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Funktionen und Mytheme: Propp, Barthes und Lévi- Lévi-Strauss

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 121-133)

Stoffvarianten als Hylemsequenzen

5.2 Funktionen und Mytheme: Propp, Barthes und Lévi- Lévi-Strauss

Trotz der von Tomaševskij zuerst gegebenen Beispiele sind seine „Motive“

also offenbar keine Sätze, sondern einerseits einzelne Aussagen über bestimmte Personenhandlungen, andererseits aber auch einzelne Elemente wie bestimmte Gegenstände oder Naturerscheinungen. Damit steht man erneut vor dem Pro-blem einer Vermischung von kleinsten handlungstragenden Einheiten und klein-sten stoffkonstituierenden Elementen. Außerdem weicht Tomaševskij sein Krite-rium, „Motive“ seien die kleinsten, nicht weiter zerlegbaren thematischen Einheiten, selbst manchmal auf, wenn er bspw. die Entführung des Kindes eines Helden als „erstes Motiv“ bezeichnet, als „zweites Motiv“ dann aber die Verket-tung all der folgenden thematischen Einheiten: „Es tritt eine Person auf, aus de-ren Biographie wir erfahde-ren, daß sie von fremden Leuten aufgezogen wurde und ihre Eltern nicht kannte (zweites Motiv)“35, oder wenn er die Auflösung im letzten Akt von Molières Komödie L’avare, bei der die handelnden Figuren erkennen, daß sie miteinander verwandt sind, insgesamt als ein Motiv bezeichnet36. Damit nähert sich der Motivbegriff bei Tomaševskij dann letztlich doch wieder dem von ihm abgewehrten, eher dehnbaren Motivbegriff der vergleichenden Märchenfor-schung an, was allein schon durch die etwas unglückliche Wahl desselben Be-griffs („Motiv“) begünstigt worden sein mag.

Die Frage nach einer geeigneten Bezeichnung für eine kleinste, hand-lungstragende Einheit einer Stoffvariante wird hier noch etwas zurückgestellt.

Davor sollen erst noch strukturanalytische (bzw. formalistische) und strukturali-stische Ansätze der Mythosforschung in den Blick genommen werden, da da-durch die zur Verfügung stehenden Termini um die Begriffe „Funktion“ und „My-them“ erweitert werden.

5.2 Funktionen und Mytheme: Propp, Barthes und Lévi-Strauss

Schon näher an das hier anvisierte Vorhaben, eine Stoffvariante nicht nur nach ausgewählten, besonders bedeutenden und recht weit gefaßten „Motiven“ im Sinne der Story- und Motivforschung bzw. der Märchenforschung zu analysieren, sondern sie insgesamt zu betrachten und in eine Sequenz verschiedener

hand-||

Geschichte von Kalif Storch von dem „Motiv des Krämers“ und dem „Motiv Kaschnurs“ spricht, die sich am Ende der Geschichte als identisch erweisen (Tomaševskij, 1985, 225).

35 Tomaševskij, 1985, 222.

36 Tomaševskij, 1985, 231.

lungstragender Einheiten aufzuteilen, kommen der formalistisch-strukturanaly-tische Ansatz von Propp, der u. a. von Barthes aufgegriffen und weiterentwickelt wurde, und der strukturalistische von Lévi-Strauss. Da beide Ansätze in kaum einer Abhandlung zur Mythostheorie fehlen, soll auf sie in gebotener Kürze und mit einer Konzentration darauf eingegangen werden, welche Folgerungen und Probleme sich aus diesen Ansätzen für eine hylistische Stoffanalyse ergeben.

Aufgrund eingehender Untersuchungen russischer Zaubermärchen hat Propp die zugrundeliegenden Stoffvarianten in bestimmte Einheiten unterteilt37, die sich vor allem durch das Kriterium ihrer Funktionalität voneinander unter-scheiden, und die von Propp entsprechend als „Funktionen“ bezeichnet wer-den38: „Unter Funktion wird hier eine Aktion einer handelnden Person verstan-den, die unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für den Gang der Handlung definiert wird.“ Die „Funktionen“ der handelnden Personen hält Propp dabei für „die we-sentlichen Bestandteile“ des Märchens. Daneben setzen sich Märchen aber auch noch aus anderen Konstituenten zusammen, die für Propp keine unmittelbare Funktion für den Fortgang der Handlung mehr haben wie z. B. die Art und Weise des Auftretens bestimmter Figuren oder rein „kopulative“, verschiedene Hand-lungsstränge miteinander verbindende Einheiten39. Von den insgesamt von Propp herausdestillierten 31 Funktionen, aus denen der Typ des russischen Zau-bermärchens aufgebaut ist, seien hier beispielhaft genannt „Der Held verläßt das Haus“ (Nr. 11), „Der Held wird vor den Verfolgern gerettet“ (Nr. 22), „Aufgabe wird gelöst“ (Nr. 26), „Der Held wird erkannt“ (Nr. 27), und als Abschluß Nr. 31

„Der Held vermählt sich und besteigt den Thron“.

