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9 Stoffvergleiche: Skizzierung einer komparatistischen Hylistik

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 188-192)

9.1 Allgemeine Vorüberlegungen

9.1.1 Bedeutung von Vergleichen

Der Vergleich gehört zu den wichtigsten und fruchtbarsten Instrumenten wissen-schaftlichen Arbeitens überhaupt. Bewußt oder unbewußt wird er ständig einge-setzt. Kein sprachliches Phänomen oder literarisches Werk und natürlich auch kein mythischer Stoff bspw. steht isoliert für sich und kann daher ohne Vergleich zu anderen sprachlichen Phänomenen, anderen literarischen Erzeugnissen oder anderen Mythen in seiner Eigenheit und Besonderheit erfaßt werden. Jedes So-Sein läßt sich erst auf dem Hintergrund eines Anders-So-Seins hinreichend profilie-ren1. Selbst wenn man Vergleichen als Vorgehensweise für problematisch, wenig zielführend oder sogar prinzipiell für nicht sinnvoll hält, kann man dies nur mit Bezug auf andere Vorgehensweisen tun, die man im Vergleich für zielführender oder sinnvoller hält. Entgegen postmodernen Verdikten2 ist daher an der prinzi-piellen Möglichkeit, Sinnhaftigkeit und Produktivität von Vergleichen festzuhal-ten, die sowohl Gemeinsamkeiten wie Unterschiede gleichermaßen in den Blick nehmen3.

|| 1 Vgl. Heubeck, 1974, 680: „Vergleichen heißt nicht Gleichsetzen, Vergleichen intendiert ein Verdeutlichen und Veranschaulichen, ein Vertiefen des Verstehens und ein Verlebendigen des Anschauens.“

2 Vgl. dazu zusammenfassend Segal, 2010.

3 S. Corbineau-Hoffmann, 2004, 89. Die eigentliche Problematik von Vergleichen liegt nicht so sehr im Vergleichen selbst (das auch, wenn man zu undifferenziert vorgeht – dazu gleich), son-dern vor allem in den Prämissen und Absichten, die hinter einem Vergleichen stehen (und damit zusammenhängend auch: die Vor-Auswahl der zu vergleichenden Gegenstände). Das bringt tref-fend auf den Punkt Mohn, 1998, 204 f, wenn es heißt, die Probleme lägen „nicht im methodi-schen Vorgang des expliziten Vergleichsaktes, der zur Identifizierung bzw. Differenzierung der Untersuchungsgegenstände führt, sondern besonders in seinen vorgängigen Prämissen und kulturellen Interessen und das hieße: in den kulturellen Vorgaben, die sich hinter der Absicht und dem Vorgang des Vergleichens verbergen …“ Weiterführende Literaturhinweise zu Arbeiten über die Bedeutung und die Problematik des Vergleichens in den Kulturwissenschaften bei Mohn, 1998, 204, Anm. 1. Nach Haupt, 2013, 334, erscheint trotz der allgemein anerkannten

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Es gilt allerdings, das Vorgehen zu präzisieren und die Kriterien zu schärfen.

Es ist ein berechtigtes Anliegen des New Comparativism, daß Vergleiche differen-ziert den jeweiligen Spezifika gerecht werden und zugleich auf Formalisierungen und Systematisierungen beruhen müssen, die verhindern, daß scheinbare Ähn-lichkeiten zu Identitäten simplifiziert und Differenzen heruntergespielt werden, oder daß Differenzen überbetont werden und verfrüht Verschiedenheit postuliert wird4.

Wenn dies nicht nur ein Lippenbekenntnis sein soll, wenn man diesen For-derungen nach besseren Differenzierungen und mehr Präzision nachkommen und den darin liegenden Anforderungen gerecht werden will, dann muß man auch in Kauf nehmen, daß die Angelegenheit insgesamt um einiges komplizierter wird und beim Vergleichen ein höherer Aufwand betrieben werden muß als bis-her. Das gilt in besonderem Maß für einen Vergleich von so polymorphen und komplexen Gebilden wie mythischen Stoffen.

