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6 Definition und erste Differenzierung des Stoffbegriffs

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 143-148)

Open Access. © 2019 Zgoll, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz.

https://doi.org/10.1515/9783110541588-006

6 Definition und erste Differenzierung des Stoffbegriffs

6.1 Hylem – Stoffvariante – Stoff

Aufbauend auf dem oben definierten und im Folgenden näher spezifizierten Hy-lembegriff und auf den Überlegungen zur grundsätzlichen Polymorphie von Stof-fen1 lassen sich die dieser Arbeit zugrundeliegenden und neu erarbeiteten Be-griffe „Hylem“ („Stoffbaustein“), „Stoffvariante“ und „Stoff“ (näherhin Erzähl-stoff2) zusammenfassend folgendermaßen definieren:

→ Ein Hylem ist eine logisch und sprachlich standardisierte, kleinste hand-lungstragende Einheit einer Stoffvariante; diese Einheit ist aus einer me-dialen oder einzelsprachlichen Konkretion rekonstruierbar, auf diese aber nicht festgelegt.

→ Eine Stoffvariante ist eine in sich abgeschlossene und in Einzelheiten festgelegte Sequenz verschiedener, aufeinander bezogener Hyleme ei-nes bestimmten Stoffes.

→ Ein Stoff ist eine nicht abgeschlossene Menge von Varianten einer durch spezifische Protagonisten, Örtlichkeiten, Gegenstände und Gescheh-nisse nur ungefähr umschreibbaren, polymorphen Hylemsequenz.

Anders ausgedrückt: Eine Stoffvariante ist eine Hylemsequenz; diese Hylemse-quenz ist ein Ausschnitt aus der nur annäherungsweise umschreibbaren Menge der medial unterschiedlich realisierbaren Hylemsequenzen, die als ein „Feld von Möglichkeiten“ einen bestimmten Stoff ausmacht.

Auf dem Hintergrund der hier vorgenommenen und von der Sache her not-wendigen Differenzierung zwischen „Stoff“ und „Stoffvariante“ wird deutlich, daß selbst in solchen Fällen, in denen ein Wort wie „Mythos“ nicht text- oder gat-tungs-, sondern stoffbezogen verwendet wird, der Ausdruck „X ist ein Mythos“ in

|| 1 S. Kapitel 4.6.

2 Zur Unterscheidung von textilem Gewebe.

zweierlei Weise verstanden werden kann, einmal in Bezug auf eine einzelne vor-liegende, in einer bestimmten medialen Form konkretisierte Stoffvariante („die Erzählung von Apollon und Daphne in den Metamorphosen Ovids ist ein My-thos“), einmal aber auch auf den Stoff insgesamt bezogen, das heißt auf die ge-samte Bandbreite der verschiedenen existierenden und möglichen Varianten ei-nes Stoffes („die Erzählung von Apollon und Daphne ist ein Mythos“). Es wäre analytisch präziser, wenn man in Hinblick auf den medial konkretisierten Einzel-fall immer von einer Stoffvariante, bzw. im Beispiel von der Erzählung bei Ovid von einer Mythenvariante, nicht von einem Stoff bzw. Mythos sprechen würde, doch stößt man hier an die Grenzen des pragmatisch Sinnvollen – was nicht pro-blematisch ist, wenn man sich nur der doppelten Bezugsmöglichkeit einer un-scharfen Verwendung von „Stoff“ bzw. „Mythos“ bewußt ist. In dieser Arbeit wird in der Regel terminologisch zwischen „Stoff“ bzw. „Mythos“ als Mengenbe-zeichnung für all die existierenden und möglichen Stoffvarianten einerseits und

„Stoffvariante“ (bzw. „Mythenvariante“) andererseits im Sinn von „einzelner Va-riante eines (mythischen) Stoffes“ unterschieden; nur dort, wo sich theoretische Aussagen sowohl auf das Gesamt als auch auf den konkreten Einzelfall beziehen lassen, wird als gewissermaßen übergeordneter Begriff „Stoff“ (bzw. „Mythos“) für beides verwendet, für das Gesamt wie auch für die darin inbegriffenen Einzel-fälle.

Die nähere Bestimmung der Hyleme einer Stoffvariante als „aufeinander be-zogen“ verzichtet bewußt auf das Kriterium einer kausallogischen Verknüpfung, wie sie von Forster für die nähere Bestimmung von plot im Gegensatz zur story verwendet wurde3, da auf der Stoff-Ebene die Verknüpfung schon allein durch chronologische Bezüge hergestellt sein kann, kausallogische Verknüpfungen je-denfalls nicht explizit sein müssen4.

