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Stoffschema – Gattungsschema – Stoffarten

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 173-177)

Problematik, oder: Die Suche nach „dem“ Sintflutmythos

7.4 Stoffschema – Gattungsschema – Stoffarten

Als grundsätzliches Kriterium für eine Unterscheidung zwischen konkreten und schematischen Hylemen bzw. Hylemsequenzen bietet sich das Vorhanden-sein bzw. das Fehlen von Eigennamen an, etwa die Eigennamen von Figuren und Örtlichkeiten39. Alle weiteren, bspw. eine konkrete Figur näher bestimmenden Determinationen wie „mächtig, fromm, stark“ etc. bleiben trotz ihrer Konkretheit reichlich unspezifisch, während „Kadmos“ und „Boiotien“ eine Hylemsequenz bzw. ein Hylem sehr eng und damit konkret mit einer bestimmten Persönlichkeit und einer bestimmten Landschaft verbinden. Ersetzt man „Kadmos“ durch „Pro-tagonist“ und läßt man die landschaftliche Verortung unbestimmt, ist die grund-legende Transformation von einem konkreten Hylem zu einem Hylemschema vollzogen, und werden mehrere Hylemschemata zu einer Sequenz zusammenge-fügt, ergibt sich ein Stoffschema40.

7.4 Stoffschema – Gattungsschema – Stoffarten

Mit der Bezeichnung „Stoffschema“ befindet man sich scheinbar in einer Nähe zum narratologischen Begriff des „Handlungsschemas“, doch handelt es sich hier um eine nur oberflächliche, allein durch sprachliche Anklänge evozierte Ge-meinsamkeit. Denn unter einem Handlungsschema im engeren Sinn wird in der

|| 39 Dieses Unterscheidungskriterium läßt sich bereits in der Poetik des Aristoteles beobachten, s. dazu Kapitel 24.2.3.

40 In diesem Zusammenhang ergeben sich noch weitere Möglichkeiten oder Notwendigkeiten der Differenzierung, die hier aber nur angedeutet werden sollen, nämlich die Unterscheidung zwischen Stoffschema i. S. v. „Gesamtheit der tatsächlichen und möglichen Stoffschema-Varian-ten“ eines bestimmten Stoffes und Stoffschema i. S. v. „einzelne Stoffschema-Variante“ (analog zur Unterscheidung von einzelner konkreter „Stoffvariante“ und „Stoff“ als Gesamtheit der tat-sächlichen und möglichen Varianten eines Stoffes, s. Kapitel 6.1). Entkoppelt man alle verschie-denen vorliegenden Stoffvarianten zur Gründung Thebens durch Kadmos von den Eigennamen, liegen entsprechend verschiedene Stoffschema-Varianten vor, die alle zu einem polymorphen Stoffschema (als Gesamtheit dieser Varianten) gehören. Um den Lesefluß nicht allzu sehr zu be-hindern, wird im Folgenden jedoch der Begriff „Stoffschema“ sowohl für eine einzelne Stoff-schema-Variante als auch für die Gesamtheit der möglichen StoffStoff-schema-Varianten verwendet.

Wie vielgestaltig bzw. polymorph ein Stoffschema ist, hängt im Übrigen wesentlich davon ab, ob man induktiv oder deduktiv vorgeht. Nimmt man aus den verschiedenen vorhandenen Stoff-varianten der Gründung Thebens durch Kadmos alle Eigennamen heraus (induktiv), wird man aller Wahrscheinlichkeit nach vor einer Mehrzahl von im Einzelnen verschiedenen Stoffschema-Varianten stehen; sucht man umgekehrt in bspw. verschiedenen Texten nach dem Stoffschema

„Protagonist befragt Orakel wegen der Gründung einer Stadt – Protagonist befolgt Anweisung des Orakels – Protagonist gründet Stadt“ (deduktiv), dann geht man in diesem Fall von vornher-ein von vornher-einem „monomorphen“ Stoffschema aus.

