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Nochmals die Gründung von Troia bei Apollodoros und das Ende der Sintflut im Gilgameš-Epos

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 152-159)

Herausforderungen und Gewinne einer Hylemanalyse

6.4 Nochmals die Gründung von Troia bei Apollodoros und das Ende der Sintflut im Gilgameš-Epos

Rezipierten vornehmen und sich bei diesen Ergänzungen von der eigenen Vor-stellungswelt leiten lassen26. Das kann so weit gehen, daß man nach dem Rezep-tionsvorgang glaubt, man habe etwas gelesen oder gehört, was de facto aber tat-sächlich nicht im Text stand oder gesagt wurde, was man sich aber entsprechend ergänzt oder gedacht hat, oder daß man automatisch und unbewußt kleinere In-konsistenzen glättet oder einfach ausblendet27. Analoges ist für den Rezeptions-vorgang von bildlichen Darstellungen vorauszusetzen, daß also die Betrachtung keine objektive Analyse des Vorhandenen, sondern eine immer schon kulturell kodierte, gelenkte und damit selektive Art der Wahrnehmung darstellt, die man-ches übersieht, anderes ergänzt und damit immer schon auf ein interpretierendes Sehen hinausläuft28. Der Drang, ein Bild oder einen Text verstehen zu wollen, geht deshalb nicht selten auf Kosten der Genauigkeit der „Lektüre“, und das selbst bei Bildern oder Texten, die man sehr gut kennt oder zu kennen meint. Um sich zu dieser Genauigkeit zu zwingen, hat sich die Hylemanalyse bereits etliche Male als ein wertvolles Hilfsmittel erwiesen; ein konkretes Beispiel wird das nächste Ka-pitel liefern.

Die hier anvisierte, formalisierte und überdies von funktionalen wie seman-tischen Kriterien unabhängige Hylemanalyse stellt schließlich eine wichtige, ja unerläßliche Voraussetzung für stoff-vergleichendes Arbeiten dar. Eine Ver-gleichbarkeit auf stofflicher Ebene ist erst dann gewährleistet, wenn Stoffvarian-ten nicht in der ggf. stark umgeformStoffvarian-ten Gestaltung ihrer jeweiligen medialen Konkretionen, sondern in ihrer durch eine Hylemanalyse auf die Stoffstruktur in ihrer natürlichen Abfolge zurückgeführten Sequenz und auf die standardisierte Form von Hylemen gebrachten Gestalt vorliegen. Darauf wird in Kapitel 9 noch einmal ausführlicher zurückzukommen sein.

6.4 Nochmals die Gründung von Troia bei Apollodoros und das Ende der Sintflut im Gilgameš-Epos

An zwei Beispielen sollen verschiedene der oben angesprochenen Punkte deut-lich gemacht werden, und dabei soll zunächst wiederum auf die Gründung der

|| 26 S. Martínez/ Scheffel, 2012, 134 (zum aus der Kognitionspsychologie stammenden Konzept der „Inferenz“), 147 f (dort in Bezug auf Figuren), und noch einmal ausführlicher 165-167.

27 Zum „Automatismus des Implizierens“, bei dem u. a. in der Erzählung vorhandene Lücken vom Leser oft unbewußt ausgefüllt werden, s. auch Schmid, 2007, 106.

28 Vgl. dazu ausführlicher Frank/ Lange, 2010, 42 f.

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Stadt Ilion durch Ilos in der Version des Apollodoros zurückgegriffen werden29, von der hier nur ein Ausschnitt in Übersetzung wiederholt sei30:

Dort [sc. beim sogenannten Hügel der phrygischen Ate] gründete Ilos eine Stadt und nannte diese Ilion; als er zu Zeus gebetet hatte, daß ihm irgendein Zeichen erscheinen möge, er-blickte er bei Tage das vor dem Zelt liegende, vom Himmel herabgefallene Palladion.