Ein hauptsächliches Problem bei der Propp’schen formalistisch-strukturalen Funktionsanalyse russischer Zaubermärchen liegt darin, daß die dort erzielten

|| 37 Propp, 1975 (1. Aufl. im russischen Original 1928). S. zu Propp bspw. die konzise Darstellung bei Csapo, 2005, 190-211.

38 Propp, 1975, 27. Dundes, 2007 (1962), 96, schlägt später, auf Propp aufbauend und in Anleh-nung an die Unterscheidung von Pike zwischen „emisch“ und „etisch“, dafür den Begriff „Moti-fem“ (= „emic motif“) vor: „In other words, Propp’s function in Pike’s scheme of analysis would be called a MOTIFEME.“

39 Propp, 1975, 95. Als Beispiele führt Propp das „Herbeifliegen des Drachen“ oder die „Begeg-nung mit der Hexe“ an. Weitere weitgehend „funktionslose“ Elemente, aus denen sich nach Propp das Märchen konstituiert, sind „Kopulas und Motivierungen“ sowie „attributive Elemente oder Beifügungen“ (ebd.). Ähnlich unterscheidet auch Tomaševskij, 1985, 219, „verknüpfte“ und

„freie“ Motive und führt eine Wertung ein: „Für die Fabel sind nur verknüpfte Motive von Be-deutung“.

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Ergebnisse nicht leicht verallgemeinerbar sind40. Propp beschränkt sich bei sei-nen Untersuchungen auf eisei-nen relativ klar umrissesei-nen Subtypus einer bestimm-ten literarischen Gattung, so daß die enge Auswahl der untersuchbestimm-ten Texte eine günstige Ausgangsbasis für eine Entdeckung der in diesen engen Grenzen gel-tenden Gesetzmäßigkeiten sind. Die hier gewonnenen Ergebnisse lassen sich vor allem deswegen nur schwer auf andere Gebiete wie z. B. auf die Erforschung thischer Stoffe übertragen, weil es bei der Vielfalt und Verschiedenartigkeit my-thischer Stoffe, die zudem an keine Gattungskonventionen gebunden sind, von vornherein kaum möglich sein dürfte, bspw. rein kopulative und damit funkti-onslose Handlungsschritte von solchen zu unterscheiden, die für den Fortgang der Handlung eine unabdingbar wichtige Funktion haben. Für eine Analyse von (mythischen) Stoffen ist es wichtig, nicht schon bei der rein analytischen Zerle-gung einer Stoffvariante eine Wertung mit einzubringen, die darüber entschei-det, ob eine bestimmte Stoffeinheit nun eine wichtige Funktion erfüllt oder nicht41.

Für Propp zählen nur funktional die Handlung weiter voranbringende Ein-heiten, und damit hängt auch zusammen, daß er nicht kleinste handlungstra-gende Einheiten als „Funktionen“ definiert, sondern unter Umständen mehrere solche Einheiten einer Funktion zuordnet. Wenn er als 6. Funktion „Der Gegen-spieler versucht, sein Opfer zu überlisten, um sich seiner selbst oder seines Besit-zes zu bemächtigen“ oder als Nr. 26 „Aufgabe wird gelöst“ anführt, dann sind dies funktionale Bestimmungen, die sich je nach dem auf einen oder auch auf mehrere Handlungsschritte verteilen können.

Barthes hat Propps Funktionsbegriff aufgenommen, auf die Analyse jedwe-der Art von „Erzählung“ ausgeweitet und verfeinert42. Für Barthes stellen die Funktionen die „kleinsten Erzähleinheiten“ dar43, die sich nicht nach formalen Kriterien bestimmen lassen, sondern nur anhand des Sinns und Zwecks, den sie

|| 40 Vgl. zu dieser Kritik Csapo, 2005, 201. Zu einer ebenfalls kritischen Abgrenzung der literatur-wissenschaftlichen Motivforschung von den Funktionsanalysen Propps s. Wolpers, 2002, 58 f.

