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Streiflichter auf die Geschichte der Mythosforschung

griechisch-römischen um eine Doppelkultur handelt, in der sich die jüngere ohne die ältere nicht verstehen läßt. Das Sumerische hat als literarisch-religiöse Presti-gesprache im Alten Orient die Kultur im Allgemeinen und die mythische Überlie-ferung im Besonderen maßgeblich geprägt, und zwar weit über die Zeit aktiver Sprecher hinaus. Kein Latinist dürfte die homerischen Epen für die Interpretation von Vergils Aeneis ausschließen, nur weil sie rund 750 Jahre früher entstanden sind. Ähnlich verhält es sich etwa mit dem akkadischen Gilgameš-Epos und den in sumerischer Sprache überlieferten Gilgameš-Mythen; gerade bei einer Inter-pretation der um Gilgameš kreisenden Mythen läßt sich die historische Tiefe nicht ohne essentielle Verluste ausblenden. Unter Einbeziehung sumerischer, aber natürlich auch akkadischer oder weiterer altorientalischer (wie bspw. hethi-tischer oder ugarihethi-tischer) Quellen kann eine vergleichende Mythosforschung für die Aufarbeitung des komplexen Problemfeldes der Kulturkontakte zwischen dem Alten Orient und Griechenland einen substantiellen Beitrag liefern, an deren Vorhandensein aufgrund etlicher Untersuchungen kaum mehr Zweifel bestehen können16, deren Art, Umfang und Verlauf im Einzelnen jedoch noch einiger Auf-hellungen bedürfen.

1.3 Streiflichter auf die Geschichte der Mythosforschung

Von einem Göttinger könnte man erwarten, daß er an dieser Stelle einem, wenn nicht dem Archegeten wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Mythen seine Reverenz erweist – und dies sei hiermit trotz der Kürze wenigstens ansatzweise auch getan –, der fast 50 Jahre lang ebenfalls an der Göttinger Universität gewirkt

|| 16 Treffend stellt Henkelman, 2006, 814 f, die Problematik der ideologischen Konstruktion ei-nes Eisernen Vorhangs zwischen den Kulturen heraus, für dessen Überwindung von den Men-schen damals große Anstrengungen nötig gewesen wären, und die Abwegigkeit der Vorstellung, für die Glaubhaftigkeit einer Überwindung dieses Eisernen Vorhangs müßten von seiten der For-schung erst aufwändige Beweisverfahren durchlaufen werden; vgl. ebd. 814: „Yet, the weak point of this kind of approach is, again, the thought of a fundamental divide between East and West, an Iron Curtain that needed to be breached in some dramatic way for cultural contacts to be possible at all. In most respects (except in ideology) such a barrier never existed.“ Ohne An-spruch auf Vollständigkeit und im Einzelnen unterschiedlich überzeugend s. zu den Kulturkon-takten etwa Burkert, 1987, 1992, 2003 und 2004; Andersen, 1988; Mondi, 1990; Penglase, 1994;

Duchemin, 1995; West, 1997 und 2007; Gundel, 1998; Henkelman, 2006; Bremmer, 2008; Ried-weg/ Mudry, 2009; Rollinger et al., 2010; Allen, 2011; Hoepfner, 2011; Louden, 2011; Matthäus/

Oettinger/ Schröder, 2011; C. Zgoll, 2012; Haubold, 2013; López-Ruiz, 2014; Bremmer, 2015a; Rol-linger/ Dongen, 2015; Wasmuth, 2015; Westbrook, 2015; Wittke, 2015; Audley-Miller/ Dignas, 2016; Bachvarova, 2016; Rollinger, 2017.