Es wurde bereits in Kapitel 3.1 festgestellt, daß die diesem Textabschnitt zugrun-deliegende Hylemstruktur in ihrer natürlichen Abfolge folgendermaßen rekon-struiert werden muß:

– Ilos bittet Zeus um ein Zeichen

– Palladion fällt nachts vom Himmel herab

– Ilos erblickt nach Tagesanbruch das Palladion vor seinem Zelt – Ilos gründet eine Stadt

– Ilos nennt die Stadt Ilion

Außerdem weist die textliche Konkretion der zugrundeliegenden Stoffvariante Lücken auf, von denen einige ergänzt werden können, da es für die Ergänzungen dieser fehlenden, aber eindeutig vorausgesetzten Hyleme sichere Anhaltspunkte im Text gibt. So lassen sich die im Text steckenden zusätzlichen Informationen zu folgender Hylemsequenz ausbauen:

– [Ilos kommt beim sogenannten Hügel der phrygischen Ate an]

– [Ilos errichtet ein Zelt]

– Ilos bittet Zeus um ein Zeichen [für eine Stadtgründung]

– [Palladion fällt nachts vom Himmel herab vor Ilos’ Zelt]

– Ilos erblickt nach Tagesanbruch das Palladion vor seinem Zelt – [Ilos erkennt in dem Palladion das von Zeus erbetene Zeichen]

– Ilos gründet eine Stadt – Ilos nennt die Stadt Ilion

Ein einziges Hylem in dieser Sequenz muß noch einer genaueren Untersuchung unterzogen werden, und zwar das zentrale: „Palladion fällt nachts vom Himmel herab vor Ilos’ Zelt“. Wenn man alle Hyleme im Prinzip auf die logische Grund-form Handlungsträger – Prädikat (– Handlungsobjekt) zurückführen will, die sich in den meisten Sprachen durch die Verbindung (logisches) Subjekt – Prädi-kat (– Objekt) zum Ausdruck bringen läßt, dann stellt sich die Frage: Ist hier wirk-lich das Palladion der eigentwirk-liche Handlungsträger? Denn dies wird aus dem

|| 29 Apollod. 3,142 f.

30 Apollod. 3,143. Der griechische Text bei der Behandlung des Beispiels in Kapitel 3.1.

textlichen Ausdruck vom „vom Himmel herabgefallenen Palladion“ (τὸ διιπετὲς παλλάδιον) nicht völlig unmißverständlich deutlich. Rein grammatisch betrach-tet läßt sich der Ausdruck freilich umwandeln in „das Palladion fällt vom Him-mel“, und damit wäre das Palladion Subjekt.

Bei der Rekonstruktion von Hylemen geht es aber nicht um das grammati-sche, sondern um das für die Handlung tatsächlich verantwortliche Subjekt der Handlung, also nicht um Syntaktisches, sondern um Inhaltliches. Das inhaltliche Subjekt ist nun im vorliegenden Fall aber kaum das Palladion – denn eine Göt-terstatue fällt normalerweise nicht von selbst irgendwo herunter. Nicht, daß das in mythischen Stoffen ein Ding der Unmöglichkeit wäre, aber wenn der Götter-statue selbst die Kraft zur Fortbewegung zugeschrieben würde, dann würde eine solche Fähigkeit in aller Regel in irgendeiner Form plausibilisiert oder doch zu-mindest erwähnt werden. In unserem Fall bittet Ilos Zeus um ein Zeichen, und daraufhin fällt das Palladion vom Himmel, so daß es schon mehr als merkwürdig wäre, wenn man in dem geschilderten Vorgang nicht auch eine Tat des Zeus, son-dern ein spontanes und vom Palladion selbst herbeigeführtes Herabfallen er-blickte. Es ist also Zeus, der nachts das Palladion vom Himmel herabfallen läßt.

