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Hyleme: Kleinste handlungstragende Stoffbausteine

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 133-143)

Stoffvarianten als Hylemsequenzen

5.3 Hyleme: Kleinste handlungstragende Stoffbausteine

5.3 Hyleme: Kleinste handlungstragende Stoffbausteine

Als Bezeichnung für kleinste handlungstragende Einheiten, aus denen jede kon-kret vorliegende Variante eines Stoffes aufgebaut ist, kann von den strukturana-lytischen bzw. strukturalistischen Termini der „Funktion“ und des „Mythems“

keiner in seiner jeweiligen, von Propp bzw. Barthes und Lévi-Strauss geprägten Bedeutung übernommen werden. Man müßte allenfalls eine Begriffs-Umdeutung vornehmen, indem man festsetzt, daß fortan bspw. unter „Mythem“ nicht mehr im Lévi-Strauss’schen Sinne „nur in gebündelter Form und in ihren (v. a. antithe-tischen) Relationen zueinander jeweils unterschiedliche Bedeutungen anneh-mende Sinneinheiten“, sondern „kleinste handlungstragende Einheiten“ ver-standen werden. Die Verwendung des Mythembegriffs in abgeänderter Form wäre zwar insofern legitim, als in der Forschung bereits gelegentlich ein – aller-dings nur selten explizit-reflektiertes – Abrücken vom Mythem-Verständnis in der speziellen Lévi-Strauss’schen Bedeutung beobachtet werden kann78. Doch ist es wissenschaftsgeschichtlich nie unproblematisch, einen in einer sehr spezifi-schen Bedeutung geprägten Begriff in einer anderen Bedeutung zu gebrauchen, vor allem dann, wenn dies nicht explizit gemacht wird. Selbst wenn man dies bewußt tut und ausdrücklich thematisiert, wäre man aber gezwungen, mit be-trächtlichem Erklärungsaufwand und immer wieder von Neuem darauf hinwei-sen zu müshinwei-sen, daß und inwiefern man diehinwei-sen Begriff anders verwendet. Des Weiteren erweckt der Begriff „Mythem“ die Vorstellung, als sei er nur auf mythi-sche Stoffe und ihre Varianten anwendbar – was aber bei einer allgemeinen De-finition von kleinsten handlungstragenden Einheiten von Stoffvarianten nicht der Fall ist79. Analoges gilt für den Mythologembegriff, bei dem das Problem au-ßerdem darin besteht, daß auch er bereits uneinheitlich verwendet wird80.

Die Begriffe „Ereignis“ und „Motiv“ aus der literaturwissenschaftlichen Nar-ratologie und der Story- und Motivforschung bzw. der Märchenforschung haben sich ebenfalls als ungeeignet für eine Bezeichnung kleinster handlungstragender Einheiten erwiesen. Das breite Begriffsspektrum von „Motiv“ ist zu unscharf, und der Ereignis-Begriff zu sehr eingeschränkt auf bedeutsame Ereignisse, und es würde zu einer noch größeren Begriffskonfusion führen, wenn man einen dieser

|| 78 Vgl. Goebs, 2002, 27, die „mythemes“ recht allgemein als Bezeichnung für „mythical episo-des“ verwendet; vgl. explizit definierend Turk 2003, 336: „Mytheme:selbstständige, kleinste Er-eignis-, Erzähl- oder Handlungseinheiten, die in der wissenschaftlichen Behandlung isoliert und katalogisiert werden“. Ähnlich D’Huy, 2015, 70, der mythische Stoffe „in Abfolgen der kürzest möglichen Sätze zerlegt, die wir als Mytheme bezeichnen.“

79 S. dazu auch Kapitel 11.3.

80 S. dazu Kapitel 4.3.

ohnehin uneinheitlich verwendeten Begriffe nähme und ihn nun in einer noch einmal anderen Weise gebrauchte81. In beiden Fällen scheint außerdem die tra-ditionelle Fixierung der Begrifflichkeiten auf Strukturen, die einem literarischen Text inhärent sind, ungeeignet für eine Ausweitung auf etwas, das nicht auf eine konkrete textliche und noch nicht einmal auf eine konkrete sprachliche Realisa-tion festgelegt ist82. Mit anderen Worten: Die Komponente der Transmedialität fehlt. Damit kommt man zu einem wesentlichen Punkt83.

