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Fragen der Stoffabgrenzung am Beispiel der Gründung Troias

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 180-183)

8 Stoffgrenzen: Zur Abgeschlossenheit und Abgrenzung von Stoffen bzw. Stoffvarianten

8.2 Fragen der Stoffabgrenzung am Beispiel der Gründung Troias

Wenn sich ein Stoff nicht klar von einem anderen abtrennen läßt, wenn also bspw. zwei Varianten verschiedenerStoffe so stark ineinander verwoben sind oder überblendet werden, daß etwa gleich viele und gleichwertige Gründe für eine Abgrenzung am Punkt A wie für eine am Punkt B sprechen, wenn man also vor der Wahl mehrerer, jeweils durchaus plausibler Möglichkeiten steht und die verwendeten Kriterien von verschiedenen Forschern unterschiedlich gewichtet werden, handelt es sich um kein wirklich gravierendes Problem. Es kann dann zu Überlappungen oder „Schwellenzonen“ kommen, also zu vereinzelten Fällen, in denen man mit guten Argumenten an verschiedenen Stellen eine Abgrenzung vornehmen kann. Die Plausibilitäten sind hier von Fall zu Fall zu diskutieren, was aber nicht gegen die grundsätzliche Möglichkeit und Sinnhaftigkeit solcher Abgrenzungen spricht. Unschärfen in der Abgrenzung von Stoffen bzw. Stoffva-rianten hindern außerdem nicht, daß man Vergleiche vornimmt, wenn man sich primär an Ähnlichkeiten ausschnitthafter Hylemsequenzen orientiert, die man durchaus unabhängig von getroffenen Stoff-Abgrenzungen vergleichend analy-sieren kann.

Ein besonderes Problem speziell bei mythischen Stoffvarianten stellt das Kri-terium eines kohärenten Kausalzusammenhangs dar. Eine gewisse Form der Ko-härenz, oder, ganz allgemein gesprochen, eines Aufeinander-Bezogenseins mit-einander zu einer Sequenz verbundener Hyleme ist freilich auch bei medial konkretisierten Varianten eines mythischen Stoffes grundsätzlich vorauszuset-zen; eine solche Kohärenz hat aber nicht automatisch Konsistenz zur Folge. Ge-rade bei mythischen Stoffvarianten können im konkreten Fall mehrere zusam-menhängende Hyleme durchaus Inkonsistenzen aufweisen, die bspw. auf die Verbindung verschiedener Stoffe oder Stoffschichten zurückzuführen sind. Dar-auf soll in den Kapiteln 15-17 noch ausführlich eingegangen werden.

8.2 Fragen der Stoffabgrenzung am Beispiel der Gründung Troias

Um ein konkretes Beispiel für die Herausforderungen anzuführen, vor die man sich bei der Frage nach der Abgrenzung von Stoffvarianten gestellt sieht, soll hier noch einmal auf die Gründung von Troia im Bericht des Apollodoros zurückge-griffen werden9. Nach Apollodoros kommt Ilos nach Phrygien, wo er von dem phrygischen König „einem Orakelspruch gemäß“ (κατὰ χρησμόν) eine ge-scheckte Kuh erhält, der er folgen soll; denn dort, wo sie sich niederlegt, soll Ilos

|| 9 Apollod. 3,142 f. Vgl. Kapitel 3.1; s. auch noch ausführlicher dazu die Kapitel 6.4 und 17.2.

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eine Stadt gründen. Ilos folgt der Kuh und gründet dort, wo sie sich niederlegt, eine Stadt und nennt sie Ilion. Damit könnte die Handlungssequenz abgeschlos-sen sein: ein Zeichen für eine Stadtgründung erfolgt und geht in Erfüllung, und die Stadt wird gegründet. Es wird kein Grund ersichtlich, warum Ilos am göttli-chen Zeigöttli-chen der sich niederlassenden Kuh irgendeinen Zweifel hegen könnte, der das Erbitten eines zweiten Zeichens plausibel oder gar nötig erscheinen ließe10. Aber Apollodoros fährt fort, Ilos habe zu Zeus gebetet, ihm ein Zeichen zu senden. Daraufhin sei vom Himmel eine Götterstatue, das Palladion, herabgefal-len, und Ilos habe es am nächsten Tag vor seinem Zelt erblickt und durch die Errichtung eines Tempels geehrt.