Daß dies gedanklich so aufzufassen ist, dafür gibt es sogar noch einen se-mantischen Hinweis. Denn die griechische Wendung „das vom Himmel herabge-fallene Palladion“ (τὸ διιπετὲς Παλλάδιον) läßt sich auch übersetzen mit „das von Zeus herabgefallene Palladion“, da in dem Adjektiv διι-πετής der Eigenname des obersten Gottes gehört wurde (Διί als Dativ-Form von Ζεύς)31. Ein vermutlich in

|| 31 Der sprachwissenschaftlich genauen Ableitung und der Bedeutungsgeschichte des Adjektivs διιπετής kann hier im Einzelnen nicht nachgegangen werden; zu verschiedenen Möglichkeiten der Ableitung und zur vermutlichen Bedeutungsentwicklung s. ausführlich Treu, 1958, v. a. den zusammenfassenden Überblick ebd. 272-274. Besonders für den Gebrauch des Adjektivs in den homerischen Epen besteht nach wie vor Klärungsbedarf: Nach LfgrE s. v. διιπετής ist in Bezug auf die frühgriechische Epik die Deutung bezüglich des Vorderglieds unklar, während der zweite Wortbestandteil auf πέτομαι zurückgeführt und „fliegend“ als Ausdruck für „fließend“ interpre-tiert wird: „Vorderglied unklar: durch Zeus / am Himmel / im Freien / hindurch > herab …/ rasch dahin + fliegend > fließend (zu πέτομαι, vgl. ὠκυ-, ὑψιπέτης)“. Zum späteren Vorstoß von Griffith, 1997, 356, der διιπετής von Διΐ (als lokativischer Dativ) und πέτομαι ableitet und es mit „flying in the sky“ wiedergibt, lassen sich einige Einwände vorbringen, da die Plausibilisierung der Vor-stellung von am Himmel dahinfliegenden Flüssen durch den Verweis auf ägyptische Quellen doch etwas weit hergeholt scheint (immerhin sollte doch für das Gros des Publikums die Bedeu-tung des Adjektivs unmittelbar einleuchtend gewesen sein, und nicht erst durch einen Verweis auf Ägypten erklärt werden müssen), und außerdem würde man statt „am/ im Himmel fliegende“

wohl doch eher „am/ im Himmel fließende“ Flüsse erwarten (und das gibt nicht einmal die ägyp-tischen Vorlage her, geschweige denn, daß es dazu griechische Parallelen gäbe). Beekes, 2010, s. v. διιπετής, gibt als Bedeutung für das Adjektiv „fallen from heaven“ an, auch mit Blick auf

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das 3. Jahrhundert n. Chr. zu datierender Epiker, Quintus Smyrnaeus, bietet au-ßerdem noch einen textlichen Beleg, nach dem der Vorgang als ein intentionaler Akt des Zeus gesehen wurde, wenn er explizit schreibt, der Sohn des Kronos selbst habe das Götterbild vom Olymp in die Stadt Troia hinabgeworfen32. Dazu paßt außerdem die Beobachtung, daß nahezu bedeutungsgleich das Adjektiv θεόπεμπτος, also „von Gott gesandt“ verwendet werden konnte33. Auf diesem Hintergrund läßt sich das zentrale Hylem, das hier zunächst textnah mit „Palla-dion fällt nachts vom Himmel herab vor Ilos’ Zelt“ wiedergegeben wurde, durch eine auf das Inhaltliche zielende Hylemanalyse präziser fassen, und die rekon-struierte Hylemsequenz läßt sich damit folgendermaßen darstellen34:

– [Ilos kommt beim sogenannten Hügel der phrygischen Ate an]

– [Ilos errichtet ein Zelt]

– Ilos bittet Zeus um ein Zeichen [für eine Stadtgründung]

– [Zeus läßt als Zeichen für Ilos das Palladion nachts vom Himmel vor Ilos’ Zelt herabfallen]

– Ilos erblickt nach Tagesanbruch das Palladion vor seinem Zelt – [Ilos erkennt in dem Palladion das von Zeus erbetene Zeichen]