41 Zu einer ausführlichen Kritik an Propp s. auch Grazzini, 1999, 19-80, die u. a. die Problematik herausstellt, daß „Funktionen“ in Propps Sinn nicht einfach objektiv gegeben sind, sondern nur in Abhängigkeit von den Perspektiven der jeweils handelnden Figuren näher bestimmt werden können und daher sehr unterschiedlich ausfallen können.

42 S. dazu v. a. den Aufsatz Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen in Barthes, 1988, 102-143.

43 Barthes, 1988, 109.

innerhalb einer Erzählung haben44. Im Gegensatz zu Propp läßt Barthes keine

„funktionslosen“ Einheiten mehr zu: alles Erzählte ist „per definitionem erwäh-nenswert“ und hat damit eine Funktion45. Wenn auch alles Funktion ist und keine Funktion per se funktionslos sein kann, so gibt es doch Abstufungen in der Wich-tigkeit und verschiedene Arten von Funktionen. Barthes unterscheidet „Kardi-nalfunktionen“ (bzw. „Kerne“) und „Katalysen“, wobei die Kardinalfunktionen die wichtigeren sind. Zur „Kardinalfunktion“ wird eine Funktion dadurch, „daß die Handlung, auf die sie sich bezieht, eine für den Fortgang der Geschichte fol-gentragende Alternative eröffnet (aufrechterhält oder beschließt), kurz, daß sie eine Ungewißheit begründet oder beseitigt“. Katalysen hingegen sind eher „Zu-satznotationen“46.

Während eine erste Klasse von Funktionen im engeren Sinn, die Kerne und die Katalysen, auf einer syntagmatischen Ebene der Erzählung anzusiedeln sind, bedient eine zweite Klasse von Funktionen in einem weiteren Sinn, die Barthes

„Indizien“ nennt, eher die vertikale Achse und bezieht sich daher auf eine para-digmatische Ebene der Erzählung insgesamt47: Barthes unterteilt diese zweite Klasse von Funktionen, die „Indizien“, in „Indizien im engeren Sinn …, die auf einen Charakter, ein Gefühl, eine Atmosphäre (etwa des Verdachts) oder eine Phi-losophie verweisen“ und in „Informanten, die zum Erkennen und Zurechtfinden in Raum und Zeit dienen“48.

|| 44 Barthes, 1988, 109: „Der Sinn muß von vornherein das Kriterium der Einheit bilden: zu Ein-heiten werden sie [sc. die Funktionen] durch den funktionalen Charakter gewisser Segmente der Geschichte …“

45 Vgl. Barthes, 1988, 109: Mag etwas auch noch so „bedeutungslos erscheinen und sich hart-näckig gegen jede Funktion sperren, so erhielte es letztendlich dennoch die Bedeutung des Ab-surden oder des Nutzlosen: entweder ist alles sinnvoll oder nichts“. Vgl. ähnlich bereits Toma-ševskij, 1985, 227 (mit Verweis auf Tschechows radikales Beispiel vom Nagel in der Wand am Anfang einer Erzählung, an dem sich am Ende der Held aufhängen muß): „Nicht ein Requisit darf in der Fabel ungenutzt, nicht eine Episode ohne Einfluß auf die Situation der Fabel bleiben.“

46 Barthes, 1988, 113 f: „Die Kardinalfunktionen sind die Risikomomente der Erzählung; zwi-schen diesen Alternativpunkten, diesen dispatchers, legen die Katalysen Sicherheitszonen, Ru-hepausen, Luxus an: dieser ‘Luxus’ ist jedoch nicht überflüssig: vom Standpunkt der Ge-schichte, das muß betont werden, kann die Funktionalität einer Katalyse gering, aber keineswegs null sein …“ Die Unterscheidung findet sich von der Sache her bereits bei Toma-ševskij, den Barthes hier nicht zitiert, obwohl er an anderer Stelle auf ihn verweist (Barthes, 1988, 138, Anm. 18); Tomaševskij, 1985, 219 unterscheidet terminologisch zwischen „verknüpf-ten Motiven“ und „freien Motiven“.

47 Vgl. dazu Barthes, 1988, 112. Es kann auch zu Mischformen von Funktionen kommen; s. ebd.

115.

