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Die grausame Medeia tötet ihre unschuldigen Kinder mit dem Schwert: Berücksichtigung von Determinationen

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 197-200)

Voraussetzung und Fundament einer transmedialen und komparatistischen Hylistik

9.3 Die grausame Medeia tötet ihre unschuldigen Kinder mit dem Schwert: Berücksichtigung von Determinationen

Kunstwerkes oder seine Funktionalisierungen, sondern vor diesen weiterführen-den und im Einzelnen diffizilen Schritten zunächst – man ist versucht, zu schrei-ben: „nur“ – um eine ikonographische Beschreibung; aber schon diese kann na-türlich „erhebliche Schwierigkeiten bereiten“23.

Ist mit diesen Ausführungen ein wesentlicher Grundstein gelegt, so sind doch für eine differenzierte komparatistische Hylistik sowohl noch weitere theo-retische Überlegungen als auch weitere methodische Schritte erforderlich.

9.3 Die grausame Medeia tötet ihre unschuldigen Kinder mit dem Schwert: Berücksichtigung von Determinationen

Aufbauend auf den Überlegungen der vorigen Kapitel wurde im Idealfall das stoffliche Substrat zu vergleichender Stoffvarianten aus den jeweiligen medialen Konkretionen extrahiert, jedes einzelne Hylem auf seine logische Grundstruktur und in sprachlich standardisierter Form zum Ausdruck gebracht, und die jewei-lige Hylemsequenz der Stoffvarianten in ihrem ordo naturalis dargestellt.

Nun kommt aber noch ein weiterer Aspekt hinzu, der bei Vergleichen berück-sichtigt werden muß, und der besteht darin, daß sowohl Hylemelemente wie Hylemprädikate in aller Regel mit näheren Determinationen versehen sind. Die Grundstruktur von Hylemen muß demgemäß folgendermaßen erweitert wer-den24:

logisches Subjekt (+ ggf. Determinationen) + logisches Prädikat (+ ggf. Determinationen) + ggf. logisches Objekt (+ ggf. Determinationen)

Nun sind Hylemelemente bzw. Hylemprädikate aufgrund ihrer Begriffsinhalte implizit immer durch mehrere Eigenschaften näher determiniert, die nicht expli-zit erwähnt werden müssen, da sie sich von selbst verstehen und zumindest prin-zipiell auf jedes Exemplar, auf jedes Ding oder jeden Sachverhalt zutreffen, das bzw. der mit Recht unter diesen Begriff fällt, wie daß es sich bspw. bei einem

|| 23 So Junker, 2005, 113. Zur Unterscheidung von Ikonographie und Ikonologie s. ebd. 112 f. Jun-ker selbst lehnt eine auf Panofsky zurückgehende Ikonologie im Sinne einer fest umrissenen

„Bilderlehre“ ab und favorisiert eine „keinen Aspekt ausschließende Hermeneutik“, welche dem

„gedanklichen Potential“ von Mythenbildern eher gerecht werden könne (ebd. 113; näher aus-geführt ebd. 114-118).

24 Nicht-singularische Numeri (wie Dual oder Plural) sind jeweils als Möglichkeit mitzudenken.

Menschen um ein Lebewesen mit einem Kopf, zwei Armen, zwei Beinen etc. han-delt, das des Denkens und sprachlicher Äußerungen fähig ist und noch weitere, mit dem Begriff selbstverständlich verknüpfte Eigenschaften besitzt.

Manche Eigenschaften oder, ganz allgemein, manche näheren Bestimmun-gen sind aber mit einem Begriff nicht notwendig verknüpft; sie können einem unter diesen Begriff fallenden Individuum oder einer einzelnen Sache zukom-men, müssen es aber nicht, und um diese Determinationen geht es hier. So ist im Begriff „Mensch“ bspw. nicht automatisch mit ausgesagt, ob es sich dabei um einen guten oder bösen, einen großen oder kleinen, einen klugen oder dummen Menschen handelt, ob er verheiratet oder ledig, oder ob er ein Kind, ein Bauer oder ein König ist und so fort, und bspw. bei dem Begriff „Erstechen“ ist nicht näher bestimmt, ob der Akt des Erstechens mit einem Messer, einem Schwert, ei-ner Lanze oder eiei-ner langen Stricknadel erfolgt, ob es sich um eine kurze oder lange Aktion handelt etc. In Erzählstoffen werden einzelne Hylemelemente und Hylemprädikate normalerweise jeweils unterschiedlich stark oder schwach mit solchen oder anderen zusätzlichen Bestimmungen versehen.

→ Der Grad der Bestimmtheit, der sich auf nicht notwendig mit einem Be-griffsinhalt verbundene weitere Bestimmungen bezieht, soll im Folgen-den als Determinationsgrad bezeichnet werFolgen-den.