Man hat in dieser Hylemsequenz insgesamt, von der Ankunft in Phrygien bis zur Errichtung des Tempels, als Konstanten vor allem den Protagonisten, Ilos selbst, und das Thema, um das diese Hylemsequenz kreist, nämlich das Thema einer Stadtgründung aufgrund einer göttlichen Intervention. Davon abgesehen aber ändern sich etliche Faktoren. Grundsätzlich die Dimension der Zeit, denn es geht um ein zeitliches Nacheinander: erst die „Kuh-Episode“, dann das erst am nächsten Tag bemerkte, vom Himmel gefallene Palladion (die „Palladion-Epi-sode“). Des Weiteren ist in der Kuh-Episode von einem Ortswechsel (Wanderung der Kuh) die Rede, in der Palladion-Episode befindet sich Ilos bereits am Ort der Stadtgründung. Nur in der Kuh-Episode ist von einem phrygischen König die Rede, durch dessen Vermittlung Ilos von einem Orakelspruch bezüglich einer Stadtgründung erfährt. Zwar wird nicht erwähnt, auf welche Gottheit dieser Spruch zurückzuführen ist, doch kann man bei einiger Kenntnis der griechischen Kultur davon ausgehen, daß griechische Rezipienten hier in erster Linie an das Orakel des Apollon in Delphi gedacht haben dürften. Werkintern erhält diese An-nahme eine Bestätigung dadurch, daß in dem Stoff von der Gründung Thebens durch Kadmos, der in wesentlichen Punkten parallel gestaltet ist zur Erzählung von der Gründung Ilions durch Ilos, also in wesentlichen Punkten dasselbe Stoff-schema aufweist11, ebenfalls von einer Kuh die Rede ist, der Kadmos auf die Wei-sung eines Orakels hin folgen soll, und hier wird ausdrücklich genannt, daß es sich dabei eben um das Orakel von Delphi gehandelt hat12. Bezogen auf den Stoff von der Gründung Ilions durch Ilos erhält man durch die Lykophron-Scholien so-gar einen werkexternen Beleg für eine Stoffvariante, nach der es explizit Apollon

|| 10 Vgl. den (impliziten) Erklärungsversuch von Vollkommer, 1990, 650: „Apollodoros erklärt weiter, daß Ilos Zeus jedoch um ein weiteres Zeichen bittet, um zu wissen, ob dies wirklich der vorgesehene Platz sei. Daraufhin findet er am nächsten Tag vor seinem Zelt das Palladion.“

11 S. dazu die Ausführungen in Kapitel 7.

12 S. Apollod. 3,21 f.

war, der Ilos das Orakel gegeben hat13. In der Palladion-Episode von der Grün-dung Ilions ist es nun aber nicht Apollon oder ein ungenannt bleibender Gott, sondern Zeus, der Ilos das entscheidende himmlische Zeichen sendet, das ihn zur Stadtgründung veranlaßt. In der Kuh-Episode besteht das ausschlaggebende Zei-chen in dem Verhalten einer Kuh, in der Palladion-Episode im Herabfallen eines Götterbildes.

