oder in einem theoretischen Traktat geäußert, sondern sie entstam-men einer Komödie. Soweit dies das Fragentstam-ment, das von dieser Komödie erhalten ist, überhaupt erkennen läßt, beschwert sich hier allem Anschein nach der als Figur in der eigenen Komödie auftretende Dichter darüber, wie schwer es doch die Komödiendichter im Gegensatz zu den Tragödiendichtern hätten. Die Tragö-diendichter bräuchten sich nur vorgefertigter Stoffe zu bedienen, die jedes Kind kennt, und wenn sie nicht weiter wüßten, so ließen sie eben einen deus ex ma-china auftreten. Wieviel schlechter seien doch im Vergleich dazu die Komödien-dichter dran, denn sie seien gezwungen, sich auf mühevolle Weise einfach alles aus den eigenen Fingern zu saugen70. Wollte man dieses Antiphanes-Zitat so ernst nehmen, wie dies in der Forschung manchmal getan wird, dann würde man

|| 67 So Blumenberg, 1984, 166 und öfter; vgl. auch ebd. 165: „Das Mythologem ist ein ritualisierter Textbestand. Sein konsolidierter Kern widersetzt sich der Abwandlung …“; bei A. und J. Ass-mann, 1998, 187, „Mythologem“ als äquivalenter Begriff zu „Genotext“. Vgl. ähnlich auch Dia-konoff, 1995, 15, Anm. 8: „Mythologemes are plot-forming characters or situations which deter-mine the general contents of a mythological plot and may recur in semantically concordant series.“ Zu Mythologem „im Sinne eines mehr oder weniger isolierten Erzählkerns“ s. Reinhardt, 2011, 20. Bei Keim und Erdbrügger ist der Begriff „Mythologem“ noch stärker eingeschränkt und nur noch auf die kleinste, invariable Einheit eines mythischen Stoffes bezogen; dazu und zur Unschärfe bzw. zu den unterschiedlichen Verwendungsweisen des Mythologem-Begriffs s. oben Kapitel 4.3.

68 Vgl. bspw. Junker, 2005, 31; Fondermann, 2008, 94.

69 Antiphanes fr. 189 Kassel/ Austin, PCG Bd. II (besonders die Verse 5-8).

70 Vgl. den die Antithese betonenden Neueinsatz fr. 189, Verse 17-18: ἡμῖν δὲ ταῦτ’ οὐκ ἔστιν, ἀλλὰ πάντα δεῖ / εὑρεῖν … – „Unsaber so etwas nicht erlaubt, sondern alles müssen wir / erfin-den …“

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übersehen, daß hier in einer zur Gattung der Komödie passenden, deutlich über-zeichneten Manier die Annahme einer im Grunde völlig determinierten „Stan-dardversion“, die ein Tragödiendichter schlechterdings nur aufzugreifen und auszuschreiben braucht, eher karikiert als bestätigt wird.

Schon der antike Geschichtsschreiber Diodoros hat theoretisch reflektierend den Variantenreichtum als eine hauptsächliche Schwierigkeit bei der Darstellung mythischer Stoffe angeführt71; eine allgemein anerkannte „Normalversion“ ist eher ein Ausnahmefall. Das hatte im Übrigen Folgen bis in die lebensnahe Praxis.

Artemidoros von Daldis (1./ 2. Jh. n. Chr.) rät in seinem Traumbuch für den Fall, daß jemand von einem Mythos träumt, daß man bei der Auslegung des Traumes eine nach den verschiedenen existierenden Varianten differenzierende Interpre-tation vorzunehmen habe72. Eine solche Anweisung hätte Artemidoros kaum ge-geben, wenn die vorherrschende Meinung die gewesen wäre, daß im Grunde alle Varianten eines mythischen Stoffes auf eine Standardversion oder auf einen gleichbleibenden „narrativen Kern“ zurückgeführt werden könnten.

