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Die Freier der Penelope: Mythos als Rohstoff

2 Stoffe und ihre Konkretionen: untrennbar, aber nicht identisch

2.1 Die Freier der Penelope: Mythos als Rohstoff

Open Access. © 2019 Zgoll, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz.

https://doi.org/10.1515/9783110541588-002

2 Stoffe und ihre Konkretionen: untrennbar, aber nicht identisch

2.1 Die Freier der Penelope: Mythos als Rohstoff

Mythen sind keine Texte, sondern Stoffe. Daher sind Mythen auch keine münd-lich erzählten Geschichten. Denn auch mündmünd-lich erzählte Geschichten sind je-weils konkrete Verwirklichungen bestimmter Stoffe.

Betrachtet man Mythen als Rohmaterialien für verschiedenste Darstellungs-formen, als Erzählstoffe, die in unterschiedlichen medialen Formen konkretisiert sein können1, dann ist klar, daß für eine Abspeicherung solcher Stoffe eine große Bandbreite verschiedenster Konkretionsformen existiert. Es liegt nicht unbedingt nahe, beim Stichwort „Mythen“ etwa an Münzen, Listen, Tänze oder Sterne zu denken. Aber es sind nicht nur literarisch ausgefeilte Texte in Prosa oder Poesie, die mit Blick etwa auf die Antike als Quellen für mythische Stoffe wichtig sind, sondern daneben kommt einem breiten Spektrum weiterer Quellen ebenfalls Be-deutung zu, wie Darstellungen in Gemälden, auf Reliefs, in Form von Statuen, auf Münzen, Sarkophagen, Vasen oder Rollsiegeln, Beschreibungen von panto-mimischen Aufführungen, rituellen Handlungen oder Tänzen, Interpretationen von Sterngruppen, Inschriften, Scholien und Kommentare, Handbücher, Listen, Ritualtexte und anderes2.

Ein mythischer Stoff kann sogar in Form eines Gesellschaftsspieles konkrete Gestalt annehmen. So wissen wir etwa, daß man sich im alten Griechenland

Re-|| 1 Der Begriff „medial“ (bzw. „Medium“) wird in der vorliegenden Arbeit in einem ausgeweiteten Sinn gebraucht, also nicht nur auf einen vorrangig „technisch-materiell definierten Übertra-gungskanal von Informationen“ (ein einzelnes Medium wie etwa ein konkret vorliegendes Buch oder eine bestimmte Verfilmung etc.) bezogen (Wolf, 2002, 39, Anm. 38), sondern unter Medium wird nach der Definition von Wolf (ebd.) auch „ein konventionell als distinkt angesehenes Kom-munikationsdispositiv“ (eine „Medienart“ wie z. B. „der“ Film oder „die“ Literatur) verstanden, so daß der Begriff sowohl auf einzelne Medien als auch auf medienspezifische Gattungen und Subgattungen (bzw. „Medienarten“) appliziert werden kann.

2 Vgl. bereits in dieser Richtung das Ergebnis der theoretischen Überlegungen zu einer Mythos-definition bei Honko, 1984, 49 f. Vgl. auch Morford/ Lenardon/ Sham, 2011, 3: „A myth also may be told by means of no words at all, for example, through painting, sculpture, music, dance, and mime, or by a combination of various media …“