48 Barthes, 1988, 114.

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Am weitesten entfernt von der hier anvisierten Analyse von Stoffvarianten nach ihren kleinsten handlungstragenden Einheiten ist Barthes’ zweite Klasse von „Funktionen“, welche die „Indizien“ und „Informanten“ umfaßt, da sich diese Funktionen nicht eigentlich auf den Fortgang der Handlung beziehen, son-dern es sich bei ihnen allgemein um „Hinweise auf den Charakter der Protagoni-sten, Informationen über ihre Identität, Anmerkungen zur ‘Atmosphäre’ usw.“ in jeder erdenklichen Form handelt. So stellt bei Barthes’ Beispiel von James Bond, der „in seinem Büro in der Spionageabwehr Bereitschaftsdienst hat und nach dem Klingeln des Telefons ‘einen der vier Hörer abhebt’“ allein die Zahl Vier „eine funktionelle Einheit“ dar49, da durch die Zahl der Telefonapparate „die Verwal-tungsmacht, die hinter Bond steht … indexiert wird“50. Die Zahl Vier ist nun zwar ein kleinstes stoffkonstituierendes Element, dem man eine bestimmte Funktion zuweisen kann, aber sie ist keine kleinste handlungstragende Einheit im hier an-visierten Sinn.

Schon eher lassen sich Barthes’ „Kerne“ und „Katalysen“ der ersten Funkti-onsklasse mit dem hier geplanten Vorhaben in Zusammenhang bringen, den Handlungsverlauf eines Stoffes in einzelne kleinste Handlungsschritte zu unter-teilen. Unbeschadet des Gewinns, der in der Differenzierung von „kardinalen“

und „katalytischen“ Funktionen und in einer solchermaßen verfeinerten narra-tologischen Analyse liegen kann, unterscheidet sich auch in Hinblick auf diese Funktionsklasse Barthes’ Vorstellung von „kleinsten Erzähleinheiten“, auch wenn es fallweise zu Überschneidungen kommen kann, dennoch deutlich von den hier gesuchten „kleinsten handlungstragenden Einheiten“, weil Barthes aus-schließlich auf die funktionale Bedeutung dieser Einheiten abhebt; mit diesem Kriterium steht oder fällt die Entscheidung, ob und inwiefern etwas als „kleinste Erzähleinheit“ gelten darf oder nicht. Hier aber geht es nicht um die funktionale Analyse von kleinsten Stoffeinheiten, sondern um diese kleinsten Stoffeinheiten selbst, die nicht funktionsorientiert, sondern am stofflichen Handlungsverlauf orientiert bestimmt werden sollen. Im Gegensatz zu einer funktionsanalytischen Herangehensweise sollen die Fragen, welche Funktionen und welchen Grad funktionaler Wichtigkeit einzelne Einheiten im Stoff haben (ob sie also bspw.

eine „kardinale“ oder nur eine „katalytische“ Funktion aufweisen) und ob hand-lungstragende Einheiten nur eine Funktion oder mehrere Funktionen haben, und wenn ja, welche, weiteren Schritten bzw. einer sich anschließenden Deutung

vor-|| 49 Barthes, 1988, 110.

50 Barthes, 1988, 112.

behalten bleiben. Die Identifikation von kleinsten handlungstragenden Stoffein-heiten aber soll noch vor einer Funktionsanalyse stehen bzw. von dieser entkop-pelt vorgenommen werden.

Einen ganz anders gelagerten Ansatz verfolgt Lévi-Strauss51. Seine seitdem oft zitierte strukturalistische Analyse des Oidipus-Mythos52 wurde von ihm selbst als nicht besonders gelehrt eingestuft, sondern eher als das Produkt eines „Stra-ßenhändlers“, der versucht, „so rasch wie möglich das Funktionieren des kleinen Geräts zu erklären, das er den Gaffern zu verkaufen versucht“53. Ob diese Bemer-kung nun ernst gemeint oder nur eine berechnende oder apologetische Beschei-denheits-Attitüde des Gelehrten war, in der Forschung jedenfalls wurde sie nicht ernst genommen – sein „kleines Gerät“ zur Erklärung der in den Mythen stecken-den tieferen Bedeutungszusammenhänge hingegen um so mehr54.