Man sieht sich bei der Annahme einer Standardversion eines mythischen Stoffes bei näherer Betrachtung tatsächlich vor ähnlich gelagerte Probleme ge-stellt wie bei der Suche nach einer Minimalversion, zum Teil sogar in noch ver-schärfter Form. Bei genauer Betrachtung ist die Frage, was als „normale“ Version eines mythischen Stoffes zu gelten hat, noch weniger als die Frage nach einer Minimalversion durch eine rein quantitative Vorgehensweise zu beantworten. Ab wann und nach welchen Kriterien sollen einzelne Handlungsschritte als „nor-mal“ oder zugehörig oder als gerade nicht mehr zugehörig zu einem bestimmten Stoff gelten? Genügt eine Beleglage von 75%, oder müssen es mehr Belege sein, oder reichen weniger? Und was macht man, wenn eine Beleglage von ziemlich genau 50% vorliegt? Schnell wird deutlich, daß quantitative Kriterien allein nur wenig Hilfe bieten.

So muß man zusätzlich zu inhaltlichen Beurteilungen greifen, aber nach wel-chen Kriterien wiederum sollen diese sich richten? Ab wann und nach welwel-chen Kriterien soll ein einzelner Handlungsschritt als „marginal“ oder eine ganze Handlungssequenz als „Sonderfall“ gelten? Wenn sie von der „Normalversion“

deutlich abweicht? Aber die Standardversion gilt es ja überhaupt erst zu bestim-men. Und da liegt die Versuchung nahe, doch wieder auf das Argument einer rein quantitativ häufigen Bezeugung zurückzugreifen.

Der Rückgriff auf die Häufigkeit der Belege ist allerdings gerade mit Blick auf die antiken Kulturen problematisch, da vieles verloren gegangen ist. So könnte

|| 71 Diod. 4,1,1.

72 Artem. 4,47; als Beispiel bringt Artemidoros den Vogel Phönix.

es durchaus sein, daß in der Antike Stoffvarianten als „normal“ galten, die aber nicht überliefert wurden, und daß unsere Textzeugen nur das bezeugen, was in der Antike als „Sondervariante“ galt. Selbst wenn es aber so wäre, daß das häufig Bezeugte auch tatsächlich dem als „normal“ Angesehenen entspräche, und daß die verschiedenen antik bezeugten Stoffvarianten ohne allzu große Schwierigkei-ten und Eingriffe zu einer Vulgata harmonisiert werden könnSchwierigkei-ten, wäre es dann nicht möglich, daß aufgrund des Überlieferungszufalls ein kompletter Stoff-strang verloren gegangen ist, der von der konstruierten Standardversion deutlich abweichen könnte und damit eben diese Konstruktion äußerst fragwürdig er-scheinen ließe, so daß man dann zumindest von zwei Standardversionen spre-chen müßte?

Man muß aber gar nicht so weit gehen, etwas zu bemühen, das man weder nachweisen noch widerlegen kann. Es gibt genügend Beispiele aus der Antike, wo sich Varianten eines Stoffes zeigen, die sich tatsächlich gravierend voneinan-der unterscheiden und damit die Suche nach einer Standardversion in einem höchst problematischen Licht erscheinen lassen. Kann man die Version von He-lenas Entführung nach Ägypten und ihre nur scheinbare Anwesenheit in Troia73 insgesamt als Sonderfall abtun, weil sie weniger geläufig erscheint? Hier ist Vor-sicht geboten, denn bei näherem Zusehen finden sich dafür nicht so wenige Be-lege, wie man zunächst denken würde, wie etwa bei Hesiod, Stesichoros, Hero-dot, Euripides und Philostratos74. Und selbst wenn sich eindeutig zeigen ließe, daß alle diese Belege letztlich auf eine einzige Quelle zurückgeführt werden könnten, was berechtigte dazu, die Stoffversion dieser Quelle als Sonderfall zu bezeichnen? Oder wenn Herakles in das Totenreich geht: Welche von den ver-schiedenen Stoffvarianten ist nun als „normal“ zu kennzeichnen, die nach der er dabei die Freunde Theseus und Peirithoos befreit oder die, nach der er nur den Theseus mit sich nimmt, oder die, nach der er keinen von beiden erlösen kann75? Um noch weiter zu gehen: Selbst wenn eine Stoffvariante in der Antike von einem bestimmten Autor explizit als abwegig beurteilt worden sein sollte, heißt dies nicht automatisch, daß sie das auch wirklich war. So wird etwa die Variante, daß Achilleus älter als Patroklos ist, in der antiken Literatur einmal explizit ver-worfen – aber aus einer ganz bestimmten Erzählerperspektive und aus einem ganz bestimmten Grund, und deshalb ist hier Vorsicht geboten. Platon formuliert

|| 73 Vgl. Apollod. 3,3-5.