Die hier anvisierten, kleinsten handlungstragenden Einheiten einer Stoffva-riante werden zwar bspw. in Texten mit Hilfe einer bestimmten Sprache realisiert, doch geht es gerade nicht um diese jeweiligen konkreten Realisationen, sondern um die noch hinter der Textebene und sogar noch hinter der Ebene einer Einzel-sprache liegenden Inhalte dieser kleinsten handlungstragenden Einheiten84. Diese Inhalte müssen zwar in irgendeiner Form medial konkretisiert bzw. auf ei-nem Medium abgespeichert sein wie z. B. in Schriftform auf eiei-nem dafür geeigne-ten Dageeigne-tenträger, in der lautlichen Gestalt einer mündlichen Äußerung, in Bil-dern, in Form von neuronalen Verbindungen im Gehirn o. a., sie sind aber nicht auf eine bestimmte dieser verschiedenen Speicher- bzw. Konkretionsformen fest-gelegt85.

|| 81 S. dazu die Ausführungen in Kapitel 5.1.

82 Die Festlegung eines Motivs bzw. Ereignisses auf seine konkrete sprachliche, in Textform realisierte Form trifft selbst auf die rein strukturell-narratologische Verwendungsweise der Be-grifflichkeiten zu, wie sie in Anlehnung an Tomaševskij bei Martínez/ Scheffel, 2012, 111 f, an-hand von Beispielen dargelegt wird.

83 Zur Transmedialität (manchmal auch unter den Begriff „Intermedialität“ gefaßt) als zuneh-mend wichtigem Faktor in der modernen Erzählforschung s. übergreifend die Sammelbände von Nünning, V./ Nünning, A., 2002 (darin besonders den einleitenden Artikel „Produktive Grenz-überschreitungen: Transgenerische, intermediale und interdisziplinäre Ansätze in der Er-zähltheorie“ der beiden Herausgeber, ebd. 1-22), und Eckel/ Müller-Wood, 2017 (ebd. 9); grund-legend auch die Einführung in eine „transmediale Erzähltheorie“ von Mahne, 2007. Zur Unterscheidung von „Intermedialität“ und „Transmedialität“ s. ausführlicher Kapitel 9.2.1.

84 Vgl. Wolf, 2002, 38, der in diesem Zusammenhang diese Inhalte als „mental-abstrakt“ be-zeichnet, was insofern nicht ganz unproblematisch ist, als diese Inhalte ja nicht abstrakt sein müssen, sondern sehr konkret sein können; „abstrakt“ verwendet Wolf hier vermutlich im Sinn von „losgelöst von sichtbaren oder greifbaren Konkretionsformen“.

85 Vgl. bereits vorsichtig in diese Richtung gehend Burkert, 1982, 64, in Bezug auf mythische Stoffe: „Es handelt sich offenbar um Bedeutungsstrukturen noch jenseits der einzelsprachlichen Zeichen und ihrer Syntax.“ Vgl. auch die zurückhaltend formulierte Einsicht bei Martínez/ Schef-fel, 2012, 167: „Die Handlungsebene narrativer Texte wäre insofern gegenüber der Art und Weise ihrer Erzählung in einer wichtigen Hinsicht autonom.“ Vgl. ebd. 166 f das Referat zum kogniti-onspsychologischen Konzept der mentalen Abspeicherung von Handlungsabläufen in Form von

„scripts“.