Auf die Frage, welche Faktoren in formaler und inhaltlicher Hinsicht für die Abgeschlossenheit einer als Hylemsequenz verstandenen Stoffvariante in Gestalt

|| 3 S. Anm. 6, Kapitel 3.1; vgl. auch Tomaševskij, 1985, 215: „Es ist zu unterstreichen, daß die Fa-bel nicht nur ein temporäres, sondern auch ein kausales Merkmal verlangt. … Je schwächer diese kausale Verknüpfung ist, desto stärker rückt eine rein temporale Verknüpfung in den Vorder-grund.“

4 Von kognitionspsychologischer Seite her kommt Echterhoff, 2002, 268, zu einer ähnlich all-gemeinen Bestimmung: „Als Hauptfunktion und zugleich psychologisch zentrales Merkmal des Narrativen ist also bislang die Stiftung eines Zusammenhangs zwischen einzelnen, aufeinander folgenden Ereignissen festzuhalten.“

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einer bestimmten medialen Konkretion verantwortlich sind5, soll in Kapitel 8 nä-her eingegangen werden.

Durch die Auffassung von Stoffvarianten als Verknüpfungen von Hylemen mit der im vorigen Kapitel beschriebenen logischen Grundstruktur wird es prin-zipiell möglich, verschiedenste Darstellungsformen einer Stoffvariante, wie etwa in Gestalt einer Pantomime, von Filmszenen, Comic-Zeichenfolgen, Texten in verschiedenen Sprachen, Reliefs, Statuengruppen o. a., auf ein und dieselbe Hylemsequenz zurückzuführen. Damit ist ein wesentliches Fundament für eine transmediale und komparatistische Hylistik gelegt6.

6.2 Die fünf „narrativen Ebenen“: Geschehen – Stoff – ungeformte Stoffvariante – geformte Stoffvariante – mediale Konkretion

Es bleibt nun noch zu fragen, ob oder inwiefern sich die erarbeiteten Definitionen von „Stoff“ und „Stoffvariante“ als kompatibel erweisen mit den literaturwissen-schaftlichen Termini wie plot (vgl. „Erzählung“) oder story (vgl. „Geschichte“) oder „Geschehen“ 7. Schmid hat ein „idealgenetisches Modell der narrativen Ebe-nen“ entwickelt, das die vier Ebenen „Geschehen“, „Geschichte“ (vgl. story), „Er-zählung“ (vgl. plot) und „Präsentation der Er„Er-zählung“ unterscheidet8. Es wurde bereits bemerkt, daß diese Begrifflichkeiten aus der Narratologie in der Regel textbezogen gebraucht und definiert werden und daher für eine nicht auf be-stimmte mediale Konkretionen (wie bspw. Texte) festgelegte Stoffwissenschaft eher ungeeignet sind. Dennoch lassen sich diese narratologischen Begrifflichkei-ten entweder übernehmen oder als Analogien heranziehen, wenn es um die Un-terscheidung von verschiedenen Ebenen aus stoffwissenschaftlicher Perspektive geht – bis auf einen Unterschied: es ist notwendig, noch einen weiteren Begriff hinzuzufügen.

|| 5 Voraussetzung für eine solche Abgeschlossenheit ist natürlich, daß die Stoffvariante nicht verkürzt oder unvollständig wiedergegeben wird.

6 Auf die Relevanz des Hylembegriffs für eine komparatistische Vorgehensweise wird im Beson-deren noch einmal in Kapitel 9.2 näher eingegangen. Zur Transmedialität (ohne explizite Ver-wendung dieses Begriffs) von Erzählstoffen s. auch Wolf, 2002, 38 f, ohne eine nähere Bestim-mung der Beschaffenheit von kleinsten Handlungseinheiten, aus denen ein Erzählstoff sich zusammensetzt.

7 Vgl. dazu bereits die Ausführungen im Kapitel 3.1.

8 S. Schmid, 2014, 225; vgl. auch das Schema ebd. 245.

Nach Schmid wird idealgenetisch betrachtet aus einem umfassenden „Ge-schehen“ eine bestimmte, noch ungeformte „Geschichte“ (vgl. story) herausge-griffen, in die künstliche bzw. künstlerische Form einer „Erzählung“ (vgl. plot) gegossen und dann (in Textform) „präsentiert“. Auf dem Hintergrund der Über-legungen zur grundsätzlichen Polymorphie von Stoffen sind aus stoffwissen-schaftlicher Perspektive nicht vier, sondern fünf „narrative Ebenen“ anzusetzen, indem zu der von Schmid vorgeschlagenen Vierstufigkeit „Geschehen – Ge-schichte – Erzählung – Präsentation der Erzählung“ noch „Stoff“ als eine wich-tige fünfte Kategorie hinzukommt (auf eine weitere Differenzierung von einiger Tragweite, nämlich zwischen „Stoff“ und „Stoffschema“, wird in Kapitel 7 einzu-gehen sein):