74 Sammlung der Belege bei Dräger, 2005, 625; Philostr. Ap. 4,16 ist dort nicht mit aufgeführt.

Die Echtheit des Hesiod-Fragments ist umstritten. S. auch Anm. 38. Ausführlich zur Entführung der Helena und den entsprechenden Stoffvarianten Edmunds, 2016, 136-142.

75 S. zu den Belegen Anm. 36.

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dies in seinem Symposion als Kritik an Aischylos, der offenbar in einem seiner Stücke Achilleus als den Älteren dargestellt hatte76. Aber es ist wiederum nicht Platon selbst, der Aischylos kritisiert, sondern er legt diese Kritik einem der Teil-nehmer am geschilderten Symposion in den Mund, dem Phaidros. Und Phaidros führt in einer längeren Rede Beispiele für berühmte Menschen an, die von den Göttern begünstigt wurden, weil sie sich in besonderer Weise dem Gotte Eros ver-pflichtet haben wie etwa Alkestis oder Achilleus. Da aber nach Phaidros’ Mei-nung im Falle von Männerfreundschaften die Ergebenheit des jüngeren Gelieb-ten gegenüber dem älteren Liebhaber bei den Göttern in noch höherer Gunst steht als die Zugewandtheit des älteren Liebhabers zum jüngeren Geliebten, paßt ihm zu seiner Argumentation ein junger, für den älteren Patroklos in den Tod gehen-der Achilleus als besongehen-ders berühmtes Beispiel viel besser als ein junger, sich nicht aus Liebe aufopfernder und deutlich weniger berühmter Patroklos.

Man könnte noch weitere Beispiele anführen, aber es wird schon hier deut-lich, daß es nicht möglich ist, objektive Kriterien zu bestimmen, die es erlauben würden, etwas als eindeutigen Sonderfall oder im Gegenteil als normal einzustu-fen, noch nicht einmal dann, wenn kulturinterne Aussagen darüber vorliegen.

Ein solches Vorgehen erweist sich spätestens dann als unbefriedigend, wenn man sich gezwungen sieht, all die Abweichungen von der Standardversion eben zu „Abweichungen“ und damit zu „Ausnahmen“ zu erklären und zu begründen, warum ausgerechnet sie als „nicht normal“ angesehen werden sollten77. So wer-den etwa in einem bekannten Lexikon zur griechisch-römischen Mythologie die verschiedenen Überlieferungen über den Ausgang der geplanten Persephone-Entführung durch Theseus und Peirithoos folgendermaßen vereinfacht darge-stellt78: „Während Theseus später von Herakles befreit werden konnte, mußte Peirithoos als der Anstifter für immer in der Unterwelt bleiben.“ In der Wendung

„Peirithoos als der Anstifter“ liegt offenbar der Versuch, die (stillschweigend vor-genommene) Entscheidung zu legitimieren, genau diese Variante des Stoffes als Standardversion zu präsentieren und andere als weniger plausibel auszublen-den. Aber unter dem Stichwort „mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen“ wäre eine weitere Fortsetzung der Strafzeit des Mittäters Theseus mindestens ebenso einleuchtend gewesen, und auch für die Begnadigung beider Täter ließen sich

|| 76 Plat. symp. 179e-180a.