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Mit „hinter der Ebene einer Einzelsprache liegend“ ist nicht gemeint, daß der Inhalt einer kleinsten handlungstragenden Einheit völlig sprachunabhängig i. S. v. vorbegrifflich ist. Das Denken kommt ohne begriffliche Vorstellungen nicht aus, aber diese begrifflichen Vorstellungen sind nicht nur an Sprache und dar-über hinaus nicht notwendig an eine bestimmte Sprache gebunden. So kann etwa der einen Handlungsschritt darstellende Inhalt „Macbeth erdolcht Duncan“

sprachlich (und textlich) so realisiert sein, aber auch anders, z. B. durch den va-riierenden Ausdruck „Macbeth tötet Duncan mit einem Messer“ oder durch eine Phrase aus einer beliebigen anderen Sprache wie zum Beispiel durch „Macbeth poniards Duncan“, oder auch in Form eines Gemäldes, eines pantomimischen Tanzes oder eines Stummfilms etc. Der in verschiedenen medialen und einzel-sprachlichen Konkretionen zum Ausdruck gebrachte Inhalt ist mit diesen Kon-kretionen nicht deckungsgleich und auf keine von ihnen ausschließlich festge-legt. Daß zum Beispiel Übersetzungen von bereits sprachlich kodierten Inhalten oder daß Umsetzungen solchermaßen kodierter Inhalte in andere Gattungen oder gar in andere mediale Konkretionsformen (wie Tanz oder Verfilmung) im Einzelfall bestimmte Veränderungen auch des jeweiligen Inhalts nach sich zie-hen können, steht außer Frage, ist aber weder eine unumstößliche Notwendig-keit, noch spricht es gegen das prinzipielle Nicht-festgelegt-Sein von Inhalten auf bestimmte Präsentations- bzw. Konkretionsformen86.

Aufbauend auf diesen verschiedenen Überlegungen und auf dem Hinter-grund der Tatsache, daß verschiedene andere Begriffe wie Motiv, Ereignis, Funk-tion (bzw. Motifem), Mythem oder Mythologem, mit deren Hilfe man kleinere Stoffeinheiten allgemein oder speziell in Hinblick auf Mythen zu fassen versucht hat, nicht das zum Ausdruck bringen und zum Inhalt haben, was hier gesucht wird und gemeint ist, erscheint es sinnvoll und notwendig, will man sich nicht ständig der Gefahr von Verwechslungen und der Notwendigkeit umständlicher Erklärungen und Abgrenzungen aussetzen, eine neue Terminologie einzuführen:

|| 86 Vgl. Graf, 1985, 9, nach dem nicht ein dichterisches Werk, sehr wohl aber „der Mythos ohne Verlust von einer Sprache in die andere übersetzt werden kann“. Vgl. allgemeiner auf Erzähl-stoffe bezogen ähnlich Barthes, 1988, 134: „Mit anderen Worten, die Erzählung ist ohne grund-legende Einbußen übersetzbar …“ Es ist Barthes zu folgen, wenn er, vorsichtiger als Graf, hierbei eine leichte Einschränkung macht. Eine deutliche Gegenposition vertritt bspw. Mahne, 2007, 127: „Die verlustfreie Transformation einer Geschichte, wie sie die Strukturalisten postulieren, ist lediglich ein hypothetisches Konstrukt. Der Erzählinhalt wird statt dessen unvermeidlich von der Darstellungsstruktur des Mediums geprägt.“ Auch diese andere extreme Position müßte man etwas abmildern; ein Wechsel der medialen Präsentationsform kannund wird auch oft, muß aber nicht „unvermeidlich“ den Ausdrucksinhalt des Erzählten verändern.

→ Für eine kleinste handlungstragende Einheit eines Erzählstoffes, die nicht auf eine bestimmte mediale Gestaltung oder Einzelsprache festge-legt ist, wird hier in Anlehnung an das griechische Wort „Hyle“ (ὕλη,

„Stoff, Rohmaterial“) der Begriff Hylem geprägt87.

Analog zu Begriffsbildungen wie „Phonem“ oder „Morphem“, welche die klein-ste, potentiell bedeutungsunterscheidende lautliche Einheit bzw. die kleinste be-deutungstragende Einheit sprachlicher Äußerungen bezeichnen, zielt „Hylem“

auf eine kleinste handlungstragende Einheit eines – nicht nur mythischen, son-dern eines jeden – Erzählstoffes.