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hat und dessen Grabstätte sich auf dem historischen Bartholomäusfriedhof direkt neben dem modernen Campus befindet: Christian Gottlob Heyne (1729-1812). Er war einer der ersten, der das Wort „Mythos“ als spezifischen Terminus in die fachwissenschaftliche Diskussion eingebracht hat17, einer Auffassung von My-then als kaum der Beachtung werten, weil unwahren Erfindungen der Dichter energisch entgegengetreten ist und ihrer kulturhistorischen Bedeutung ein sol-ches Gewicht zugemessen hat, daß die Beschäftigung mit Mythen durch ihn über-haupt erst zu einem ernstzunehmenden universitären Forschungsfeld wurde18. Heyne war es auch, der sich der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes sehr bewußt war und daher bei der Mytheninterpretation zur Vorsicht gemahnt hat19. Die Schaffenskraft im Allgemeinen und die Energie und Konstanz im sonderen, mit welcher Heyne dieses Feld gepflügt und gepflegt hat, verdient Be-wunderung, doch soll hier auf eine ausführlichere Würdigung verzichtet werden, was um so leichter fällt, als auf eine Arbeit verwiesen werden kann, in der dies geleistet wird20.

Was für Heyne gilt, das gilt auch mit Blick auf die vielen anderen Pioniere der Mythosforschung. Es kann und soll in diesem Kapitel nicht darum gehen, eine vollständige Darstellung der Geschichte der Mythosforschung und eine einge-hendere Würdigung bereits entwickelter Ansätze zu liefern. Ganz abgesehen von dem Umstand, daß dafür ein eigenes Buch vonnöten gewesen wäre, gibt es

wich-|| 17 Vgl. dazu Fornaro, 2017, 220.

18 Vgl. Graf, 1993, 284, für den Heyne als „eigentlicher Begründer der mythologischen Studien in der Klassischen Altertumswissenschaft“ gilt. Im Rückblick auf seine Arbeit und auf den Wert der Mythen schreibt Heyne selbst (1807, 2009 f): „Die Mythen haben ihren Werth und ihren Rang wieder erhalten; sie sind als alte Sagen, als die ersten Quellen und Anfänge der Völkerge-schichte, zu betrachten, andere als die ersten Versuche der Kinderwelt zu philosophiren; in ih-nen versuchte sich das Genie zur Poesie; durch sie bildete sich der Geschichtsstyl; von ihih-nen ging überhaupt die Bildung der Schrift, Sprache, zunächst die Dichtersprache, aus; aus welcher die Redekunst mit ihrem Schmucke, den Vergleichungen, Figuren und Tropen, hervorging; die Kunst aber mit ihren Idealen, vermittelst der Götternaturen, und des Göttersystems, hatte ihre ganze erste Anlage in den Mythen und mythischen Bildern.“

19 Vgl. Heyne, 1807, 2016: „Mit einem Wort, in keiner Gattung von gelehrten Discussionen ist dreistes Absprechen und Entscheiden weniger an seiner Stelle, als in der Interpretation mythi-scher Gegenstände.“

20 Zu Christian Gottlob Heyne und einer differenzierten Beurteilung seiner Leistung für die My-thosforschung s. Scheer, 2014; zu einer Würdigung von Heynes „Werk und Leistung“ insgesamt s. den von Bäbler/ Nesselrath, 2014, herausgegebenen Sammelband. Die maßgebliche Rolle, die Karl Otfried Müllers Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie (1825) für die weitere Entwicklung der Mythosforschung gespielt haben, betonen Kerényi, 1939, 225-227, Graf, 1985, 27, und Gödde, 2017, V f.

tige Vorstöße, die sich dies bereits zur hauptsächlichen Aufgabe gemacht ha-ben21. Die folgenden Streiflichter stellen daher vor allem eine Hinführung auf die in diesem Buch vornehmlich in Angriff genommenen Problemfelder auf dem Hin-tergrund verschiedener Stoßrichtungen der Mythosforschung dar. Einige wich-tige Positionen der Forschung werden außerdem später im Buch passenderweise jeweils dort ausführlich diskutiert werden, wo es von der Sache her gefordert ist.