9.1.2 Von einer Text-Komparatistik zu einer Stoff-Komparatistik

Wissenschaftlich systematisch untersucht und angewendet wird das Vergleichen als Methode vor allem von seiten der Komparatistik, aber auch von der verglei-chenden Story- und Motivforschung5. Wie die Komparatistik sich traditionell als

„allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft“ versteht6, also als eine Wissenschaft, die verschiedene Texte miteinander in Beziehung bringt und ver-gleicht, so ist auch die vergleichende Story- und Motivforschung textfokussiert;

stories werden vor allem als textimmanente Strukturprinzipien aufgefaßt und un-tersucht7.

Demgemäß bezieht sich das in der Komparatistik und in der Story- und Mo-tivforschung entwickelte bzw. angewendete methodische Instrumentarium auf

|| Wichtigkeit von Vergleichen dennoch „das Konzept einer interdisziplinär orientierten, allgemei-nen Vergleichstheorie noch immer als zentrales Forschungsdesiderat“ (mit weiterer Literatur zu entsprechenden Ansätzen).

4 Vgl. grundlegend Colpe, 1988.

5 Zur Begründung der Wendung „Story- und Motivforschung“ s. Kapitel 3.2.

6 Vgl. exemplarisch den Klappentext zur Einführung von Corbineau-Hoffmann, 2004: „Die Komparatistik (oder: Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft) widmet sich einem schwierigen, aber faszinierenden Gegenstand: literarischen Texten in ihrem internationalen Dialog und ihren vielfältigen kulturellen Kontexten.“

7 S. dazu ausführlich Kapitel 3.2.

den Vergleich von Texten8. Wie man aber methodisch vorgehen muß, um Stoffe (bzw. näherhin Stoffvarianten) miteinander zu vergleichen, das ist eine zwar nicht in allen, aber immerhin doch in einigen Punkten ganz andere Frage. Und wie die Methodik stoffvergleichender Analysen mit der einer literaturwissen-schaftlichenKomparatistik oder der Story- und Motivforschung nicht identisch ist, sind es auch die Fragestellungen und Ergebnisse nicht.

Von einer traditionell sich als vergleichende Literaturwissenschaft verste-henden Text-Komparatistik und einer primär textfokussierten Story- und Motiv-forschung ist daher die wissenschaftlich systematische und vergleichende Unter-suchung von Stoffen in der Gestalt einzelner Stoffvarianten, eine Stoff-Kom-paratistik alias komparatistische Hylistik9, zu unterscheiden. Aufbauend auf den Fragestellungen und Methoden textbezogenen Vergleichens einer literaturwis-senschaftlichen Komparatistik und in der Story- und Motivforschung gilt es, im Rahmen einer solchen komparatistischen Hylistik stoffwissenschaftliche Per-spektiven, Fragestellungen und Methoden zu verfolgen und zu großen Teilen überhaupt erst zu entwickeln. Wenn in der folgenden Skizzierung in erster Linie die Aufgaben und die damit verbundenen Herausforderungen und Probleme ei-ner komparatistischen Hylistik benannt werden, so können doch bereits auch manche Lösungsvorschläge unterbreitet oder zumindest Wege für weitere For-schungen angedeutet werden.