geln für ein Brettspiel überlegt hat, das die Situation der Freier in Homers Odys-see umsetzte, die sich auf Ithaka um die Gunst der Penelope bewarben, da Odys-seus als verschollen galt. Mehrere „Freier-Steine“ mußten dabei nach bestimm-ten Regeln um die Eroberung eines „Penelope-Steines“ kämpfen3. Und bei Ho-mers Erzählung vom Ehebruch des Ares mit Aphrodite, der Gattin des Hephais-tos, an deren Ende die (männlichen) Götter in das berühmte „homerische Geläch-ter“ ausbrechen, wird leicht übersehen, daß diese Erzählung nicht im Saal des Königspalastes und im Kontext einer Mahlfeier, sondern draußen im Freien vor-getragen wird, wo die Phaiaken ihrem Gast Odysseus demonstrieren wollen, daß sie Meister im Tanzen sind4. Das von dem Sänger Demodokos mit der Leier vor-getragene Lied wurde nach der Vorbereitung eines geeigneten Platzes durch ei-nen Tanz der Phaiaken begleitet, der offenbar durch entsprechende körperliche Bewegungen zur Darstellung des Stoffes beitrug5. Mythen überschreiten Medien-grenzen: Um diese wichtige Komponente der Transmedialität von mythischen Stoffen wird es unter anderem in dieser Arbeit gehen – nicht so sehr darum, sie zu betonen, sondern vor allem um die Folgerungen, die sich daraus für die Erfor-schung und den Vergleich mythischer Stoffe ergeben6.

Wenn Mythos nicht gleichbedeutend mit Text, ja noch nicht einmal gleich-bedeutend mit mündlich erzählter Geschichte ist, dann ist unter Mythos erst recht nicht eine bestimmte literarische Gattung zu verstehen. Mythen sind Stoffe, die in verschiedenen literarischen Gattungen bearbeitet werden können. Daraus folgt, daß es nicht möglich ist, eine detaillierte literaturwissenschaftliche Be-schreibung von „Mythos“ zu geben, jedenfalls nicht analog zu einer ausführli-chen Gattungstypologie, wie sie etwa hinsichtlich des Epos ausgearbeitet werden kann7. Das Epos als Gattung läßt sich durch Charakteristika in Bezug auf Sprache,

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3 Athen. 1,16e-17b.

4 Hom. Od. 8,250-369.

5 Dadurch rückt diese multimediale Mythos-Aufführung in die Nähe der in Griechenland später so beliebten Theaterstücke, und so könnte dieser Textabschnitt bei Homer etwas von möglichen Ursprüngen des Dramas erzählen.

6 Zum Begriff der Transmedialität und zu der Unterscheidung von Transmedialität und Inter-medialität s. Kapitel 9.2.1.

7 Dies gilt es etwa in Hinblick auf altorientalistische und bibel-exegetische Fachtraditionen zu betonen, da dort nicht selten mit „Mythen“ eine Textgruppe bezeichnet wird, die teilweise mit der Textgruppe der „Epen“ in Zusammenhang gebracht wird. Vgl. etwa den Titel des 2015 er-schienenen 8. Bandes der Reihe „Texte aus der Umwelt des Alten Testaments“: „Weisheitstexte, Mythen und Epen“, in dem es einleitend entsprechend heißt (Janowski/ Schwemer, 2015, IX):

„Ähnlich komplex wie der Mythos-Begriff ist der Begriff des Epos, der gattungstheoretisch kaum von jenem unterschieden werden kann.“ Im Hinblick auf „das babylonische

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Stil, bevorzugte Stoffe, Einsatz von Figuren, Erzähltechniken, Erzählelemente u. a. literaturwissenschaftlich und kulturspezifisch differenziert beschreiben.

Mythos als Stoff aber weist weder einen bestimmten Stil auf, noch ist damit ent-schieden, ob man den Stoff in Poesie oder in Prosa vorträgt, und auch Erzähltech-niken richten sich dann nach der jeweiligen, den Mythos „bearbeitenden“ Gat-tung. All dies sind Merkmale dieser Gattungen, nicht Merkmale der mythischen Stoffe8.