Was sind Mythen? Und wie lassen sie sich deuten? Lange Zeit und teilweise bis heute hat die zweite Frage mehr Interesse und mehr Antworten erhalten als die erste22. Das gilt bereits für die griechisch-römische Antike. Von Euhemeros von Messene (4./3. Jh. v. Chr.) ist keine explizite Mythosdefinition überliefert, sehr wohl hingegen seine Auffassung darüber, wie Mythen zu erklären sind, nämlich als Geschichten über menschliche Herrscher, die nachträglich überhöht und zu Göttern stilisiert worden seien. Die unter dem Autornamen „Palaiphatos“

firmierende Schrift Über unglaubliche Geschichten (ca. 4. Jh. v. Chr.) reduziert in rationalistischer Manier viele Sonderbarkeiten von Mythen v. a. auf verkannte empirische Gegebenheiten und Vorkommnisse oder erklärt sie als Mißverständ-nisse eigentlich metaphorisch gemeinter Ausdrücke und versucht auf diese Weise, den von ihm angenommenen Wahrheitsgehalt dieser Mythen aufzudek-ken, ohne daß an irgendeiner Stelle versucht würde, den Untersuchungsgegen-stand allgemein zu definieren. Der kaiserzeitliche Autor Cornutus (1. Jh. n. Chr.) unternimmt es, in seinem Kompendium über die griechischen Götter die mit den Göttern verbundenen Namen und Geschichten als allegorisierende Verschlüsse-lungen naturhafter Elemente oder Vorgänge zu erklären und setzt dabei voraus, was unter „mythisch“ zu verstehen ist, ohne es näher zu bestimmen23.

|| 21 Vgl. dazu die hilfreichen Überblicksdarstellungen bspw. bei Kirk, 1980, 11-88; Graf, 1985, 15-57 (mit Schwerpunkt auf der älteren Mythosforschung mit ihren hauptsächlichen Vertretern und Positionen); Csapo, 2005 (mit Schwerpunkt auf der jüngeren Mythosforschung und auf der Ein-bettung der Mythostheorien in die jeweiligen soziologisch-historischen und wissenschaftsge-schichtlichen Bedingungen ihrer Entstehung); Segal, 2007; Masciadri, 2008, 354-363 (sehr poin-tiert); Powell, 2009, 14-47 (als erster Einstieg geeignet, da zwar notwendig selektiv und äußerst verknappt, aber gut verständlich; ähnlich prägnant und dabei mit erfrischend unverblümten Wertungen Rose, 1982, 1-13). Eine handliche Sammlung von Texten zu modernen Mythostheo-rien findet man bei Barner/ Detken/ Wesche, 2003; eine Zusammenstellung wichtiger Texte äl-terer Versuche, Mythen zu erschließen, bei Kerényi, 1967 (allerdings in Hinblick auf das 20. Jahr-hundert weitgehend ohne englisch- und französischsprachige Forschungsliteratur).

22 Vgl. Zinser, 1985, 113: „Das Einzige, worin sich fast alle Mythenforscher einig sind, ist, daß Mythen als deutungsbedürftig angesehen werden.“

23 Zur „Allegorese des antiken Mythos“ s. den gleichnamigen Sammelband, hg. von Horn/ Wal-ter (1997). Der Umstand, daß speziell die griechisch-römischen Mythen so lange Zeit überdauert

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Als Ausnahme wird manchmal bis heute der Autor eines Werks mit dem Titel Über die Götter und die Welt namens Salustios (ca. 2. Hälfte 4. Jh. n. Chr.) gehan-delt, aus dessen Schrift bisweilen folgender Satz als Mythosdefinition ausgege-ben wird24: „(All) dies geschah niemals, ist aber immer, und der Verstand sieht alles zugleich, die Erzählung aber berichtet dies als erstes und jenes als zweites.“

