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Die Urversion: Sehnsucht nach dem Ursprünglichen

4 Die Suche nach „dem“ Stoff und verschiedene Lösungsvorschläge, oder: Niobes Hybris

4.2 Die Urversion: Sehnsucht nach dem Ursprünglichen

Nicht, daß Meisterwerke antiker Dramatik, Epik oder Prosa für die Erforschung von antiken Mythen unwichtig wären. Aber die bereits genannte Gefahr bleibt unabweisbar, daß man etwas als „typisch mythisch“ ansieht, was auf das Konto autorenspezifischer Gestaltungskunst geht. Macht man mit der Definition von

„Mythos“ als Stoff, als reinem Rohmaterial ernst, dann wird man kaum die Über-zeugung für richtig halten können, die im Extremfall sogar nur die Glanzstücke antiker Literaturen für den einzig angemessenen und „wahren“ Ausdruck „des Mythos“ hält9.

4.2 Die Urversion: Sehnsucht nach dem Ursprünglichen

Ein weiterer Versuch der Annäherung besteht darin, diejenige Handlungsse-quenz als „den“ mythischen Stoff zu definieren, welche die „Urversion“ darstellt oder sich zumindest als eine solche ursprüngliche Version rekonstruieren bzw.

vermuten läßt. Zugrunde liegt diesem Versuch die Annahme, daß jede Ge-schichte irgendwann zum allerersten Mal erzählt worden sein muß, und daß spä-tere Formen sich als Abwandlungen einer solchen Urform begreifen lassen.

Die Suche nach Urversionen mythischer Stoffe wurde innerhalb der Mythos-forschung und vor allem im Rahmen der MärchenMythos-forschung einige Zeit lang be-trieben10. Man ging davon aus, daß es zu jedem mythischen Stoff eine Urform gibt, und daß man versuchen kann, sich diesem Anfang anzunähern, auch wenn man sich der Schwierigkeiten dieses Unterfangens durchaus bewußt war und der Erfolg stark von der Quellenlage, dem vermutlichen Alter des mythischen Stoffes, der Anzahl der bezeugten Varianten und anderen Faktoren abhing. Inzwischen hat man die Suche nach solchen Urversionen allerdings weitgehend aufgegeben, und das zu Recht11.

|| 9 S. bspw. Dörrie, 1978, 7.

10 S. dazu die zusammenfassende Darstellung dieser Bestrebungen auf dem Gebiet der Mär-chenforschung mit Berücksichtigung der veranschlagten Kriterien für die Bestimmung einer Ur-version und der daran geübten Kritik bei Lüthi, 2004, 70-79. Auch in der Story- und Motivfor-schung wird mit der Vorstellung von „Archetypen“ gearbeitet (s. Frenzel, 1993, 101 f, mit Beispielen).

11 Vgl. A. und J. Assmann, 1998, 189: „das Bemühen der älteren Philologie um das Herstellen eines gültigen ‘Urtexts’“ habe sich „als ein Trugschluß erwiesen“. A. und J. Assmann beziehen dies v. a. auf die mündliche Überlieferung (s. dazu unten, Kapitel 7.1); aber auch schon bei schriftlich überlieferten Quellen ergeben sich große Schwierigkeiten bei der Frage nach einer verbindlichen Urversion.

Freilich erscheint die Annahme zunächst plausibel, daß jede Geschichte ir-gendwann einmal entstanden und zum ersten Mal erzählt worden sein muß (daß selbst diese Annahme nicht so einfachhin gilt, wie es zunächst klingt, soll weiter unten ausgeführt werden)12. Aber dieser Ansatz blieb für die Erforschung antiker Mythen weitgehend folgenlos, denn es erwies sich als fast unmöglich, bei der Su-che nach solSu-chen Urversionen zu verläßliSu-chen Ergebnissen vorzustoßen.

So sind etwa die Mythenversionen der attischen Tragiker bekanntlich keine völligen Neuschöpfungen, sondern Bearbeitungen überlieferter Stoffe, deren hö-heres Alter man in vielen Fällen dadurch eindeutig belegen kann, daß sie bereits in den homerischen Epen vorkommen. Und selbst in den homerischen Epen, die zu den ältesten umfangreichen Quellen der griechischen Literatur zählen, wer-den manche mythische Stoffe so abgekürzt erwähnt und so selbstverständlich eingeflochten, daß mehr als deutlich wird, daß sie nicht von einem bestimmten Dichter namens „Homer“ oder auch nur zu Homers Zeiten erfunden wurden, son-dern daß die meisten von ihnen den Rezipienten bereits bekannt waren13, so z. B.

