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Hylistik und Mythosforschung zwischen den Stühlen

Problematisierung des Stoffbegriffs

3.4 Hylistik und Mythosforschung zwischen den Stühlen

unter der Bezeichnung „Stoff- und Motivforschung“ läuft, so daß der Unterschied zu einer „allgemeinen Stoff-Forschung“ nicht hinreichend deutlich wird.

→ Ausgehend von dem griechischen Wort „Hyle“ (ὕλη), das u. a. „Stoff“

i. S. v. „Rohmaterial“ bezeichnet, wird daher zur besseren Unterschei-dung im Folgenden dann, wenn es um eine „allgemeine Stoff-For-schung“ im oben skizzierten Sinn geht, vorschlagsweise der Begriff Hy-listik oder alternativ (allgemeine) Stoffwissenschaft verwendet.

Ein hauptsächlicher Unterschied zwischen der Story-Forschung eines Literatur-historikers und dem stoffwissenschaftlichen Arbeiten eines „Hylistikers“ besteht darin, daß ein Literaturhistoriker stories als etwas begreift, was speziell in Texten liegt und Texte in ihrer Gesamtheit inhaltlich strukturiert, während ein Hylistiker oder Stoffwissenschaftler in Stoffen etwas erblickt, das weder auf textliche noch auf sonstige mediale Konkretionen festgelegt ist und etwas Komplexeres darstellt als das, was in der jeweiligen einzelnen, medial konkretisierten Stoffvariante rea-lisiert ist.

Problematisch ist aus der Perspektive der Hylistik aber nicht nur die zu starke Textgebundenheit mancher Zugangsweisen zu (mythischen) Stoffen, sondern auf der anderen Seite auch die wiederum zu starke Textferne anderer Ansätze, die nicht primär an den unter der Textoberfläche liegenden stofflichen Strukturen selbst interessiert sind, sondern mehr an hinter diesen Stoff-Strukturen vermute-ten, kulturspezifischen und bedeutungstragenden Elementen politisch-soziolo-gischer, religiöser, psychischer oder anderer Art, oder die sich bspw. vorrangig damit befassen, welche Funktionen Mythen in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Kulturen haben können oder wo sie konkret zum Einsatz kommen.

Darauf soll im folgenden Kapitel noch etwas näher eingegangen werden.

3.4 Hylistik und Mythosforschung zwischen den Stühlen

Daß Mythosforschung im Überschneidungsbereich verschiedener Disziplinen anzusiedeln ist, bedarf kaum einer genaueren Darstellung25. Mythen sind Be-standteile eines grundlegenden und uralten Phänomens menschlicher Kommu-nikation, des Geschichten-Erzählens im weitesten Sinn, für dessen Beschreibung nicht nur philologische oder literaturwissenschaftliche, sondern auch

philoso-|| 25 Vgl. Rüpke, 2013, 57.

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phische, kulturanthropologische, soziologische, historische, bildwissenschaftli-che, archäologisbildwissenschaftli-che, strukturalistisbildwissenschaftli-che, religionswissenschaftlibildwissenschaftli-che, kommunika-tionstheoretische, (kognitions-)psychologische, genderwissenschaftliche u. a.

Beschreibungskategorien und Methoden in Anschlag gebracht werden können.

Die fächerübergreifende Komplexität des Untersuchungsgegenstandes ist ein Grund, warum die Erforschung des Phänomens „Mythos“ eine große Herausfor-derung darstellt und weshalb das Feld der Mythosforschung nur schwer zu über-blicken ist sowie in den Ansätzen und Ergebnissen ein ziemlich disparates Er-scheinungsbild liefert.

Betrachtet man die verschiedenen Herangehensweisen, so läßt sich aller-dings feststellen, daß sie sich grob gefaßt in zwei große Gruppen einteilen lassen.

Der einen geht es in erster Linie um die Literatur gewordene Gestalt mythischer Stoffe und damit vor allem um Texte, der anderen vor allem um Dinge hinter den Texten – aber nicht so sehr um die in den Texten verarbeiteten Stoffe, sondern um noch hinter den Texten und auch hinter deren stofflichen Strukturen vermutete bedeutungstragende Elemente einer Kultur, um soziologische Gegebenheiten, um psychologische oder anthropologische oder andere Grundkonstanten, oder um Fragen nach möglichen Verortungen und Funktionen dieser Stoffe.