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epos Enūma elišunterscheiden Kämmerer/ Metzler, 2012, 2-4, zwar „den Inhalt (‘Mythos’) ge-genüber der Form (‘Epos’)“ (ebd. 3), verstehen dann aber doch unter Mythos „eine besondere Form des narrativen Textes“, so daß die klare Differenzierung wieder verwischt wird. Eine deut-liche Trennung von Mythos als Stoff und dessen Realisierung in verschiedenen Textgattungen nimmt hingegen Diakonoff, 1995, 125, Anm. 1, vor: „… in the same way as a plot may be extended into narratives of different kinds (a poem, an epic, a novel etc.), also the myth may.“ Vgl. zur Diskussion in der Altorientalistik, ob und inwieweit „myth as literary genre“ zu bezeichnen sei, Heimpel, 1997, 541. In den Bibelwissenschaften wird noch in jüngster Zeit „Mythos“ als „Texts-orte“ definiert, vgl. Irsigler, 2013, 2.2.1: „Ein in der Bibelwissenschaft operationabler, nach Kri-terien anwendbarer und literaturwissenschaftlich begründeter Begriff von ‘Mythos’ versteht My-thos als Textsorte, als im weiteren Sinn ‘Gattung’ literarisch gestalteter Mythentexte, wie sie im vorderaltorientalischen Überlieferungsraum und kulturellen Bereich vertreten sind …“ Vgl. auch Lux, 2014, 196: „Mythos … lässt sich als literarische Gattung von anderen Gattungen, der Le-gende, der Sage, dem Märchen und Hymnus unterscheiden. Und doch bereitet es immer wieder Schwierigkeiten, diese Gattung zu definieren.“ Aus der Märchenforschung begreift Lüthi, 2004, 6-15, „Mythus“ (u. a. mit Rückgriff auf Jolles’ „Einfache Formen“, 1930; s. ebd. 14 f) ebenfalls als literarische Gattung, die er von anderen Gattungsformen wie Sage, Legende, Fabel und Schwank abzugrenzen versucht. Zur „Gattung Mythos“ in der kulturanthropologischen Narratologie und den Versuchen, diese von anderen „einfachen“ Gattungsformen abzugrenzen und v. a. die äu-ßeren Kriterien der je kulturspezifischen Bedingungen der Performanz solcher Formen in den Blick zu nehmen vgl. auch Bendix, 2013, 61 und 68-77. Zur in diesem Zusammenhang wichtigen Unterscheidung zwischen äußerer Form (Gattung) und Inhalt (Stoff) s. ausführlich Kapitel 10.1.

8 Vgl. Lévi-Strauss, 1955, zitiert nach Barner et al., 2003, 63: „Die Substanz des Mythos liegt weder im Stil noch in der Erzählweise oder der Syntax, sondern in der Geschichte, die darin er-zählt wird.“ Vgl. auch Neuhaus, 2005, 4: „Mythus taugt nicht zum Gattungsbegriff und ist ver-zichtbar, denn Mythen finden sich in vielen Texten.“ Vgl. dagegen Irsigler, 2013, 2.2.1: „Nun kön-nen aber ‘Mythen’ als mündliche oder schriftliche Texte jedenfalls prinzipiell gattungskritisch erfasst werden.“ In welche Schwierigkeiten das führt, zeigt bspw. die von Baines, 1991, 87, mit Bezug auf ägyptische Quellen referierte Diskussion, ob Texte mit Äußerungen von Gottheiten in der 1. Person als „Mythen“ aufgefaßt werden können oder nicht – ein Problem, das sich nur dann überhaupt stellt, wenn man Mythen als Textsorte versteht, die man u. a. dadurch ausgezeichnet sieht, daß in ihr normalerweise in der 3. Person über Gottheiten erzählt wird. Vgl. auch das pro-blematische Einbringen literarischer, gattungsbezogener Merkmale in eine Bestimmung von

„Mythos“ bei Rüpke, 2013, 47, wo davon die Rede ist, daß Mythen „in der Regel nicht aus der Ich-Perspektive“ erzählen, sondern daß der „allwissende Erzähler weiß, was die unterschiedli-chen Handelnden zusammenführt“.