Im Zusammenhang mit Beobachtungen zur Abspeicherung von Stoffen im menschlichen Gehirn, auf die in Kapitel 12.2 noch näher eingegangen wird, läßt sich hier vorausgreifend sagen, daß Hylemelemente und Hylemprädikate im Ge-dächtnis in der Regel auf einer mittleren Determinationsstufe abgespeichert sind25. Das entspricht interessanterweise auch dem Befund in Bezug auf andere mediale Speicher wie bspw. Texte. Auf einer Skala zwischen völliger Indetermi-nation auf der einen Seite und völliger DetermiIndetermi-nation auf der anderen bewegen sich Hyleme und ihre Bestandteile in einer bestimmten medialen Ausgestaltung stets in einem Mittelfeld. Ein völlig indeterminiertes Hylem bleibt weitgehend in-haltsleer und nichtssagend und entspricht von daher nicht den Erwartungen, die normalerweise an Erzählstoffe herangetragen werden; umgekehrt aber kann ein konkretes Hylem (oder gar eine Hylemsequenz) niemals maximal determiniert sein26, denn ein bis in den letzten Grad determiniertes konkretes Hylem wäre ein potentiell fast unendlicher Ausdruck wie etwa „der 45 Jahre alte, weißhaarige, verheiratete, mit Purpur bekleidete, mit Ringen geschmückte, nicht besonders

|| 25 S. dazu das dort besprochene Beispiel von der Figur des Herakles.

26 Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kapitel 6.3.

Berücksichtigung von Determinationen | 175

kluge, nach Reichtum begierige etc. Midas, König der Phryger, Sohn des Gordios etc., begegnet auf einem mit einer prächtigen Satteldecke versehenen Pferd im von üppigen Weinbergen gesegneten Phrygien bei fahlgelblichem Sonnenschein in einem dichten Hain mit alten, harzigen, hoch gewachsenen Kiefern im Früh-jahr etc. dem alten, betrunkenen, bärtigen, schnarchenden, verirrten, weisen etc.

Silenos, dem Erzieher des Dionysos etc.“. Jeder Determination könnte immer noch eine weitere hinzugefügt werden, aber weder ein solches Zuviel noch ein Zuwenig entspricht den realen Befunden stofflicher Konkretionsformen.

Es ist klar, daß eine Einbeziehung von unterschiedlichen Determinationsgra-den von Hylemelementen und Hylemprädikaten Vergleiche aufwändiger, aber auch präziser und damit aussagekräftiger macht. Das gilt vor allem dann, wenn Vergleiche dazu führen sollen, die Frage nach genetischen Abhängigkeiten zwi-schen verglichenen Stoffen bzw. Stoffvarianten zu klären:

→ Je zahlreicher und spezifischer die parallelen „Details“, je zahlreicher sich also in den verglichenen Stoffvarianten Determinationen zu be-stimmten Hylemelementen oder Hylemprädikaten finden lassen, die auf einem ähnlichen oder sogar gleichen Konkretionsgrad anzusiedeln sind, und je höher dieser Konkretionsgrad ist, desto höher ist die Wahr-scheinlichkeit einer genetischen Abhängigkeit27.

Ist bspw. in zwei verschiedenen Stoffvarianten davon die Rede, daß ein Mann ei-nen Drachen ersticht, so ist auf dieser Stufe der Abstraktion und Indetermination die Aussagekraft hinsichtlich einer möglichen genetischen Verwandtschaft der beiden Stoffe äußerst gering. Ganz anders hingegen ist der Sachverhalt zu bewer-ten, wenn in beiden Stoffen neben anderen, abweichenden Zügen übereinstim-mend davon erzählt wird, daß ein einäugiger König einen rot-orangenen Drachen mit dem Horn eines Auerochsen ersticht. Die Sicherheit, mit der man hier von einer genetischen Abhängigkeit sprechen kann, würde wiederum graduell in dem Maße abnehmen, in dem einzelne Determinationen fehlen oder abstrakter würden, wenn also im einen Fall bspw. nur von einem „körperlich versehrten“

statt von einem „einäugigen“ König die Rede wäre, von einem „hellfarbigen“

statt von einem „rot-orangenen“ Drachen, oder von einem „Tierhorn“ statt vom

|| 27 Zu unterschiedlichen Konkretionsgraden s. ausführlicher unten Kapitel 9.6. Vgl. auch Kirk, 1980, 246: „besondere Einflüsse können nur anhand vielschichtiger und spezifischer Ähnlich-keiten nachgewiesen werden“. Eine hilfreiche Liste mit weiteren Kriterien, wenn es um die Klä-rung der Frage nach einer genetischen Abhängigkeit geht, findet man bei Henkelman, 2006, 815.

„Horn eines Auerochsen“, oder wenn der „einäugige König“ und der „rot-oran-gene Drache“ sowohl hinsichtlich der Konkretheit als auch hinsichtlich der De-terminationen zum bloßen „Helden“ bzw. „Ungeheuer“ verblassen würden.

9.4 Die Enkelin des Helios tötet ihre Kinder: Künstlerische

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 197-200)

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