All diese Beobachtungen und gerade die Doppelung göttlicher Zeichen von zwei verschiedenen Gottheiten sind starke Indizien dafür, daß Apollodoros hier zwei verschiedene Traditionen über die Gründung von Ilion miteinander kombi-niert, die jeweils als in sich abgeschlossene Einzelstoffe erzählt worden sein kön-nen. Sucht man nach einer über diese Indizien hinausgehende Bestätigung für die These, daß bei Apollodoros zwei verschiedene Traditionsstränge von der Gründung Ilions miteinander kombiniert werden, dann zeigt ein eingehenderer Blick auf die Überlieferung, daß die Erzählung von der sich niederlegenden Kuh und die vom herabfallenden Palladion tatsächlich keineswegs zwingend mitein-ander verknüpft waren. In den bereits erwähnten Lykophron-Scholien wird eine Version überliefert, nach der Ilos beim Rinderhüten vom Gott Apollon den Ora-kelspruch erhalten hat, dort eine Stadt zu gründen, wo eine seiner Kühe nieder-sinken würde; Ilos befolgt die Anweisung des Orakels, gründet dann, ohne wei-tere Zeichen abzuwarten, eine Stadt und nennt sie nach sich „Ilion“14.

Da es sich bei Ilion/ Troia um eine so wichtige Stadt handelt, ist es nicht schwer nachzuvollziehen, warum sich Apollodoros (oder ein Vorläufer, auf den sich Apollodoros bezieht) nicht für nur eine Stoffvariante entscheidet und die an-dere einfach unterdrückt, gelingt es dadurch doch, zwei verschiedenen Traditio-nen gleichzeitig gerecht zu werden. Zwar muß man dafür gewisse Doppelungen in Kauf nehmen, doch steht auf der anderen Seite der Gewinn, daß durch die Kombination beider Stoffe die göttliche Beteiligung und Anteilnahme bei dieser

|| 13 Schol. ad Lykophr. 29; s. dazu ausführlicher unten.

14 Schol. ad Lykophr. 29: Λήσσης ὁ Λαμψακηνός φησιν ὅτι Ἴλου εἰς τὴν Μυσίαν νέμοντος βοῦς ἔχρησεν αὐτῷ Ἀπόλλων ἐκεῖ κτίζειν πόλιν, ἔνθα ἂν ἴδῃ μίαν τῶν βοῶν αὐτοῦ πεσοῦσαν. μία οὖν τῶν βοῶν αὐτοῦ ἀποσκιρτήσασα *τῆς ἀγέλης* ... ταύτην ἐδίωκεν, ἡ δὲ ὀκλάσασα κατέπεσεν ἔνθα νῦν ἐστιν ἡ Ἴλιος. ὁ δὲ Ἶλος τοῦ χρησμοῦ μνησθεὶς ἐκεῖ πόλιν ἔκτισε καὶ ἀφ' ἑαυτοῦ Ἴλιον ἐκάλεσε. – „Lesses von Lampsakos sagt, daß Apollon, als Ilos in Mysien Rinder weidete, diesem den Orakelspruch gab, dort eine Stadt zu gründen, wo er eine von seinen Kühen niederfallen sähe. Als nun eine von seinen Kühen *aus der Herde* ausbrach …, folgte er ihr; sie aber sank nieder und fiel dort hin, wo jetzt Ilios ist. Ilos aber, des Orakelspruchs eingedenk, gründete dort eine Stadt und nannte sie nach sich Ilion.“ Über den Autor Lesses ist nichts Näheres bekannt; es existiert kein entsprechender Eintrag in Paulys Realencyclopädieder classischen Altertumswis-senschaft.

Einzelstoff und Rahmenstoff | 159

Stadtgründung wirksam unterstrichen werden. Der Passus „dort gründete Ilos eine Stadt und nannte diese Ilion“ steht nun nicht zufällig genau an der Schar-nierstelle, an der beide Stoffvarianten (die Kuh-Episode und die Palladion-Epi-sode) miteinander verbunden werden, und fungiert somit einerseits als Abschluß für die Variante einer Gründung der Stadt aufgrund eines Orakelspruches (Kuh-Episode), kann andererseits aber auch als proleptische „Überschrift“ über die noch folgende Stoffvariante von der Stadtgründung aufgrund des von Zeus ge-sandten Palladions gelesen werden (Palladion-Episode).

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 180-183)

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