Diese Unterscheidung zwischen Mythos als Stoff einerseits und seiner jewei-ligen konkreten Realisierung in Form eines mündlichen Vortrages, eines ausfor-mulierten Textes, ikonographischer oder anderer Gestaltungsarten andererseits mag einfach klingen9, sie ist aber äußerst folgenreich und in ihrer Anwendung alles andere als trivial.

Nun begegnet man auf dem Feld der Mythosforschung dem Phänomen, daß sich einerseits zwar die Sichtweise auf Mythen als Stoffe zumindest weithin durchgesetzt zu haben scheint, manchmal explizit und bereits in der Mythosde-finition so formuliert10, oft auch eher nur implizit vorausgesetzt11, daß anderer-seits aber bei der konkreten „Arbeit am Mythos“12 in nicht wenigen Fällen die Trennung von Stoffen und ihren jeweiligen Ausgestaltungen, vor allem die Tren-nung von Stoffen und Texten, von einer vorliegenden Stoffvarianteund ihrer von spezifischen Intentionen und Gattungsmerkmalen wesentlich mitbestimmten textlichen Konkretion, nicht konsequent durchgeführt wird, so daß dann doch wieder Texte und nicht Stoffe analysiert und interpretiert werden. Entsprechend gehen Überblicksdarstellungen zu antiken Mythen oft nicht stoffbezogen, son-dern literaturhistorisch vor; hier stehen nicht die Stoffe im Mittelpunkt, sondern

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9 In Bezug auf den literaturwissenschaftlichen Motivbegriff ähnlich Wolpers, 2002, 75, freilich aus der Perspektive der textzentrierten Motiv- und Themenforschung nicht transmedial gedacht, sondern nur auf textliche Realisationen fokussiert: „Hinzuweisen ist zunächst auf die elemen-tare Unterscheidung zwischen dem Motiv als gedachter Einheit (auf der Vorstellungs- und Be-deutungsebene) und dem literarisch gestalteten Motiv (auf der Textebene).“

10 S. Graf, 1985, 8: Mythos sei „eine besondere Art Geschichte“, denn sie falle nicht „mit einem bestimmten Text und nicht mit einer bestimmten literarischen Gattung zusammen“; der Mythos sei „der Stoff“. Vgl. auch Wodianka, 2006, 2 f, wo betont wird, „dass sich mythische Narrationen gerade durch ihre Flexibilität in bezug auf ihre mediale Gestaltung auszeichnen … ‘Erzählung’

ist in bezug auf das Mythische also kein Gattungsbegriff, sondern bezeichnet unterschiedliche Explikationsstufen und Explikationsweisen potentiell entfaltbarer Narrationen – der (nur scheinbar konstante) ‘narrative Kern’ einer mythischen Erzählung kann in unterschiedlichen Komprimations- und Entfaltungsgraden auftreten.“ Morford/ Lenardon/ Sham, 2011, 3: „that is essentially what a myth is: a story“; Dalfen, 2014, 355: „Mythen sind Erzählstoffe“. Vgl. von der Sache her auch Burkert, 1979b, 18 („ganz verschiedene Texte, aber stets derselbe Mythos“), oder George, 2016, 8, der für die Rekonstruktion mesopotamischer Schöpfungsmythologie seine Auf-merksamkeit den „Schöpfungskonzepten“ zuwendet, die verschiedenen Texten (bspw. auch Götterlisten) zugrundeliegen.

11 Vgl. bspw. Scheer, 1993, 16 (Mythos als „Komplex tradierter Erzählungen“), oder Graf, 2000b, 633 – hier wohl der gebotenen Kürze eines Lexikon-Artikels geschuldet.

12 Auf das Buch von Blumenberg (1984) mit dem gleichnamigen Titel, das seine Bekanntheit nicht zuletzt eben seinem ansprechenden Titel verdankt, wird verschiedentlich, etwa in den Ka-piteln 4.4 und 18.4.2, noch näher eingegangen werden. Hier ist eher die wissenschaftliche als, wie bei Blumenberg, die gedanklich-literarische „Arbeit am Mythos“ gemeint.