– Ilos gründet eine Stadt – Ilos nennt die Stadt Ilion

|| Homer, ohne allerdings auf die Arbeiten von Treu oder Griffith einzugehen. Wie dem auch sei, für unseren Fall vom Palladion genügt es, daß aus emischer Perspektive schon in der Antike selbst die Deutung von διιπετής als „von Zeus = vom Himmel gefallen“ gut bezeugt ist (vgl. etwa die D-Scholien zu Homers Ilias 16,174, die als Worterklärung für διιπετής angeben: ἤτοι ὑπὸ Διὸς πεπτωκότος) und spätestens ab Euripides, bei dem zum ersten Mal neben διιπετής auch die Form διοπετής bezeugt ist (s. Treu, 1958, 273), diese Bedeutung und emische Herleitung aus de-klinierten Formen von Ζεύς (Genitiv Διός, Dativ Διί, emisch offenbar verstanden als dativus auctoris) und dem Verbum πίπτω („fallen“, also nicht von πέτομαι = „fliegen“; vgl. zu beiden Bestandteilen Etymologicum Magnum 275,9 f: παρὰ τὴν Διῒ δοτικὴν καὶ τὸ πεσεῖν) als dominant, zumindest aber als allgemein anerkannt und verbreitet angesehen werden kann (s. Treu, 1958, 273 f); vgl. auch die Parallelisierung bei Herodian. 1,11,1: αὐτὸ μὲν τὸ ἄγαλμα διοπετὲς εἶναι λέγουσιν … τοῦτο δὲ πάλαι μὲν ἐξ οὐρανοῦ κατενεχθῆναι. Die Formulierung des vom Himmel bzw. Zeus herabgefallenen Palladions z. B. auch noch bei Konon 34 = FGrH 26 F 1 (τὸ διοπετὲς Ἀθηνᾶς παλλάδιον); die vergleichbare Stelle Eur. Iph. T. 977 f (διοπετὲς … / ἄγαλμα) bezieht sich auf das Kultbild der Artemis bei den Taurern.

32 Q. Smyrn. 10,358-360: οὐδέ οἱ ἄμβροτον εἶδος ἐτεκτήναντο σιδήρῳ / ἀνέρες, ἀλλά μιν αὐτὸς ἀπ’ Οὐλύμποιο Κρονίων / κάββαλεν ἐς Πριάμοιο πολυχρύσοιο πόληα.

33 Dion. Hal. ant. 2,71,1 f.

34 S. dazu auch die ergänzenden Ausführungen in Kapitel 9.8.3.

Es wurde hier bewußt auf ein vom textlichen Umfang her sehr begrenztes Beispiel zurückgegriffen. Wenn sich schon aus so wenigen und kurzen Sätzen derart zahl-reiche Beobachtungen und weiterführende Fragestellungen ergeben, dann läßt das erahnen, welches Potential in einer Hylemanalyse erst recht dann liegt, wenn es um die Untersuchung längerer Textpassagen bzw. Texte geht.

Als zweites Beispiel soll eines dienen, das zeigt, daß selbst bekannte und be-rühmte Texte im Detail neu spannend werden oder neue Fragestellungen aufwer-fen können, wenn man sich über die hinter der Textoberfläche liegende Hylem-struktur Gedanken macht. Es geht um die Schilderung des Endes der Sintflut in der 11. Tafel des akkadischen Gilgameš-Epos35. Das Schiff des Uta-napišti ist am Berg Nimuš auf Grund gelaufen. Der Sintflut-Held hat bereits eine Taube und eine Schwalbe fliegen lassen, aber beide Vögel hatten kein trockenes Land gefunden, um zu landen, und waren zur „Arche“ zurückgekehrt. Als dritten Vogel entsendet Uta-napišti, der sich immer noch auf seinem Schiff befindet, einen Raben:

illik arībi-ma qarūra ša mê īmur-ma 155 ikkal išaḫḫi itarri ul issaḫra

ušēṣi-ma ana erbetti šārī attaqi nīqa aškun surqinnu ina muḫḫi ziqqurrat šadî sebēt u sebēt adagurra uktīn