Die Verwendung des Hylembegriffs bringt verschiedene Vorteile mit sich, was Eindeutigkeit der Verwendung, Begriffsschärfe, umfassende Anwendbarkeit und Freiheit von vorwegnehmenden Interpretationsvorgängen angeht. So erüb-rigt sich bspw. eine Bestimmung des Umfangs eines Hylems wie beim literari-schen „Motiv“, das mit einer gewissen quantitativen Unschärfe als „Texteinheit kleineren Umfangs“ aufgefaßt wird. Auch qualitativ zeichnet sich „Hylem“ durch eine größere Begriffsschärfe aus, da nur handlungstragende Einheiten in den Blick genommen werden, nicht auch noch Orte oder Konstellationen wie etwa in der Motivforschung, und Weiteres wie bspw. Namen und ihre Bedeutung in der strukturalistischen Analyse von Lévi-Strauss. Darüber hinaus müssen Hyleme nicht den literaturhistorisch bedingten, „ästhetischen Rang“ eines Motivs oder den kulturbedingten Status eines „bedeutsamen“ Ereignisses im Lotman’schen Sinn besitzen; der Hylembegriff kann umfassend auf alle kleinsten handlungstra-genden Einheiten angewendet werden. Außerdem bleiben zwei Deutungsvor-gänge aus dem Spiel, die bei Propp, Barthes und Lévi-Strauss eine entscheidende Rolle spielen: die funktionale Deutung ausgewählter Stoffeinheiten (Propp, Barthes) und die semantische Deutung gebündelter Stoffeinheiten (Lévi-Strauss). Insofern unterscheidet sich die hier neu anvisierte Hylemanalyse auch grundsätzlich von einer Mythemanalyse nach Lévi-Strauss. Weitere Vorteile lie-gen darin, daß nicht ein ursprünglich anders definierter Begriff wie „Motiv“ oder

„Mythem“ durch eine neue Umdefinition weiter verunklart wird, und daß man nicht, wie dies bei den Begriffen „Mythem“ oder „Mythologem“ der Fall wäre, in die Verlegenheit kommt erklären zu müssen, was im Einzelfall das spezifisch

„Mythische“ an einem Mythem oder Mythologem ist88. Hyleme sind Grundbau-steine von Erzählstoffen jeglicher Art; inwiefern ein Hylem in einer konkreten

|| 87 S. dazu bereits auch den Begriff „Hylistik“ in Kapitel 3.3.

88 Zu Vorteilen des Hylem-Begriffs im Vergleich zum Mythem-Begriff bzw. zur Frage, wann sich ein Hylem als ein „mythos-affines“ Hylem bezeichnen läßt s. ausführlicher Kapitel 11.3. Zu den

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Stoffvariante bspw. als „mythisches Hylem“ anzusehen ist, ist eine davon noch einmal zu trennende Frage, die darüber hinaus differenziertere Möglichkeiten der Analyse eröffnet (z. B. bei Misch- oder Grenzfällen in der Stoffgestaltung)89. Als Hyleme verstandene Stoffbausteine repräsentieren Inhalte, die überdies nicht an bestimmte mediale Konkretionsformen wie Texte oder Bilder gebunden sind.

Gemäß der bunten Vielfalt erzählerischer Stoffe zielen verschiedene Hyleme auf gänzlich verschiedene Inhalte. Dennoch weisen alle Hyleme eine von den je-weils spezifischen Inhalten zu unterscheidende logische Grundstruktur auf. Denn wenn es darum geht, kleinste handlungstragende Einheiten zu definieren, dann muß mit einer solchen Einheit ein Handlungsbaustein im allgemeinsten Sinn be-zeichnet sein, und zwar genau ein Handlungsbaustein. Da zu jedem Handlungs-baustein wiederum die Bezeichnung eines Handlungsträgers notwendig ist90, läßt sich folglich die logische Grundstruktur eines Hylems bestimmen als die Ver-bindung der Bezeichnung einer Handlung, eines Vorgangs, einer Eigenschaft

|| Vorteilen eines noch weiter differenzierten Hylembegriffs, der zwischen Hylem und

Hylem-schema unterscheidet, s. Kapitel 7.3 und 7.4.