9.1.3 Problematik der Vergleichbarkeit von (mythischen) Stoffen

Die Gefahr, daß bei einem Vergleich allzu Disparates nebeneinandergestellt wird, besteht immer. Eine allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft und auch die vergleichende Story- und Motivforschung begegnen dieser Gefahr zum Teil dadurch, daß sie sich auf Texte fokussieren und zudem Sorge tragen, daß die zum Vergleich anstehenden Texte in den meisten Fällen zumindest denselben Gattungen zugehören: Märchen werden mit anderen Märchen verglichen, lyri-sche Gedichte mit lyrilyri-schen Gedichten, Epen mit Epen, Romane mit Romanen

|| 8 Vgl. die neueren Tendenzen innerhalb der Komparatistik in Hinblick auf Mythen zusammen-fassend Heidmann, 2013, 188: „Tatsächlich scheint es in der literaturwissenschaftlichen und komparatistischen Perspektive sinnvoll, die Mythen, zumindest die griechisch-römischen, … im Text, im Ko-Text und im Kontext der poetischen Werke, aus denen die Mythographen sie ja her-ausgelöst haben, zu untersuchen.“

9 Zum Begriff „Hylistik“ und seiner Ableitung s. Kapitel 3.3.

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etc.10. Ist dies nicht der Fall wird, um besagter Gefahr zu entgehen, sowohl die Notwendigkeit, eine Vergleichbarkeit zu begründen, als auch der Aufwand, der beim Vergleichen betrieben werden muß, automatisch höher.

Dies gilt a fortiori beim Vergleichen von Stoffen generell und von mythischen Stoffen im Besonderen. Ein grundsätzliches Problem für eine komparatistische

„Arbeit am Mythos“ besteht in der Disparität des Quellenmaterials. Ritualtexte, Hymnen, Gebete, Epen, Tragödien, Satiren und viele weitere Textgattungen kom-men neben ikonographischen und ggf. noch weiteren medialen Konkretionen wie etwa Verfilmungen oder tänzerischen Darstellungen als Quellen für mythi-sche Stoffe in Frage. Eine gemeinsame Basis für sinnvolle Vergleiche ermythi-scheint somit auf den ersten Blick nur schwer erreichbar. Für die Untersuchung von my-thischen Stoffen bereits innerhalb einer einzigen Kultur und ebenso für die kul-turvergleichende Arbeit ist eine einheitliche Grundlage jedoch unerläßlich, um fruchtbares Vergleichen sinnvoll und überhaupt möglich zu machen. Betrachtet man etliche fächerübergreifende Studien zu (antiken) Mythen genauer, so beste-hen sie in der Regel aus Sammlungen von Aufsätzen, die für sich genommen, also aus jeweils kultur- und entsprechend fachspezifischer Sicht, ausgesprochen ge-winnbringend sein können. Wenn es sich nicht um eine breit gestreute Zusam-menschau verschiedener Aspekte handelt, so besteht das die Beiträge zusam-menhaltende Band allerdings in der Regel eher in einer gemeinsamen Frage-stellung oder Thematik als in der Entwicklung eines übergreifenden theoreti-schen Ansatzes oder eines methoditheoreti-schen Fundaments, das helfen könnte, das disparate Material für eine komparatistische Arbeit gewinnbringend aufzuberei-ten11.

Die Frage, auf welche Weise Stoffe bzw. genauerhin konkrete Stoffvarianten aus den verschiedenen medialen Konkretionsformen herausgelöst werden kön-nen, und wie das extrahierte und in seinem Verlauf rekonstruierte stoffliche Ma-terial so aufbereitet werden kann, daß eine gemeinsame und einheitliche Basis für das Anstellen von Vergleichen entsteht, erweist sich somit gerade für das Vor-haben einer komparatistisch ausgerichteten Mythosforschung im Speziellen und einer komparatistischen Stoffwissenschaft im Allgemeinen als grundlegend.

|| 10 Corbineau-Hoffmann, 2004, 101-114, vergleicht z. B. exemplarisch 3 Gedichte von Hugo von Hofmannsthal (Einem, der vorübergeht), Charles Baudelaire (A une passante) und Stefan George (Von einer Begegnung).

11 S. dazu die Literaturhinweise in Anm. 31, Kapitel 1.3.

9.2 Medeia tötet ihre Kinder: Die Hylemanalyse als

Voraussetzung und Fundament einer transmedialen und

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 188-192)

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