Literaturwissenschaft ein abstraktes Grundmuster verstanden, nach dem in einer Gruppe von Texten, vornehmlich in einer bestimmten literarischen Gattung, die Handlung typischerweise strukturiert ist, entweder die Handlung als Ganze (also bezogen auf einen Text insgesamt), oder doch zumindest größere Teile der Hand-lung eines Textes41. Diese oft gattungstypischen Handlungsschemata haben sehr viel mit der Erwartungshaltung der Rezipienten zu tun. Von einem Kriminalro-man erwartet Kriminalro-man ein Verbrechen, das begangen wird, und Bemühungen um seine Aufklärung; ein Märchen über einen jungen, schönen Königssohn weckt die Erwartung, daß der Königssohn einige Gefahren bemeistern oder Rätsel lösen muß, am Ende aber alle Prüfungen besteht und dafür neben einer wunderschö-nen Königstochter möglichst noch ein halbes oder ganzes Königreich erhält.

Die Bezeichnung „Handlungsschema“ ist etwas unglücklich, denn zunächst versteht man im Deutschen unter „Handlung“ die Gesamtheit der konkreten Handlungsschritte in einem literarischen Werk (i. S. v. plot), nicht nur ein ab-straktes, gattungstypisches Grundmuster allgemein, und selbst wenn man

„Handlungsschema“ abstrakt auffaßt, dann denkt man nicht an ein gattungsty-pisches Handlungsmuster, sondern an schematisierte Grundmuster typischer Handlungsabläufe in einem ganz allgemeinen Sinn wie etwa „wer beleidigt wurde, sinnt auf Rache“42. Diese Überlegungen führen zu folgendem Vorschlag, was eine den Sachverhalt m. E. besser treffende Terminologie anbelangt:

→ Für solche narrativen Grundmuster, die als besonders gattungstypisch gelten können, soll die Bezeichnung Gattungsschema gebraucht wer-den43.

Mit einem solchermaßen definierten Gattungsschema hat der oben geprägte Be-griff vom Stoffschema nur wenig gemein. In beiden Fällen geht es um etwas noch

|| 41 Vgl. dazu die Ausführungen und Beispiele bei Martínez/ Scheffel, 2012, 126-132.

42 In diesem Sinne ist auch das von Todorov, 1972, 269-275, beispielhaft untersuchte Phänomen der „Intrige“ kein gattungsspezifisches Grundmuster und noch nicht einmal ein „(abstrakte[r]) literarischer[r] Begriff“ (ebd. 269), sondern zunächst einmal ein allgemeines Handlungsmuster, das in der „Realität“ wie in der Literatur, und innerhalb der Literatur in verschiedensten Gattun-gen wie Roman, Novelle, Anekdote oder Epos u. a. vorkommen kann.

43 Noch einmal auf einer ganz anderen Ebene, nämlich auf der durch empirisch-soziologische und linguistische Zugangsweisen erforschten Ebene des Vorgangs bzw. der konkreten Art und Weise (v. a. mündlichen) Erzählens liegt der Begriff des „Erzählschemas“, der in der Definition von Martínez/ Scheffel, 2012, 127, auf „typische Muster von Erzählungen und Erzählvorgängen insgesamt, einschließlich der Darstellung und erzählpragmatischer Aspekte“ abzielt.

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hinter der Ebene des konkreten Stoffes Liegendes, aber im Fall des Gattungssche-mas ist der Begriff bezogen auf ein gattungsspezifisches Grundmuster, das den Handlungsverlauf innerhalb bestimmter Textkorpora insgesamt oder zumindest großräumig organisiert, während der Begriff „Stoffschema“ auf eine zwar von Ei-gennamen entkoppelte, davon abgesehen aber ansonsten immer noch inhaltlich konkrete und durch spezifische Handlungsschritte bestimmte Hylemsequenz zielt, die jedoch nichts mit textlichen bzw. gattungsspezifischen Verfaßtheiten zu tun hat. Denn ein Stoffschema hat nicht von vornherein als ein für eine be-stimmte literarische Gattung typisches Schema zu gelten, sondern kann in ver-schiedenen literarischen Gattungen gleichermaßen „konkretisiert“ werden. Da-bei kann je nach gattungsspezifischer Konkretion ein und dasselbe Stoffschema mit ganz unterschiedlichen Bedeutungen verknüpft sein. Es wäre die Annahme ein folgenschwerer Irrtum, wenn man aufgrund einer komparatistischen Analyse ein mehreren Stoffen zugrundeliegendes, identisches oder zumindest sehr ähnli-ches Stoffschema erkennen und daraus folgern würde, daß die jeweiligen kon-kreten Stoffe, denen dieses Stoffschema zugrundeliegt, auch dieselben Stoßrich-tungen oder BedeuStoßrich-tungen haben müßten44.