ina šaplīšunu attabak qanâ erēna u asa 160 ilū īṣinū irīša

ilū īṣinū irīša ṭāba

ilū kīma zumbē eli bēl niqî iptaḫrū

ultu ullânum-ma Bēlet-ilī (dingir.maḫ) ina kašādīšu

ilū lillikūni ana surqinni

dEnlil aj illika ana surqinni

aššu lā imtalku-ma iškunu abūbu 170 u nišīja imnu ana karāši

ultu ullânum-ma dEnlil ina kašādīšu īmur eleppam-ma īteziz dEnlil

aj ibluṭ amēlu ina karāši

Der Rabe flog. Als er aber sah, wie sich das Wasser verzog, da 155 begann er zu fressen, zu scharren und hüpfen und kam nicht wieder zurück.

Da aber holte ich ein Opfertier hervor, den vier Winden brachte ich es dar.

Ich streute Räuchergaben hin, oben auf den Stufenturm aus Fels, und stellte sieben und sieben Opfertrankflaschen auf.

|| 35 Gilgameš-Epos Tafel 11, 155-164.168-173.176, Text nach der Edition von George, 2003, 712 f;

Übersetzung von Maul, 2012, 145 f.

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Ihnen zu Füßen schüttete ich Rohr, Zeder und Myrte hin. 160 Die Götter aber rochen den Duft,

die Götter rochen den süßen Duft,

die Götter kamen alsbald wie die Fliegen über dem Opferspender zusammen.

Als aber Belet-ili herangekommen war,

… [sc. sprach sie:] „…

Die Götter sollen zu den Räuchergaben kommen.

(Doch) nicht soll Enlil zu den Räuchergaben kommen,

weil er keinen (guten) Rat erteilte, sondern die Sintflut sandte 170 und meine Menschen der Vernichtung preisgab.“

Als aber Enlil herangekommen war,

sah er das Schiff. Da packte den Enlil der Zorn.

… [sc. und er rief:] „…

Kein einziger Mensch sollte die Vernichtung überleben!“

Es soll hier keine lückenlose Hylemanalyse durchgeführt, sondern lediglich auf einige wenige Beobachtungen aufmerksam gemacht werden, die sich bei dem Versuch ergeben, die dem Text zugrundeliegende Hylemsequenz zu rekonstruie-ren.

Obwohl man als Leser dies implizit voraussetzt bzw. es unbewußt ergänzt, ist im Text bspw. nirgends explizit davon die Rede, daß Uta-napišti aus dem Schiff ausgestiegen ist. Bei den Hylemen, die sich auf den Raben beziehen, ist vorausgesetzt, daß der Sintflut-Held sich noch auf seinem Schiff befindet. Die fol-genden Hyleme aber handeln davon, daß Uta-napišti auf einem „Stufenturm aus Fels“ u. a. Räuchergaben ausstreut und Opfertrankflaschen aufstellt, was bedeu-tet, daß Uta-napišti das Schiff verlassen haben muß – es sei denn, man wollte das sehr unwahrscheinliche Szenario konstruieren, daß Uta-napišti all die geschil-derten Opferzeremonien vom Schiff aus veranstaltet.

Des Weiteren ist nirgends sonst davon die Rede, daß sich auf dem Berg Nimuš ein „Stufenturm“ befindet oder von wem er errichtet wurde. Dabei ist das im Ori-ginaltext verwendete Wort ziqqurratu ein deutlicher Hinweis auf einen Tempel.

Dieser Tempel auf dem Berg Nimuš ist aber offensichtlich ein Element aus ganz anderen stofflichen Kontexten, die hier vorausgesetzt, aber nicht ausgeführt wer-den.