Unter der Voraussetzung, daß mythische Stoffe analog zur Sprache Bedeu-tungsträger sind, daß aber die Erzähloberfläche der Stoffe ähnlich wie die Wort-oberfläche der Sprache nicht gleichzusetzen ist mit den dahinterstehenden Be-deutungen, also der semantischen Ebene, sucht Lévi-Strauss bei seinen Analysen mythischer Stoffe nach bestimmten konstitutiven Einheiten, die sich nicht so

|| 51 S. Lévi-Strauss, 1955, und 1964-1971. Der Muttersprache des Autors entsprechend werden im Folgenden bei Bezugnahmen auf den richtungsweisenden Artikel The Structural Study of Myth von 1955 originalsprachige Ausdrücke in Klammern nicht nach der englischen Erstpublikation zitiert, sondern nach der französischen, ergänzten und überarbeiteten Fassung (Lévi-Strauss, 1958, 227-255: La structure des mythes). Vgl. zur Darstellung des Ansatzes von Lévi-Strauss bspw.

Hübner, 1985, 66-71 und 88 f (kritisch); eine kurze Darstellung und kritische Würdigung bei Graf, 1985, 47-52; ausführlicher und mit Diskussion von Beispielen Csapo, 2005, 209-245; kompakt Wodianka, 2014, 315 f.

52 Literaturhinweise zu Oidipus bei Reinhardt, 2011, 132 f, Anm. 562, und Reinhardt, 2016, 24.

53 Teilübersetzung von Lévi-Strauss, 1958, 235: „La « démonstration » doit donc s’entendre, non pas au sens que le savant donne à ce terme, mais tout au plus le camelot : non pas obtenir un résultat, mais expliquer, aussi rapidement que possible, le fonctionnement de la petite machine qu’il essaye de vendre aux badauds.“ Der Passus findet sich noch nicht in der Erstveröffentli-chung von 1955. In der deutschen Übersetzung der Anthropologie Structurale (1958) von Hans Naumann (Frankfurt 1967, 234) ist etwas zu pejorisierend von einem „Marktschreier“ die Rede, der im Sinn hat, „so rasch wie möglich das Funktionieren der kleinen Maschine zu erklären, die er den Dummköpfen zu verhökern versucht“.

54 Anknüpfend an Lévi-Strauss werden v. a. von französischen Forschern, etwa von Vernant (u. a. 1982, 1987, 1995), Detienne (1981) und Dumézil (1989) vor allem griechische, im Fall von Dumézil aber auch übergreifend indoeuropäische Mythen unter strukturalistischen Gesichts-punkten untersucht.

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sehr wie bei Propp oder Barthes nach funktionalen als vielmehr nach semanti-schen Kriterien zusammenfassen und näher bestimmen lassen55. Für diese kon-stitutiven, bedeutungstragenden Einheiten, „aus denen der Mythos letztlich be-steht“, prägt Lévi-Strauss den Begriff „Mytheme“ (grosses unités constitutives ou mythèmes)56.

Hier begegnen sofort zwei grundsätzliche Schwierigkeiten: Was versteht Lévi-Strauss unter „dem“ Mythos, der zu analysieren ist? Und wo setzt man die Stoffgrenzen an, wo beginnt ein Stoff, wo endet er? Um mit dem zuerst genannten Problem zu beginnen: Obgleich Lévi-Strauss betont, daß eine strukturalistische Mytheninterpretation alle Varianten eines mythischen Stoffes „mit dem gleichen Ernst betrachten“ muß57, sieht es bei seinem konkreten Beispiel, der Analyse

„des“ Oidipus-Mythos, ganz so aus, als ob dieser Zugang nicht zu einer Differen-zierung verschiedener Sinnebenen, also zu einem Ernst-Nehmen der Verschie-denheiten, sondern im Gegenteil zu einer Art Bestätigung einer grundsätzlich hinter allen Varianten angenommenen, gemeinsamen und gleichbleibenden Sinnstruktur führt. Varianten, die z. B. durch das Fehlen bestimmter einzelner Elemente charakterisiert sind, „verändern die Struktur des Mythos nicht“, und

„Zusätze tragen nur dazu bei, den Mythos zu verdeutlichen“58. Trotz der Verschie-denheit der Varianten kann Lévi-Strauss auf diese Weise also eine Vulgata des Stoffes erstellen, da die Unterschiede im Einzelnen für ihn nicht wirklich ins Ge-wicht fallen. Welche Probleme sich hinsichtlich der Erstellung einer Stoff-Vul-gata ergeben, wurde bereits ausgeführt59; auf die grundsätzliche Problematik der

|| 55 Einen ähnlichen Ansatz verfolgt jüngst Frog, 2015, 38, der mit den von ihm so genannten