77 Diakonoff, 1995, 74, sieht eben dies als Aufgabe des Mythenforschers an: „It is actually the

‘nucleus of the myth’ that should be of interest before all when investigating mythology. But once variability has appeared, it can gradually include more and more of occasional details, whose causes are secondary …“

78 Harrauer/ Hunger, 2006, 404.

Argumente finden. Welche Version ist mit welchem Recht als die eigentliche oder plausibelste anzusehen, und welche Versionen sind demgegenüber weniger wahrscheinlich79? In einer Untersuchung zu den Quellen von Apollodoros’ Hand-buch, das auf den ersten Blick die Vielzahl griechischer Mythen in ihrer jeweili-gen Standardversion zu präsentieren scheint80, hat Söder allein schon im ersten Buch fünfzig (!) Stoffzüge identifiziert, die sich nur bei Apollodoros finden81. Es dürfte schwer fallen, hier jedesmal von Neuem die Trennlinie zwischen „normal“

und „nicht (mehr) normal“ zu ziehen.

Ein weiteres Problem bei der Bestimmung einer Standardversion liegt darin, daß es sich dabei in vielen Fällen (ähnlich wie bei der Minimalversion) um ein künstliches Konstrukt handelt, um einen „Verschnitt“ aus verschiedenen Vari-anten, also um einen „Komposit-Stoff“, der dann aber seinerseits nicht viel mehr ist als eine weitere Variante, nur mit dem Nachteil, daß sie in dieser Form mög-licherweise nicht ein einziges Mal konkret belegt ist82. Daß es problematisch ist, ausgerechnet ein solches Kunstprodukt als alleinigen Ausgangs- und Referenz-punkt für die Interpretation der anderen, tatsächlich bezeugten Varianten des Stoffes zu wählen oder sie davon ausgehend gar als Ausnahmen von einer Norm zu betrachten, liegt auf der Hand.

Somit gehen entsprechende Ansätze wie Assmanns Unterscheidung zwi-schen dem einen „Geno-Text“ und den vielen, daraus gewissermaßen „gene-tisch“ ableitbaren „Phäno-Texten“ nicht auf. „Der“ Stoff existiert nicht als fest-umrissene Einheit im Sinne eines klar bestimmbaren Handlungskerns, als eine einheitliche story, die in ihrer Grundstruktur gleichbleibt und sich nur rein äu-ßerlich, je nach der Funktionalisierung des mythischen Stoffes83, in verschiedene äußere Gewänder kleidet84. Trotzdem hat die Vorstellung von einem einheitli-chen „Grundmuster“ eines jeden mythiseinheitli-chen Stoffes generell und speziell auch

|| 79 Vgl. auch Powell, 2009, 16, in Hinblick auf den Reichtum der Varianten griechischer Mythen:

„Keine ist die ‘richtige’ Version, zu der die andere als Variation existiert …“

80 Zu diesem Anschein, der erweckt wird, unten mehr.

81 Söder, 1939.

82 Vgl. Masciadri, 2008, 367, der zwar richtig feststellt: „… bei den bekanntesten Geschichten sehen wir vollends ein Flimmern von Erzählungen, woraus schwer ein roter Faden herauszuzie-hen ist …“, der dann aber dennoch „derartige Rekonstruktionen“, wenn auch zurückhaltend, einsetzt, obwohl er die Gefahr deutlich sieht: „Wenn wir die verlorene, nirgends unmittelbar be-legte Gestalt einer Geschichte wiederherstellen, laufen wir … Gefahr, etwas zu konstruieren, das niemals zuvor existiert hat …“

83 Zum Begriff der Funktionalisierung s. Kapitel 18.4.2.

84 Vgl. für die ägyptischen Mythen treffend das Resümee bei Goebs/ Baines, 2018, 677: „Thus, a single, canonical version of Egyptian myths cannot be distilled: for as long as the world evol-ves, myths will be created or adapted to describe it.“

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Assmanns terminologische Unterscheidung zwischen „Genotext“ und „Phäno-texten“ die Mythosforschung nachhaltig beeinflusst85, obwohl von literaturwis-senschaftlicher Seite ein solches zweiteiliges Schema inzwischen zu einem Sche-ma von vier „narrativen Ebenen“ Präsentation der Erzählung (konkreter Text,

Assmanns terminologische Unterscheidung zwischen „Genotext“ und „Phäno-texten“ die Mythosforschung nachhaltig beeinflusst85, obwohl von literaturwis-senschaftlicher Seite ein solches zweiteiliges Schema inzwischen zu einem Sche-ma von vier „narrativen Ebenen“ Präsentation der Erzählung (konkreter Text,

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