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der vor allem diachron betrachtete Umgang mit den Stoffen in textlichen (oder ikonographischen) Quellen.

Ein Beispiel dafür ist etwa die Griechische Mythologie von Graf (1985), der zwar anfangs den stofflichen Charakter von Mythen explizit betont13 und über-haupt in einer ausführlichen Einleitung zahlreiche diesbezügliche, wichtige As-pekte zur Sprache bringt, in den Kapiteln nach der Einleitung und der Darstel-lung der Forschungsgeschichte dann aber doch wieder v. a. Texte in den Mittelpunkt seiner Ausführungen rückt wie bspw. die homerischen Epen (Kapitel III) oder die Werke Hesiods (Kapitel IV) etc. Daß hier dann doch wieder v. a. die Texte bzw. literarische Gattungen im Fokus stehen, läßt sich u. a. explizit an einer späteren Äußerung ablesen, wo es – von z. B. ikonographischen Quellen abse-hend – heißt14: „anders als in Sprache drückt sich der Mythos nicht aus, und da-mit ist er bereits den Gesetzen des Erzählens unterworfen, ist er Literatur“. Ähn-lich wie bei Graf ist bspw. auch noch A Companion to Greek Mythology von Dowden und Livingstone (2011) nicht stoffbezogen, sondern in erster Linie litera-turhistorisch aufgebaut, nimmt also nicht so sehr die Stoffe selbst in Blick, son-dern die Art und Weise des (literarischen oder ikonographischen) Umgangs mit den Stoffen15.

Einen gewissen Durchbruch stellt Der antike Mythos. Ein systematisches Handbuch von Reinhardt (2011) dar. Hier werden in einer fast herkulisch zu nen-nenden Arbeit mythische Stoffe nicht vorwiegend unter literaturhistorischen, sondern unter systematischen Gesichtspunkten präsentiert. Allerdings ist Rein-hardt wiederum spürbar nicht primär an den Stoffen im Einzelnen, sondern viel-mehr an dem hinter den v. a. griechischen mythischen Stoffen stehenden, my-thisch-religiösen Weltbild insgesamt und seinen „konstitutiven

Grundkatego-|| 13 S. oben, Anm. 10.

14 Graf, 1985, 98 (Kursivierung C. Zgoll).

15 Vgl. auch Rüpke, 2013, 55, wo es direkt im Anschluß an einen Satz, in dem von der Rettung der „Mythen“ durch das Verfahren der Allegorese die Rede ist, heißt: „Es sind nicht irgendwel-che Texte, die solirgendwel-che Behandlung erfahren“, und im Folgenden die Mythenrettung dementspre-chend gleichgesetzt wird mit einer Rettung der Texte von Hesiod und Homer. Vgl. auch Morford/

Lenardon/ Sham, 2011, die zwar einerseits den stofflichen Charakter von Mythen herausstrei-chen (ebd. 3), andererseits dann aber doch wieder Stoffebene und Textebene vermengen, z. B.

ebd. 24: „Greek and Roman mythology shares similar characteristics with the great literatures of the world …“; vgl. ebd. die Gleichsetzung des mythischen Stoffes von Oidipus mit dem literari-schen Text von Sophokles’ Oidipus-Tragödie: „the myth is the play“.

rien“16 interessiert – nicht ganz unähnlich zu dem Anliegen Cassirers in der Phi-losophie der symbolischen Formen –, das er in Form eines Entwicklungsmodells u. a. von dem Weltbild der altorientalischen Mythologien abzugrenzen versucht, indem in letzterem „das Irrationale“ dominiere, während durch das frühgriechi-sche „Schicksalsdenken … das Irrationale weitgehend begreifbar und auch halb-wegs beherrschbar“ erscheine17, und Reinhardt konstatiert resümierend18: „Die nicht mehr primär pessimistisch-fatalistische, sondern eher skeptische Weltsicht, die dieser neuen Mythenkonzeption zugrunde liegt, erweist sich in ihrer kritisch-rationalen Grundhaltung zugleich als ein erster Schritt zur Aufklärung – nach mei-ner Einschätzung eines der wichtigsten Ergebnisse der ganzen Untersuchung.“