Doch besteht das eigentliche Anliegen von Salustios nicht darin, „Mythos“ zu de-finieren; auch ihm geht es in seiner Schrift wesentlich um die verschiedenen Möglichkeiten, Mythen als allegorische Ausdrucksformen göttlicher oder natur-hafter Wahrheiten zu deuten, und es ist fraglich, ob Salustios den zitierten Satz tatsächlich als eine allgemeingültige Aussage verstanden wissen wollte. Das ist aus mehreren Gründen zweifelhaft. Zum einen deswegen, weil Salustios seine

„Definition“ weder herleitet noch begründet; des Weiteren, weil er sie nicht an den Anfang seiner Ausführungen als für alles Folgende gültig voranstellt, son-dern sie erst später und gewissermaßen nur en passant einschiebt; und schließ-lich, weil er selbst sie nicht als allgemeingültig hinstellt, sondern sie in Hinblick auf einenbestimmten Mythos und zu dessen Erläuterung formuliert25.

Der Blick auf diese ausgewählten Beispiele zeigt, daß sich die Geschichte der Mythosforschung von der Antike an im Wesentlichen nicht als eine Geschichte der Mythostheorie, sondern vielmehr als eine Geschichte der Mythosdeutung ver-stehen läßt26. Die Frage, die die Gemüter bewegt hat, war in erster Linie, wie sich Mythen deuten lassen; was Mythen sind, wird in der Regel stillschweigend als be-kannt vorausgesetzt.

Neuere Ansätze haben dann das Spektrum der Möglichkeiten, Mythen zu er-klären, wesentlich erweitert. So werden Mythen etwa in der psychoanalytischen Mythendeutung als Ausdrucksweisen tieferer, allgemein-menschlicher psychi-scher Phänomene oder Mechanismen interpretiert, oder sie werden in den Augen einer strukturalistischen Mytheninterpretation als Kodierungen kulturell spezifi-scher, bedeutungstragender Sinneinheiten oder Konzepte verstanden, oder man begreift Mythen als Ausdrucksformen gesellschaftlicher Ideologien, oder als Wi-derspiegelungen ritueller Praktiken in der myth and ritual school.

|| haben, liegt nach der überzeugenden Grundidee von Brisson, 1996, nicht zuletzt daran, daß so-wohl Philosophen als auch Theologen im Lauf der Jahrhunderte durch allegorisierende Deutun-gen immer wieder versucht haben, diese wirkmächtiDeutun-gen ErzählunDeutun-gen für ihre eiDeutun-genen Zwecke zu vereinnahmen (s. zusammenfassend ebd. 1-3).

24 Salustios, De diis et mundo 4: Ταῦτα δὲ ἐγένετο μὲν οὐδέποτε, ἔστι δὲ ἀεί· καὶ ὁ μὲν νοῦς ἅμα πάντα ὁρᾷ, ὁ δὲ λόγος τὰ μὲν πρῶτα τὰ δὲ δεύτερα λέγει.

25 Es handelt sich um den Mythos von Attis und Kybele.

26 Eine sehr kondensierte Übersicht über verschiedene Interpretationsansätze von Mythen in der Antike bei Honko, 1984, 44-46.

Mit der zunehmenden Bedeutung der soziologisch-historischen Wissen-schaften tritt neben der Frage „Wie kann man Mythen deuten?“ noch eine andere Frage in den Mittelpunkt des Interesses, nämlich27: „Wozu (und von wem) wer-den Mythen eingesetzt?“ Die Frage nach der Funktion von Mythen (Erklärung von Welt durch Aitiologien, Identität stiftende Gründungsgeschichten, Legitimation von Ämtern oder Privilegien u. a.), ob nun aus historischer, soziologischer oder auch religions- oder literaturwissenschaftlicher Perspektive, ersetzt inzwischen in etlichen Fällen die uralte Frage nach der Deutung von Mythen fast vollständig, nachdem die Pluralität der verschiedenen Interpretationsansätze zu einer gewis-sen Resignation hinsichtlich einer allgemein-verbindlichen Mytheninterpreta-tion geführt hat. Statt ResignaMytheninterpreta-tion kann man es auch Erkenntnis nennen, näm-lich die Erkenntnis, daß „monolithische“ Theorien zur Erklärung eines so komplexen Untersuchungsgegenstandes, wie es Mythen nun einmal sind, offen-bar nicht ausreichen28.