89 S. dazu ausführlich Kapitel 11.

90 Oder mehrerer Handlungsträger; die Mehrzahl-Alternative (nicht-singularische Numeri wie Dual oder Plural) ist mit gemeint und wird hier nur der Übersichtlichkeit halber nicht explizit ausgeführt. In textlichen Konkretionen mythischer Stoffe kann außerdem der Handlungsträger z. B. durch eine passivische Formulierung („Prometheus wurde bestraft“) oder andere Wendun-gen (z. B. „es donnert“) unbezeichnet bleiben. Da es bei Hylemen aber nicht um die grammati-schen, sondern logischen Subjekte der Handlungen geht, können die Handlungsträger in etli-chen soletli-chen Fällen durchaus (z. B. aus dem Kontext oder durch Kenntnis kultureller Spezifika) eruiert werden („Zeus bestraft Prometheus“ bzw. „Zeus donnert“). Wenn in Ausnahmefällen die Identität eines Handlungsträgers nicht näher spezifiziert werden kann (z. B. „es donnert“ in nicht-mythischen Stoffen, vgl. auch „es wird dunkel“, „es regnet“), bleibt unabhängig davon die logische Grundstruktur dieselbe (Handlungsträger + Prädikat). Denn auch wenn sprachwissen-schaftlich gesehen bei diesen Beispielen eine nicht besetzte Argumentstelle des Verbs durch ein Expletivum ersetzt wird und damit der Handlungsträger scheinbar unbestimmt bleibt, so läßt sich doch, logisch betrachtet, die sprachliche Ausdrucksform in solchen Fällen so interpretieren, daß das Subjekt, vereinfachend gesagt, bei dem vom Verb bezeichneten Vorgang nicht explizit ausgedrückt, implizit aber doch angedeutet wird. Das wird sichtbar, wenn man die genannten Beispiele entsprechend umformuliert: „Donner ereignet sich“ bzw. „Dunkelheit bricht herein“

bzw. „Regen fällt“.

oder eines Zustands mit einem Handlungsträger91, wobei im Fall einer Hand-lungsschilderung gegebenenfalls noch ein Objekt der Handlung hinzutreten kann92.

Diese so bestimmte logische Grundstruktur eines Hylems hat eine propositio-nale Struktur und entspricht vereinfacht der grammatischen Relation zwischen einem (logischen) Subjekt und dem dazugehörigen (logischen) Prädikat93, gege-benenfalls ergänzt durch ein (logisches) Objekt (oder mehrere Objekte bzw. wei-tere Argumentstellen des Prädikats), im oben bereits angeführten Beispiel:

„Macbeth erdolcht Duncan“. Sie kann in sprachlichen, textlichen (oder anderen) Konkretionen in verschiedenen Formen realisiert werden, wie z. B. grammatisch abgewandelt durch „Duncan wird durch Macbeth erdolcht“ oder in Form einer bildlichen Darstellung etc., und muß deshalb erst aus den verschiedenen media-len und einzelsprachlichen Konkretionsformen extrahiert und auf die logische Grundstruktur gebracht werden, die sich eben durch die grammatische Relation von (jeweils logischem) Subjekt – Prädikat (– ggf. Objekt) darstellen läßt.

Wenn Hyleme auf einzelne mediale Konkretionen nicht festgelegte Inhalte darstellen, so gilt es gleichwohl zu betonen, daß diese Inhalte nicht gleichsam wie platonische Ideen unabhängig von medialen Konkretionen oder gewisserma-ßen „vorgängig“ zu diesen existieren94. Hyleme können nicht deduktiv postuliert, sondern nur durch Extraktion aus einzeln vorliegenden medialen Konkretionen induktiv gewonnen werden. Wie Phoneme und Morpheme nur in Gestalt be-stimmter einzelner Phone und Morphe konkret greifbar werden, so sind Hyleme nur in ihren medial verschiedenen Konkretionsformen greifbar.

|| 91 Zur Unterscheidung der Schilderung eines „Zustands“ und einer „Eigenschaft“ vgl. die sprachwissenschaftliche Unterscheidung zwischen stage-level predicates („X friert“) und indivi-dual-level predicates („X ist groß“).