→ Wiederum idealgenetisch gesehen wird aus einem umfassenden Gesche-hen ein bestimmter Stoff herausgegriffen, der als ein Feld von Möglich-keiten Gestaltungsspielräume in Form verschiedenster Stoffvarianten anbietet. Aus diesen Möglichkeiten wird eine noch ungeformte Stoffvari-ante (vgl. story) gewählt, in eine bestimmte Form gebracht (geformte Stoffvariante, vgl. plot) und dann einer medialen Konkretion zugeführt, also bspw. textlich oder bildlich dargestellt (mediale Konkretion der ge-formten Stoffvariante).

Um ein Beispiel zu bringen: Aus der Gesamtheit dessen, was erzählt werden kann (Geschehen), oder, um dies etwas mehr einzuschränken: aus der Gesamtheit aller griechischen Mythen wird bspw. von einem Autor wie Ovid der Stoff von der Ri-valität zwischen der thebanischen Königin Niobe und der Göttin Leto herausge-griffen, der in Form verschiedenster Varianten existiert und das Potential zu wei-teren Varianten in sich trägt. Aus diesen Varianten wird eine bestimmte, noch ungeformte Stoffvariante neu generiert oder ausgewählt (nach der z. B. am Ende nicht zwei Kinder der Niobe verschont, sondern alle Kinder von Artemis und Apollon getötet werden). Durch künstlerische Gestaltung wie etwa durch prolep-tische Andeutungen des schlimmen Endes u. a. wird diese ungeformte zur ge-formten Stoffvariante, die schließlich in einer bestimmten medialen Konkretion, in diesem Fall in textlicher Form, präsentiert wird, nämlich in den Versen 146 bis 312 im 6. Buch von Ovids Metamorphosen9. Abschließend sollen diese Überlegun-gen schematisch dargestellt werden:

|| 9 Proleptische Andeutungen des Ausgangs in Ov. met. 6,150-156. Diese idealgenetische Dar-stellung hat, wie das Wort „idealgenetisch“ besagt, nicht unbedingt etwas mit dem tatsächlichen Produktionsprozeß zu tun. Induktiv-analytisch wird man außerdem umgekehrt vorgehen, und

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Tab. 1: Die fünf „narrativen Ebenen“

Geschehen Gesamtheit aller tatsächlichen oder denkbaren Ereignisse bzw. Handlungen, die narrativ dargestellt werden können, ohne feste zeitliche, räumliche oder ereignisbezogene Grenzziehungen: alles, was erzählt werden kann

vgl. narratologisch „Geschehen“

Stoff Eine nicht abgeschlossene Menge von Varianten einer durch spezifische Protagonisten, Örtlichkeiten, Gegen-stände und Geschehnisse nur ungefähr umschreibbaren, polymorphen Handlungs- bzw. Hylemsequenz10

______

ungeformte Stoffvariante Eine in sich abgeschlossene und in Einzelheiten festgelegte Sequenz verschiedener, aufeinander bezogener Hyleme ei-nes bestimmten Stoffes in ihrer natürlichen chronologi-schen Abfolge (im ordo naturalis)11

vgl. narratologisch engl. story, franz. histoire, russ. Formalismus fabula, deutsch „Geschichte“

geformte Stoffvariante Eine in sich abgeschlossene und in Einzelheiten festgelegte Hylemsequenz eines bestimmten Stoffes in einer künstli-chen bzw. künstleriskünstli-chen Abfolge (im ordo artificialis)

vgl. narratologisch engl. plot, franz.

discours, russ. sjužet, deutsch u. a.

„Erzählung“

mediale Konkretion der geformten Stoffvariante Darstellung der geformten Stoffvariante mit Hilfe eines

Tex-tes, eines Bildes oder anderer Medien

vgl. narratologisch „Präsentation der Erzählung“

|| von der medialen Präsentation ausgehend die darin steckende, geformte bzw. in einem nächsten Schritt die ungeformte Stoffvariante rekonstruieren und deren Zugehörigkeit zu einem konkre-ten Stoff bestimmen.

10 Zum Begriff der „Handlung“ in diesem Zusammenhang s. den Anfang von Kapitel 5.

11 Zur Unterscheidung von ordo naturalis und ordo artificialis s. bereits Kapitel 3.1 und noch einmal unten in Kapitel 6.3.

6.3 Folgerungen für die Mytheninterpretation 1:

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