Nun gehen aber mythische Stoffe weder in ihren literarischen (und anderen) Konkretionen auf, noch in dem, was aus ihnen für bestimmte kulturelle Bedeu-tungszusammenhänge oder anthropologische, psychologische oder andere Ge-gebenheiten abgeleitet werden kann, noch in dem, was sie jeweils für eine be-stimmte Gruppe leisten können oder wofür sie praktisch eingesetzt werden.

Während die einen Disziplinen sich vor allem auf Texte – und damit nicht auf Stoffe – konzentrieren, sind die anderen von den Texten und auch von den sol-chen Texten zugrundeliegenden und sie konkret strukturierenden Stoffvarianten oft bereits weit entfernt. Zwischen einer zu textzentrierten und einer zu textfer-nen Mythosforschung bzw., um ins Allgemeinere zu gehen, zwischen einer stark auf die jeweiligen medialen Konkretionen selbst fokussierten und einer von den medialen Konkretionen der Stoffe bereits deutlich abgehobenen Forschung tut sich daher unvermutet eine bislang nur unzureichend abgedeckte Lücke auf. Es fehlt eine intensivere Beschäftigung mit den Stoffen bzw. einzelnen Stoffvarian-ten, die den Texten und anderen medialen Konkretionsformen zugrundeliegen, eine Stoffanalyse, die einerseits den medialen Konkretionsformen wie bspw. Tex-ten oder Darstellungen bildlicher Art verbunden bleibt und sich nicht zu weit von ihnen löst, die sich andererseits aber dennoch nicht allein auf eine einzelne Ka-tegorie medialer Realisationsformen beschränkt. Wie die Methodik, so sind die Ergebnisse einer dezidiert auf Stoffe ausgerichteten Forschung daher auch mit der Methodik und den Ergebnissen philologischer, literaturwissenschaftlicher,

historischer, archäologischer, soziologischer, psychologischer, strukturalisti-scher und anderer Herangehensweisen nicht deckungsgleich, so daß in einem

„stoffwissenschaftlichen“ Arbeiten ein Mehrwert steckt, der so von den bisher mit Mythen oder anderen Erzählstoffen befaßten Forschungsrichtungen allen-falls ansatzweise eingeholt werden kann.

In Abgrenzung zu allzu stark auf die medialen Konkretionen mythischer Stoffvarianten zentrierten Ansätzen einerseits und zu anderen, sich von den Stoffvarianten, die verschiedenen medialen Konkretionsformen zugrundeliegen, zu weit entfernenden Richtungen der Mythosforschung andererseits gilt es deshalb, einen stoffwissenschaftlichen Zugang zu Mythen zu verfolgen und zu großen Teilen überhaupt erst zu entwickeln. In einer stoffwissenschaftlichen bzw. „hylistischen“ Mythosforschung liegt ein Mittelweg, der im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand, der gewissermaßen zwischen den Stühlen der bishe-rigen Forschungsbemühungen sitzt, neue Erkenntnisgewinne verspricht. Hyli-stik als allgemeine Stoffwissenschaft und, als Subdisziplin, eine hylistische Er-forschung speziell mythischer Stoffe löst sich einerseits von den jeweiligen medialen Konkretionsformen dieser Stoffe und kommt damit anderen Zugangs-weisen entgegen, die Mythen unter Aspekten untersuchen, die sich zum Teil deutlich von einer bspw. rein literaturwissenschaftlichen bzw. literaturhistori-schen oder archäologiliteraturhistori-schen bzw. bildwissenschaftlichen Betrachtungsweise ent-fernt haben, ohne daß sich andererseits eine solche hylistische Herangehens-weise selbst wiederum einer bestimmten dieser verschiedenen anderen Richtungen zuordnen ließe oder mit einer von ihnen identisch wäre. Als Ergän-zung und Mittelweg zwischen zu mediennahen und zu medienfernen For-schungsrichtungen zielt die allgemeine Stoffwissenschaft auf die Erforschung des Wesens und der Merkmale von Erzählstoffen und auf eine Methodik, die spe-ziell auf die Erforschung von Stoffen unter Berücksichtigung der ganzen Band-breite verschiedener medialer Konkretionsformen zugeschnitten ist – und auf diese Weise auch eine wichtige Voraussetzung für eine komparatistische Stoff-wissenschaft darstellt26.

|| 26 Zur komparatistischen Relevanz s. ausführlich Kapitel 9.

Open Access. © 2019 Zgoll, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz.

https://doi.org/10.1515/9783110541588-004

4 Die Suche nach „dem“ Stoff und verschiedene

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