eine Anspielung in Homers Odyssee auf die Fahrt des Rhadamanthys, der sich von einem Phaiakenschiff nach Euboia fahren ließ, um dort Tityos, den Sohn der Gaia, zu sehen14, oder ein möglicher Bezug auf die Anwesenheit der Göttin Aph-rodite bei der Hochzeit von Hektor und Andromache, wo sie der Braut einen Schleier als Hochzeitsgeschenk übergab, in Homers Ilias15. Gerade in jüngerer Zeit wird außerdem immer deutlicher, daß und in welchem Umfang sich selbst für die archaische griechische Literatur wiederum Parallelen und mögliche Vor-läufer in benachbarten altorientalischen Literaturen finden lassen. Sich auf der Suche nach dem Ursprung eines Stoffes im Nebel zu verlieren, erscheint beinahe unausweichlich16.

|| 12 S. Kapitel 7.2.

13 Vgl. dazu mit Beispielen auch die Kapitel 9.8.2 und 9.8.3. Für Aristoteles ist es selbstverständ-lich, daß es auch in vorhomerischer Zeit Dichtung gegeben hat (Aristot. poet. 4,1448b). Vgl. Fox, 2011, 61, der die Auffassung vertritt, einige der von Homer erzählten Mythen könnten im Kern bis auf mykenische Zeit zurückreichen. Die Ansicht, daß die mythischen Stoffe älter sind als Ho-mer und Hesiod, findet sich bereits bei Heyne, der in Hinblick auf die beiden Dichter schreibt (1783, Bd. 3, 914): „Accepere illi fabulas, seu, quo vocabulo lubentius utor, mythos, non in-venere.“

14 Hom. Od. 7,321-324. Mehr wissen wir über diesen mythischen Stoff nicht.

15 Hom. Il. 22,470-472.

16 Vgl. zur Problematik der Rekonstruktion von „Urmythen“ ausführlich Csapo, 2005, 61-67, mit der Diskussion von Beispielen. Jamme, 1999, 30: „… das lange gängig gewesene Verfahren eines sorgfältigen Quellenstudiums, um möglichst die früheste Urfassung eines Mythos zu fin-den, ist prinzipiell zum Scheitern verurteilt.“

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Entsprechend spekulativ werden Versuche, den Urmythos für verschiedene, typologisch aber ähnliche Stoffe zu finden, oder gar den Urmythos schlechthin, auf den sich gleich eine große Anzahl verschiedener Stoffe zurückführen ließe17. Aufgrund der menschlichen Sehnsucht nach dem Ursprünglichen wird freilich die Suche nach Urmythen dennoch nicht aufhören. So gibt es auch aus jüngerer Zeit Versuche, die Urform eines bzw. „des“ indogermanischen bzw. indoirani-schen Schöpfungsmythos zu bestimmen18, und noch darüber hinaus geht der am-bitionierte Versuch von Witzel, die Ursprünge aller Welt-Mythologien insgesamt zu rekonstruieren, auf den stellvertretend für solche und ähnliche Vorstöße et-was näher eingegangen werden soll. Witzel glaubt zwei uralte mythische „narra-tive Systeme“ erkennen und unterscheiden zu können, ein eurasisch-amerikani-sches („Laurasian system“) und ein afro-australieurasisch-amerikani-sches („Gondwana scheme“).

Nach seinen Ausführungen sei es möglich, bspw. die Wurzeln der „laurasischen“

Mythologie bis auf 40.000 Jahre zurückzudatieren19. Der Vergleich beider „Sy-steme“ erlaube sogar, noch weiter zurückzugehen bzw. „to sketch a few traits of a still earlier form of mythology, the one that humans had at the time of the so-called African Eve of the geneticists, some 130,000 years ago“20.

Einmal abgesehen von den drohenden Fallen beim Arbeiten mit Übersetzun-gen aus nicht selbst studierten Sprachen, von der Unsicherheit bei der Rekon-struktion von älteren Vorformen „based on later materials“21 und vom entspre-chend hypothetischen Charakter der Thesen im Einzelnen22 ist bei solchen und ähnlichen Versuchen ein grundsätzliches methodisches Problem zu verzeich-nen: die Herstellung von Vergleichbarkeit durch die Wahl eines zu hohen Ab-straktions- und Indeterminationsgrades der miteinander verglichenen Stoffvari-anten, wodurch die Aussagekraft solchermaßen gezogener Vergleiche notwendig abnimmt, und zwar desto mehr, je höher der gewählte Grad der Abstraktion und Indetermination ausfällt23. Ein Beispiel, das verdeutlichen kann, warum es nicht

|| 17 S. dazu mit Beispielen bzw. Literaturhinweisen Csapo, 2005, 201-203.