92 Oder, allgemeiner und sprachwissenschaftlich ausgedrückt: es können außer dem Subjekt noch weitere Argumente zum Prädikat hinzutreten. Vgl. als einfachen Fall die Kombination von direktem und indirektem Objekt, wie z. B. bei „Thetis gibt Achilleus den Schild des Hephaistos“.

Die nicht-singularischen Numeri (wie Dual oder Plural) sind hier außerdem wiederum inkludiert und werden nur der Übersichtlichkeit halber nicht explizit genannt.

93 Wobei die Prädikatsfunktion in der textlichen Realisation eines Hylems nicht durch ein Ver-bum ausgefüllt werden muß. Ähnlich folgen nach Masciadri, 2008, 370 f, zwar nicht kleinste Stoffbausteine generell, dafür aber die seiner Ansicht nach rekonstruierbaren und immer gleich-bleibenden „Kernstück[e]“ mythischer Stoffe „demselben formalen Muster, nämlich der elemen-taren Struktur eines Aussagesatzes, in der regelmäßigen Verbindung der Bezeichnung einer Per-son und eines Handlungselements, von noun phrase und verb phrase.“ Zur Problematik der Annahme von identischen und unveränderlichen „Kernen“ mythischer Stoffe s. Kapitel 4.4.

94 Dies betont bereits zurecht Leitch, 1986, 16.

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Hyleme beziehen sich nicht nur auf Handlungen im engeren Sinn (i. S. v. Ta-ten einzelner Figuren), sondern umfassend auf alle kleinsten handlungstragen-den Einheiten einer Stoffvariante, also etwa auch auf Vorgänge oder auf explizit oder implizit gegebene Aussagen überZustände oder Eigenschaften (nicht auf diese selbst). Von daher lassen sich grundsätzlich dynamische und statische Hyleme voneinander unterscheiden. „Zeus tötet Erechtheus“ zielt auf ein dyna-misches, „Zeus ist der König der Götter“ auf ein statisches Hylem95.

Ein Hylem ist aufgebaut aus einem (und nur einem) Hylemprädikat und aus einem oder mehreren mit dem Hylemprädikat verbundenen Hylemelementen. So-wohl vom Hylemprädikat wie von den Hylemelementen können wiederum Deter-minationen abhängen. Die Darstellung oder Bezeichnung einer Handlung, eines Vorganges, eines Zustandes oder einer Eigenschaft durch ein (logisches) Prädikat ist gewissermaßen der Kern eines Hylems. Kategorial auf einer anderen Ebene liegen die Hylemelemente, bei denen es sich um mit dem Prädikat in (logischer) Subjekt- oder Objekt-Funktion assoziierte Figuren, Gegenstände, Örtlichkeiten, Naturerscheinungen u. a. handelt; sprachwissenschaftlich betrachtet entspre-chen die Hylemelemente den verschiedenen möglientspre-chen Argumentstellen eines Prädikats. Schließlich können sowohl die Hylemelemente als auch das Hylem-prädikat mit näheren Bestimmungen (= Determinationen96) versehen werden, wie z. B. durch örtliche, zeitliche oder andere Bestimmungen, durch Beinamen, durch die Zuschreibung von Eigenschaften etc. (sprachlich ausgedrückt bspw.

durch Appositionen, Adjektive, Adverbien, präpositionale Wendungen, morpho-logische Kasus etc.; Determinationen sind, freilich mit anderen Mitteln, auch iko-nographisch darstellbar).