So wie ein und derselbe Mythos auf verschiedene Arten und Weisen funktio-nalisiert werden kann, so scheint es auch mehrere verschiedene Möglichkeiten fruchtbarer Deutungen eines Mythos zu geben. Woran liegt das? Und liegen ver-schiedene Interpretationen in der Sache begründet, oder sind sie abhängig von den jeweils dahinterstehenden Ansätzen, und lassen widersprüchliche Deutun-gen auf eine Beliebigkeit interpretatorischer Zugänge schließen? Um diese und ähnliche Fragen beantworten zu können, ist es nötig, einen Schritt zurückzutre-ten auf die Ebene der Mythostheorie und die Frage zu stellen: „Was sind My-then?“ – in der Hoffnung, daß eine Beantwortung dieser Frage nach dem Wesen von Mythen die Grundlage schafft für eine Beantwortung der Fragen nach ihren möglichen Interpretationen und Funktionen.

Diese Frage nach dem „Wesen“ von Mythen klingt positivistisch. Es scheint nun fast ein Dogma postmoderner Wissenschaftskultur zu sein, daß die Möglich-keit der „positiven“ Bestimmung eines Gegenstandes eine Illusion sei und damit einhergehende Bemühungen als zu verengt oder fruchtlos zu gelten haben. Die Kritik an so manchen allzu optimistisch-dogmatischen positivistischen Setzun-gen mag in einzelnen Fällen berechtigt sein, doch das bewußte Offenlassen, das Sich-nicht-näher-Festlegen auf eine genauere Bestimmung wesentlicher Merk-male zentraler Untersuchungsgegenstände birgt unweigerlich eine Gefahr, die

|| 27 Diese Beobachtung auch im Forschungsüberblick bei Kühr, 2006, 15, Anm. 3.

28 Eine Position, die sich etwa bereits bei Cassirer, 1953, 26, ausgesprochen findet, und die vor allem Kirk, 1980, in aller Deutlichkeit vertritt (zusammenfassend bspw. ebd., 16 und 37); vgl.

auch Csapo, 2005, 290 f; Morford/ Lenardon/ Sham, 2011, 3; in Bezug auf Malinowskis Idee der charter myths s. Graf, 1985, 46, oder auf die Herleitung von Mythen aus Ritualen ebd., 54.

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mindestens ebenso groß ist, wenn nicht noch größer: Die Gefahr nämlich, daß man meint, dasselbe zu meinen, während jeder in Wirklichkeit etwas anderes meint. So ist durch eine Nicht-Festlegung zwar die Klippe einer zu einseitigen oder unvollständigen oder in sonst irgendeiner Form unvollkommenen Festle-gung umschifft, doch lauern nun allenthalben die Sandbänke halbpräziser Be-grifflichkeiten und damit die Untiefen des Aneinander-vorbei-Redens29.