„integers of mythology“ einheitliche bedeutungstragende Elemente (nicht nur von Erzählstof-fen) zu isolieren und innerhalb einer „symbolic matrix“, dem Symbolsystem einer Mythologie zu situieren versucht: „An integer of mythology is considered a meaningful, unitary element that can be distinguished from other elements. … it can be considered as a symbol: it is a type of sign that can be recognized as signifying something. This may be the image of a god, a narrative motif or even a complex story. … mythology is here considered to be more than just stories; it is made up of all sorts of symbolic integers and the conventions for their combination. All of these toge-ther form a symbolic matrix.“ Frog geht es nicht primär um Mythen, sondern um Mythologien, verstanden als komplexe und in sich durchaus uneinheitliche Symbolsysteme, die sich aus ver-schiedenen „symbolic integers“ zusammensetzen, unter denen mythische Stoffe nur einen Teil-bereich ausmachen.

56 S. Lévi-Strauss bei Barner et al., 2003, 64 (bzw. 1958, 233).

57 S. Lévi-Strauss bei Barner et al., 2003, 71.

58 S. Lévi-Strauss bei Barner et al., 2003, 70 und 71 (Kursivierungen C. Zgoll); vgl. Lévi-Strauss, 1958, 240: „… ces motifs [sc. absents] n’altèrent pas la structure du mythe … Ces accrétions con-tribuent seulement à expliciter le mythe …“

59 S. Kapitel 4.4.

postulierten Relationalität aller Elemente jeglicher Varianten eines mythischen Stoffes soll später noch ausführlicher eingegangen werden60.

Schwierigkeiten eigener Art wirft auch die zweite, oben genannte Frage auf, nämlich die nach den Stoffgrenzen. Selbst wenn man die Erstellung einer Stoff-Vulgata „des“ Oidipus-Mythos für unproblematisch hält, bleibt immer noch die Frage, wo der Anfang und wo das Ende eines solchen Stoffes anzusetzen ist. Ist die Erzählung von der Geburt und Aussetzung des kleinen Oidipus und die Er-zählung von der Lösung des Rätsels der Sphinx durch den erwachsenen Oidipus ein zusammenhängendes Ganzes, also ein Mythos, oder handelt es sich um zwei verschiedene mythische Stoffe? Es ist später auf diese Problematik noch ausführ-licher zu sprechen zu kommen61. Hier soll nur angemerkt werden, daß Lévi-Strauss bei seiner Analyse „des“ Oidipus-Mythos noch viel radikaler verfährt, denn er beginnt bei der Suche des Kadmos nach seiner von Zeus entführten Schwester Europa (Kadmos ist der Ur-ur-Großvater von Oidipus) und endet bei der Bestattung des Oidipus-Sohnes Polyneikes durch dessen Schwester Antigone – all das zählt für ihn zu „dem“ Oidipus-Mythos.

Gesetzt den Fall, man erklärt das Verfahren der Erstellung einer Stoff-Vul-gata für unbedenklich und konzediert einen weiten Spielraum bei der Frage, wo ein mythischer Stoff beginnt und wo er endet, dann könnte man auf den ersten Blick zu der Auffassung gelangen, daß die Aufteilung einer solchen Stoff-Vulgata in einzelne „Mytheme“ bei Lévi-Strauss im Wesentlichen der hier in dieser Arbeit anvisierten Unterteilung einer Stoffvariante in kleinste handlungstragende Ein-heiten entspricht. Um zu den Mythemen zu gelangen, kommt Lévi-Strauss näm-lich auf eine Technik zu sprechen, die dem hier zugrundeliegenden Anliegen ei-ner Suche nach kleinsten handlungstragenden Einheiten ausgesprochen ähnlich sieht. Er schlägt vor, jeden Mythos zunächst einmal so zu analysieren, daß „man die Reihenfolge der Ereignisse in möglichst kurzen Sätzen wiedergibt“62.

Von der Betrachtung dieser Technik ausgehend hat sich im Umgang mit dem Mythembegriff teilweise ein folgenschweres Mißverständnis eingeschlichen, nämlich die Auffassung, diese „möglichst kurzen Sätze“ seien nun das, was Lévi-Strauss unter „Mythemen“ versteht63. Eine solche Auffassung geht aber am

Von der Betrachtung dieser Technik ausgehend hat sich im Umgang mit dem Mythembegriff teilweise ein folgenschweres Mißverständnis eingeschlichen, nämlich die Auffassung, diese „möglichst kurzen Sätze“ seien nun das, was Lévi-Strauss unter „Mythemen“ versteht63. Eine solche Auffassung geht aber am

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