18 S. Janda, 2010 (bes. 306 f), und Kreyenbroek, 2013.

19 Witzels „approach is both comparative and historical“ (Witzel, 2012, 16) und zielt in histori-scher Perspektive auf die Erstellung eines „‘family tree’ (stemma, cladistic arrangement) of hu-man myths“ (ebd. 17).

20 Witzel, 2012; Zitate ebd. XI.

21 Witzel, 2012, 47.

22 Witzel stellt bspw. die (nicht beweisbare) Hypothese auf, in vielen Mythologien seien ein-zelne Mythen „arranged in a common story line“ (ebd. 15), und von daher sei „the comparability of whole systems of myths“ (ebd. 16) nicht nur möglich, sondern nötig bzw. ein bisher unerfülltes Desiderat.

23 S. dazu in aller Ausführlichkeit Kapitel 9.6.

mehr erstaunlich ist, daß zwischen vielen Mythen vieler Kulturen „auffällige“ Ge-meinsamkeiten bestehen, wenn diese nur hinreichend abstrakt und indetermi-niert dargestellt werden, ist Witzels Auflistung solcher Mythen mit „obvious si-milarities“ wie bspw. über „the origin of the universe and our world“, „the several generations of deities“, „the killing of the dragon (or of a similar monster)“ oder

„the involvement of the gods in human affairs“24.

Auch Witzels Übertragung von Voraussetzungen aus der linguistischen Kom-paratistik auf eine Mythen-KomKom-paratistik, wie etwa daß „isolated and unmoti-vated similarities found in widely separated areas usually are indicators of an ol-der, lost common system, higher on the structural level and cladistic tree“, kann man kaum als unproblematisch bezeichnen, wenn man Spontaneität und Erfin-dungsreichtum beim Erzählen und Variieren von Geschichten in Rechnung zieht25. Des Weiteren lassen sich nicht nur die Voraussetzungen, sondern auch die Methoden aus den Bereichen der genetischen Stammbaumforschung und der Erforschung von Sprachfamilien nicht einfach unverändert auf eine Erforschung von Erzählstoffen applizieren. Die Prinzipien der Sprachentwicklung oder gene-tischer Entwicklungen sind nicht mit denen einer (angenommenen) „Stoffevolu-tion“ gleichzusetzen, da eine Stoffevolution viel weniger strengen und weniger eindeutig beobachtbaren Gesetzen unterworfen ist; entsprechend muß die „Evo-lution“ von Geschichten in keiner Weise den Gesetzen einer genetischen Evolu-tion oder der Verbreitung einer Sprache folgen, sondern hier spielen die Möglich-keiten von spontaner Kreativität oder von polygenetischen Vorgängen eine weitaus größere Rolle26. Nicht, daß die Methoden an sich unzureichend wären;

aber die Voraussetzung trifft nicht zu, daß es überhaupt sinnvoll ist, diese Me-thoden einzusetzen, und daß man mit ihnen ähnlich verläßliche Ergebnisse er-zielen kann wie in ihren ursprünglichen Verwendungskontexten.

Freilich ist die Problematik bei der Suche nach einer Urversion komplex. Es kann hier keinesfalls darum gehen, jeglicher Suche nach einer historischen Tie-fendimension überlieferter Erzählungen die Sinnhaftigkeit abzusprechen. Im Ge-genteil ist die Auslotung historischer Tiefe für die in dieser Arbeit anvisierte vari-anten- und schichtenspezifische Analyse von mythischen Stoffen von einiger Wichtigkeit. Nur die Zuversicht, man könne von einem mythischen Stoff die Ur-version schlechthin (oder gar eine „Ur-Mythologie“) einigermaßen zuverlässig eruieren, kann hier aufgrund der genannten methodischen Schwierigkeiten

|| 24 Witzel, 2012, 53.

25 Witzel, 2012, 44. Und nach welchen Kriterien ist bei Erzählungen etwas „unmotivated“? Bei

„isolated“ müßte man außerdem den Überlieferungszufall auch noch in Rechnung ziehen.

26 Vgl. zu dieser Kritik aus der Perspektive der Märchenforschung auch Pöge-Alder, 2007, 94.

Die Minimalversion: Bedürfnis nach Sicherheit | 61

nicht geteilt werden. Weitere Gründe hierfür werden noch einmal deutlicher wer-den, wenn das Thema „Urversion“ unter einer noch anderen Perspektive in den Kapiteln 7.1-2 erneut aufgegriffen wird.

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