Nach den „vier Winden“ ist dann plötzlich von „den Göttern“ die Rede, zu den Opfergaben kommen. Sind „die Götter“ mit den vier Winden identisch, oder sind andere Götter gemeint? Im Folgenden jedenfalls kommen mit der Muttergöt-tin Bēlet-ilī und dem Götterkönig Enlil Gottheiten zu den Räuchergaben, die ein-deutig nicht zur Gruppe der vier Windgottheiten gehören. Wem wird also hier ei-gentlich geopfert? Den Winden, den anderen Göttern, oder beiden? Oder ergibt sich aus der Beobachtung dieser Problematik eventuell sogar die Notwendigkeit

einer anderen Übersetzung, etwa „in alle vier Windrichtungen brachte ich es dar“

statt „den vier Winden brachte ich es dar“36?

Die Götter kommen, wie es im Text heißt, „wie die Fliegen über dem Opfer-spender“ zusammen. Man wird das eindrucksvolle Bild von den Göttern, die sich wie die Fliegen zusammenscharen, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht so schnell vergessen37. Das interessante Detail allerdings, das freilich nichts Beson-deres bedeuten muß, aber eine Bedeutung haben kann, daß nämlich die Götter sich wie Fliegen nicht um die Opfergaben, sondern um den Opferspender scha-ren, dieses Detail wird man ohne die Notwendigkeit analytischer Präzision ent-weder schnell vergessen oder als unwichtig, weil vielleicht nur stilistisch be-dingt, gar nicht erst richtig registrieren, oder man wird es eigenen Vorstel-lungsgewohnheiten gemäß unterbewußt und stillschweigend „berichtigen“, in-dem man sich die Götter wie Fliegen eben doch um die Opfergaben herumkrei-send vorstellt. Aber weshalb sollte dann Bēlet-ilī später sagen, „die Götter sollen zu den Opfergaben kommen“, wenn sie schon dort waren?

Schließlich verbittet sich Bēlet-ilī, daß der Gott Enlil zu den Opfergaben kommt. Übergangslos ist aber direkt im Anschluß davon die Rede, daß Enlil zu den Opfergaben kommt. Wie ist ein solch abrupter Bruch zu erklären? Ist Bēlet-ilī so machtlos, daß ihr unmißverständlich geäußerter Wunsch ohne jede weitere Bemerkung einfach mißachtet wird? Es ist jedenfalls auffällig, daß Bēlet-ilī im weiteren Fortgang der Erzählung plötzlich überhaupt nicht mehr vorkommt.

Eine Hylemanalyse schärft, wie diese Beobachtungen gezeigt haben dürften, den Blick nicht nur für die stoffliche Struktur, sondern gerade auch für die in ei-ner stofflichen Struktur steckenden Merkwürdigkeiten und Probleme, bis hin zu regelrechten Brüchen oder zumindest stark erklärungsbedürftigen Inkonsisten-zen. Am vorliegenden Ausschnitt vom Ende der Sintflut-Erzählung ist deutlich geworden, wie komplex und damit auch kompliziert eine Hylemstruktur gerade bei länger ausgeführten mythischen Stoffvarianten sein kann, und offensichtlich ist es nicht eine Sache von nur ein paar wenigen, kommentierenden Anmerkun-gen, die mit dieser Komplexität einhergehenden Probleme zufriedenstellend auf-zuschlüsseln und zu erklären. Dazu bedarf es zusätzlich zu einer Hylemanalyse noch anderer Zugänge zu mythischen Stoffen und ihren Varianten, um die es ab Kapitel 13 gehen soll.

|| 36 Eine solche distributive Verwendungsweise der Präposition ana könnte analog zur ebenfalls distributiven Bedeutung in Ausdrücken wie idi ana idi „auf allen Seiten“ stehen (diesen Hinweis verdanke ich A. Zgoll).

37 Vgl. ganz ähnlich die bei Lukian (spöttisch) referierte Vorstellung von den Göttern, die wie Fliegen das Blut der Opferaltäre auflecken, Lukian. De sacrificiis 30,9 (MacLeod).

Open Access. © 2019 Zgoll, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz.

https://doi.org/10.1515/9783110541588-007

7 Stoff und Stoffschema: Weitere Differenzierung

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