Ein Stoffschema muß noch nicht einmal für eine bestimmte Stoffart typisch sein45. So ist bspw. die Kombination der Hylemschemata „Aussetzung eines Kin-des – Säugen Kin-des KinKin-des durch ein wilKin-des Tier – Auffindung Kin-des KinKin-des durch Hirten“ ein Stoffschema, das nicht stoffartentypisch (also typisch für mythische, märchenhafte, sagenhafte o. a. Stoffe), geschweige denn gattungstypisch sein muß46. Es gibt keinen überzeugenden Grund, hier bspw. von einem typischen

„Märchenschema“ zu sprechen; dieses Stoffschema kann konkret sowohl als my-thischer wie als märchenhafter oder sagenhafter oder auch als historischer Stoff vorliegen und demgemäß in einer breiten Palette verschiedenster literarischer Gattungen (und anderer medialer Formen) zur Ausgestaltung gelangen.

Das gilt um so mehr für die unterhalb der Stoffebene liegenden, einzelnen Hylemschemata. Das Hylemschema „Protagonist raubt junge Frau“ kann

ge-||

44 Vgl. Masciadri, 2008, 372 f, der (ebd. 373) ein gleichbleibendes „Handlungsmuster“, wie er es nennt, auch als ein „syntaktisches Schema“ bezeichnet, „dem entlang die Erzähler ihre Erfin-dung konstruieren“; dieses Schema gehöre „zur Grammatik eines Mythos, nicht zu seiner Bot-schaft“.

45 Zur Unterscheidung von verschiedenen Stoffarten s. ausführlicher Kapitel 10.

46 S. eine Zusammenstellung griechischer Stoffe unter der Rubrik „Götter und Heroen als aus-gesetzte Kinder“ bei Binder, 1964, 125-146. Vgl. ausführlich Reinhardt, 2012, 241-284, zur exem-plarischen „Motivreihe“ von „Geburt, Aussetzung und Überleben des ‘Königskindes’“.

nauso in einem mythischen Stoff ausgestaltet werden („Hades raubt Perse-phone“)47 wie in einem märchenhaften („Hexenmeister raubt schönes Mäd-chen“)48 oder in einem historischen („Karl VIII. von Frankreich raubt Anne de Bretagne“) oder in einem sagenhaften Stoff, wie er z. B. in der Darstellung des Raubes der Helena durch Paris im „Troia-Roman“ des Dares Phrygius zur Ausge-staltung kommt49.

Hier werden weitere Vorteile des Hylembegriffs deutlich50. Durch die Unter-scheidung von konkreten Hylemen und abstrakten Hylemschemata steht ein dif-ferenzierteres Handwerkszeug zur Verfügung als dies beim Motivbegriff der Fall ist, der allein auf die abstrakte Ebene zielt, oder beim Mythembegriff, der sich umgekehrt allein auf die konkrete Ebene bezieht. Zudem erfolgt keine vorgängige Festlegung eines Hylemschemas auf eine bestimmte Stoffart, wie sie bei einer Be-zeichnung als „Mythem“ bereits durch das Wort selbst nahegelegt wird. Ein und dasselbe Hylemschema kann in verschiedenen Stoffarten auftauchen und ent-sprechend auf verschiedene Weisen spezifiziert werden51.

|| 47 Vgl. Claudians Epyllion De raptu Proserpinae.

48 Vgl. etwa Märchen Nr. 46 in den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm.

49 S. Dares Phrygius, Kapitel 10; Text, Übersetzung und Kommentar bei Beschorner, 1992.

50 „Weitere“ im Vergleich zu den bereits in Kapitel 5.3 genannten.

51 Vgl. dazu noch ausführlicher Kapitel 11.3.

Open Access. © 2019 Zgoll, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz.

https://doi.org/10.1515/9783110541588-008

8 Stoffgrenzen: Zur Abgeschlossenheit und

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 173-177)

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