Hyleme weisen zwar grundsätzlich die propositionale Struktur einer Aussage auf, sind aber nicht identisch mit Propositionen im formal-logischen bzw.

|| 95 Vgl. analog in der Literaturwissenschaft die Unterscheidung zwischen „dynamischen“ und

„statischen“ Motiven, z. B. bei Martínez/ Scheffel, 2012, 112, die bereits bei Tomaševskij, 1985, 220 zu finden ist. Bei den oben angeführten Zeus-Beispielen handelt es sich speziell um mythos-affine Hyleme, also um ein dynamisches mythos-affines Hylem und ein statisches mythos-affi-nes Hylem; zur Charakterisierung von Hylemen als „mythos-affin“ s. ausführlicher Kapitel 11.3.

96 Der Begriff „Determination“ wird hier weder in einem speziell philosophischen noch lingui-stischen Sinn verwendet, sondern steht stellvertretend in einem allgemeinen Sinn für verschie-dene Arten von näheren Bestimmungen der Hylemelemente bzw. Hylemprädikate (s. unten). Zu weiteren präzisierenden Überlegungen zu Determinationen im hier gemeinten Sinn und zu einer schematischen Darstellung der Grundstruktur eines Hylems s. Kapitel 9.3. Zur spezifischen Pro-blematik weitgehend indeterminierter, abstrahierter und unvollständiger Hyleme s. ausführlich Kapitel 9.8.3.

sprachphilosophischen Sinn. Es kann jedenfalls nicht darum gehen, aus textli-chen oder anderen medialen Konkretionen Stoffbausteine in Form reiner Propo-sitionen zu extrahieren, ohne jegliche Berücksichtigung von Negationen und Mo-dalitäten. Sätze wie „Dionysos hat nicht gejubelt“ oder „Dionysos hätte jubeln sollen“ ergeben sprachphilosophisch betrachtet die Proposition „Dionysos“ (Re-ferenz) + „jubeln“ (Prädikation), behalten aber bei einer Hylemanalyse, also bei einer Rekonstruktion des Handlungsablaufs, natürlich den verneinenden Sinn.

In beiden Fällen, im ersten direkt, im zweiten indirekt, läßt sich für den Hand-lungsablauf das Hylem „Dionysos jubelt(e) nicht“ rekonstruieren.

Auch wenn man Hyleme aufgrund ihrer grundsätzlich propositionalen Struktur in der Form von Sätzen wiedergeben kann, sind Hyleme schließlich nicht identisch mit Sätzen in Texten. Es geht nicht um syntaktisch-textliche Bau-steine, sondern um inhaltliche Aussagen97. Ein Hylem läßt sich nicht in Form mehrerer Aussagen in Satzform darstellen, sonst wäre es keine kleinste hand-lungstragende Einheit mehr. Andererseits können sich in einer ikonographi-schen Einheit wie einem Gemälde oder in einem Satz aus einer textlichen Quelle durchaus mehrere Hyleme befinden. Dazu ein (textliches) Beispiel98:

Als Chryse, die Tochter des Pallas, mit Dardanos vermählt wurde, hat sie als Mitgift Gaben der Athene mitgebracht, nämlich die Heiligtümer der großen Götter.

In einer ersten Annäherung kann man in diesem Satz vier Hyleme ausmachen (ein statisches und drei dynamische), die sich, soweit möglich in eine chronolo-gische Reihenfolge gebracht, folgendermaßen darstellen lassen:

– Chryse ist Tochter von Pallas

– Athene gibt Chryse die Heiligtümer der großen Götter

– Chryse bringt als Mitgift die Heiligtümer der großen Götter mit zur Hochzeit – Dardanos heiratet Chryse

|| 97 Vgl. ähnlich Barthes, 1988, 110, bei der näheren Beschreibung der „Funktionen“ von Erzäh-lungen; nach ihm sind diese „Erzähleinheiten in ihrer Substanz unabhängig von den linguisti-schen Einheiten: sie können zwar zur Deckung kommen, aber nur gelegentlich, nicht

|| 97 Vgl. ähnlich Barthes, 1988, 110, bei der näheren Beschreibung der „Funktionen“ von Erzäh-lungen; nach ihm sind diese „Erzähleinheiten in ihrer Substanz unabhängig von den linguisti-schen Einheiten: sie können zwar zur Deckung kommen, aber nur gelegentlich, nicht

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 133-143)

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