Es liegt auf der Hand, daß diese Gefahr und die damit verbundenen Unklar-heiten um so größer werden, je mehr Forscher und verschiedene Disziplinen sich auf dem Feld der Mythosforschung treffen. In keiner Weise soll abgestritten wer-den, daß auf dem Gebiet der komparatistischen Mythosforschung eminente Fort-schritte erzielt worden sind, zuvörderst durch die (weitgehende) Überwindung einer Unterscheidung zwischen Mythen „primitiver“ und „höherer“ Kulturen und durch das (weitgehende) Ablassen von der Suche nach einer mehrere oder alle Völker umgreifenden Ur-Mythologie, des Weiteren durch die Aufdeckung von inner- und interkulturellen Parallelen, Bezügen und Abhängigkeiten, oder durch den Gewinn einer schärferen Konturierung kulturspezifischer Eigenhei-ten30, doch läßt sich auch auf diesem Gebiet der Mythenvergleiche beobachten:

Es wird viel über die Gefahren und Gewinne des Vergleichens von Mythen gespro-chen, wenig aber über das, was Mythen sind. So entstehen zwar einzelne, aus jeweils kulturspezifischer Sicht gewinnbringende Studien, aber sie werden in der Regel nicht durch einen übergreifenden mythostheoretischen Ansatz zusammen-gehalten, so daß die impliziten Vorstellungen von dem, was man unter „Mythos“

versteht, und entsprechend auch die gewählten Zugangsweisen wesentlich plu-ralistischer ausfallen, als es das gemeinsame Dach eines Sammelbandes sugge-riert31.

Nun sind freilich diejenigen, die in Sammelbänden mit einem Schwerpunkt auf Mythen Beiträge verfassen, von ihrer Profession her etwa Ethnologen,

Sozio-|| 29 Vgl. Masciadri, 2008, 354, der in ähnlichem Zusammenhang von einer „vielleicht spezifisch postmodernen, wohligen Schlamperei im Gedanklichen“ spricht.

30 Zur Vergleichenden Mythosforschung s. den kurzen Abriß bei Masciadri, 2008, 357-360.

31 Vgl. bspw. Assmann/ Burkert/ Stolz, 1982; Whiting, 2001; Brandt/ Schmidt, 2004; Schmitz-Emans/ Lindemann, 2004 (hier wird das Fehlen einer gemeinsamen mythostheoretischen Basis gleichsam programmatisch zur Stärke erklärt, s. ebd. 11); Dill/ Walde, 2009; und auch noch A.

Zgoll/ Kratz 2013. Binsbergen/ Venbrux, 2010, 21, fassen die Ergebnisse der „Second Annual Con-ference of the International Association for Comparative Mythology“ (Ravenstein, 2008), ab-schließend so zusammen: „These developments inspire a sense of gratification and achie-vement, … even though the theoretical debates during this conference brought out the fact that we are still far removed from the emergence of a mainstream disciplinary consensus.“

logen, Philosophen, Historiker oder Philologen, in aller Regel aber keine Mytho-logen, denn das Fach „Mythologie“ hat sich bislang nicht als eigene Disziplin etablieren können32, obwohl das Interesse an Mythen sowohl universitär wie ge-sellschaftlich groß ist. Dafür gibt es mehrere Gründe. Historisch betrachtet mag dies unter anderem an der lange Zeit ablehnenden Einstellung gegenüber den

„heidnischen“ Mythologien durch die christliche Theologie liegen, welche die geisteswissenschaftliche Landschaft lange Zeit als Krondisziplin beherrscht und geprägt hat. Zudem gab und gibt es unterschiedliche Mythologien verschiedener Kulturen, so daß nach einer einsetzenden wissenschaftlichen Beschäftigung ent-sprechend sprach-, kultur- oder nationalitätsspezifische Disziplinen für die Er-forschung der jeweils eigenen Mythen verantwortlich zeichneten, die sich in un-terschiedlichen Richtungen entwickelt haben. Sachlich und fachlich betrachtet wurde und wird die Entwicklung einer eigenen Disziplin „Mythosforschung“ da-durch erschwert, daß Mythen sich in vielfältigen Quellenarten finden lassen (textliche, archäologische u. a. Zeugnisse), deren Erschließung unterschiedlicher methodischer Herangehensweisen bedarf. Das Fehlen der Mythologie im tradi-tionellen universitären Fächerkanon liegt nicht zuletzt aber auch daran, daß auf dem Gebiet der Mythosforschung im Vergleich zum „Überbau“ der Mythenkom-paratistik, der historisch-soziologischen Funktionsanalyse von Mythen und der Möglichkeiten der Mytheninterpretation das Fundament der Disziplin, die My-thostheorie und, damit zusammenhängend, die Entwicklung einer grundständi-gen und noch vor jeder weiteren Funktionsbestimmung, Interpretation und Ver-gleichung anzusetzenden Methodik zur Mythenanalyse, bislang weniger intensiv angegangen worden ist.