Daß die in mythischen Stoffen steckende „Philosophie“ bzw. Weltanschau-ung ein äußerst spannender UntersuchWeltanschau-ungsgegenstand ist, soll hier ebensowe-nig in Abrede gestellt werden wie die Ansicht, daß die bleibende Faszination my-thischer Stoffe häufig wesentlich auf besonders brillanten literarischen Ge-staltungen dieser Stoffe beruht. Und doch: Wenn man Mythen als Erzählstoffe begreift, sollte man dann nicht etwas länger bei der Frage verweilen, ob es nicht auch gewinnbringend sein könnte, sie als Stoffe näher unter die Lupe zu nehmen, bevor man zu weiteren Fragen und Beobachtungen schreitet19?

„Sich nur auf die Mythen alleine zu konzentrieren“, so heißt es bspw. bei Powell, würde nur „zu einer nichtssagenden Liste aller existierenden Versionen eines Mythos“ führen; die Beschäftigung bspw. mit Achilleus sei nicht deshalb interessant, „weil er vor Troja gekämpft hat, sondern weil Homer dessen Kampf mit sich selbst auf eine Weise beschrieben hat, die uns alle als Menschen direkt anspricht“20. Unbegründet bleibt, weshalb eine Zusammenstellung aller erhalte-nen Varianten eines mythischen Stoffes notwendig nichtssagend sein soll. Weil man aber die Stoffe an sich für nichtssagend hält und voraussetzt, daß sie erst

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16 Diese fünf „konstitutiven Grundkategorien des frühgriechischen Mythos“ bestehen nach Reinhardt in einer bestimmten Art der räumlichen, zeitlichen und personalen „Fixierung“ sowie in der „grundlegenden Bedeutung des Göttlichen“ und der „Integration des Geschehens in einen göttlichen Schicksalsplan“.

17 Reinhardt, 2011, 248 (im Original das Kursive noch zusätzlich fett).

18 Reinhardt, 2011, 248 (im Original keine Kursivierungen, sondern Fettdruck).

19 Vgl. Masciadri, 2008, 361, der ebenfalls beobachtet, daß vielen Annäherungsversuchen an Mythen folgender Grundzug gemeinsam ist: „Der erzählten Geschichte als solcher gilt bloss eine Aufmerksamkeit zweiten Grades. … Wie ein roter Faden zieht sich deshalb, Signatur für die Ab-kehr von den Erzählungen selbst, durch diese ganze Erbfolge von Methoden der Verdacht, dass die Mythen im Grunde genommen falsch sind.“

20 Powell, 2009, 80.

Der Muttermord des Orestes und die literarische Falle der Mythosforschung | 31

durch ihre literarische Verarbeitung zu wertvollen Untersuchungsgegenständen werden, wendet man sich dann eben doch wieder den Texten zu21.

Das ist aus zwei Gründen nicht verwunderlich. Zum einen ist gerade bei lite-rarisch besonders ausgefeilten und herausragenden Werken die Faszination, die von den Texten ausgeht, so groß, daß es nur zu verständlich ist, wenn man der Versuchung erliegt, anstelle des mageren stofflichen Skeletts lieber das üppige textliche Fleisch einer näheren Betrachtung zu unterziehen22. Zum anderen ist die Trennung von Text und Stoff alles andere als ein simples Unterfangen23, worauf noch eigens und ausführlich eingegangen werden soll24. Und nicht zuletzt steht die Frage im Raum, was denn näherhin unter einem „Erzählstoff“ eigentlich ge-nau zu verstehen ist25.

2.2 Der Muttermord des Orestes und die literarische Falle der

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