Wenn Vorstöße in Richtung des Bereichs „Mythostheorie“ unternommen wurden, so haben nach Heynes vielversprechender Initialzündung und essenti-ellen Beiträgen von Forschern wie Bremmer, Burkert, Graf, Kerényi, Kirk, Müller, Preller, Reinhardt, Roscher oder Vernant (um nur einige zu nennen) in der jün-geren Vergangenheit die altertumswissenschaftlichen Disziplinen dieses Feld weitgehend an andere kultur- und geisteswissenschaftliche Fächer wie etwa Eth-nologie, Philosophie, Psychologie, Kulturanthropologie, Religionswissenschaft und Soziologie abgetreten33. Verschiedene theoretische Überlegungen und Zu-gangsweisen haben auf diese Weise die anfänglich primär philologisch,

histo-|| 32 Zumindest in Deutschland; in Frankreich bspw. hat man weniger Scheu, was zumindest die

Eigenbezeichnung als „Mythologe“ angeht. So reden etwa Scheid/ Svenbro, 2017, 30, mit Blick auf ihr Forscherleben von ihrer „Ausbildung zu Mythologen“.

33 Vgl. zu dieser Beobachtung auch Kirk, 1980, 14 (der selbst eine Ausnahme darstellt).

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risch und archäologisch ausgerichtete Mythosforschung auf dem Gebiet der an-tiken Kulturen bereichert. Es kann dabei aber nicht übersehen werden, daß man-che der außerhalb der Altertumswissenschaften entwickelten theoretisman-chen An-stöße nicht oder nur eingeschränkt verallgemeinerbar sind und daß sie, wenn überhaupt, oft nur bedingt auf das antike Material angewendet und dafür wirk-lich fruchtbar gemacht werden können.

Des Weiteren kann man sich nicht immer des Eindruckes erwehren, daß in den Fällen, in denen antike Quellen bei der Entwicklung eines theoretischen Vor-stoßes einbezogen wurden, der außerhalb der Altertumswissenschaften oder in einem nur noch eher losen Zusammenhang mit diesen zu verorten ist, diese anti-ken Quellen oft selektiv, gewissermaßen als Steinbruch verwendet wurden, ohne daß dabei den literaturhistorischen und gattungsbedingten Spezifika sowie den konkreten gesellschaftshistorischen Kontexten dieser Quellen immer ausrei-chend Rechnung getragen wurde. Und wenn doch, dann war die Gefahr groß, in die „literarische Falle“ der Mythosforschung zu geraten und für genuin mythisch zu halten, was bei näherer Betrachtung autor- oder gattungsspezifisch ist34.

Wenn hier der Versuch unternommen wird, das auf dem Gebiet der Mythos-forschung in Bezug auf Methoden und Theorien zuletzt eher defensive und rezep-tive Verhalten altertumswissenschaftlicher Disziplinen aufzubrechen, so ge-schieht dies aus dem Wunsch heraus, in Verantwortung für die eigenen Fächer

Wenn hier der Versuch unternommen wird, das auf dem Gebiet der Mythos-forschung in Bezug auf Methoden und Theorien zuletzt eher defensive und rezep-tive Verhalten altertumswissenschaftlicher Disziplinen aufzubrechen, so ge-schieht dies aus dem Wunsch heraus, in Verantwortung für die eigenen Fächer

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