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Die Approximalversion als Lösungsansatz

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 105-109)

4 Die Suche nach „dem“ Stoff und verschiedene Lösungsvorschläge, oder: Niobes Hybris

4.6 Die Approximalversion als Lösungsansatz

Es gibt aber neben dieser rein pragmatischen Argumentation noch inhaltli-che Gründe, mit denen sich die zunächst unangreifbar sinhaltli-cheinende Notwendig-keit einer Berücksichtigung aller verfügbaren Varianten anzweifeln läßt. Darum soll es bei der Behandlung der „Approximalversion“ gehen.

4.6 Die Approximalversion als Lösungsansatz

Das Postulat einer Maximalversion suggeriert, man hätte mit der Gesamtheit aller Fassungen tatsächlich das Maximum erreicht und damit einen Stoff „definiert“, seine Grenzen bestimmt. Das ist aber nicht wirklich der Fall. Denn „der“ Stoff existiert schon allein deswegen nicht nur innerhalb der Bandbreite der Möglich-keiten, die durch die Synopse der Gesamtheit aller erreichbaren Varianten aufge-zeigt wird, weil zahlreiche weitere Varianten existiert haben können, die nie auf-geschrieben wurden, und weil etliche Varianten, die aufauf-geschrieben wurden, nicht erhalten geblieben sind.

Man muß sich darüber im Klaren sein, daß wir, gerade bei der Erforschung antiker Mythen, nur noch die berühmten Spitzen von Eisbergen vor uns haben.

Selbst wenn man von einem bestimmten mythischen Stoff alle erreichbaren Quel-lenbelege sammeln würde – und bei manchen Mythen können das ausgespro-chen viele sein –, handelte es sich dabei immer noch nur um einen Teilausschnitt dessen, was es an Varianten von einem mythischen Stoff tatsächlich gegeben hat.

In den überlieferten Quellen ist an wenigen, vereinzelten Punkten etwas zu me-dialer Darstellung geronnen oder erstarrt und ragt nun wie die Spitze eines Eis-berges aus dem Wasser, was lebendig und in weitaus größerem Ausmaß pulsie-rend und changiepulsie-rend weitergeflossen ist. Deshalb reicht auch die Menge aller verfügbaren Fassungen nicht hin, um einen Stoff zu definieren, denn sie ist im-mer noch nur eine Teilmenge aus der Bandbreite dessen, was existiert hat. Wenn man behauptet, ein mythischer Stoff existiert in so vielen Varianten, wie es Köpfe gab und gibt, welche diesen Stoff kennen, so wäre selbst das noch untertrieben, denn in manch einem Kopf können von ein und demselben Stoff mehrere Vari-anten gespeichert gewesen sein.

Dazu kommt ein weiterer entscheidender Aspekt, gerade für die in vielen Fäl-len wirkmächtigen und damit eine lange Rezeptionsgeschichte nach sich ziehen-den antiken Mythen. Selbst wenn restlos alle antiken Varianten, die es jemals ge-geben hat, überliefert und aufzählbar wären, dann wäre das Potential des Stoffes immer noch nicht ausgeschöpft, denn auch diese Menge wäre immer noch nur eine Teilmenge all der Varianten des Stoffes, die nicht realisiert worden sind, die aber dennoch als Möglichkeitenim Stoff stecken. Manche der möglichen

rianten werden erst viel später, bspw. durch moderne Neubearbeitungen ausge-schöpft, viele liegen bis heute in den Stoffen, ohne daß sie realisiert worden wä-ren. Die „Arbeit am Mythos“, um mit Blumenberg zu sprechen, findet kein Ende98. Es wäre durchaus denkbar, daß ein Dichter einmal eine Medeia-Tragödie verfaßt, in der Medeia sich im entscheidenden Moment entschließt, ihre Kinder nicht zu töten – was allenfalls Empörung und Ablehnung in einem konservativ eingestell-ten Publikum auslösen würde; man wäre aber kaum im Zweifel darüber, daß man sich eben über eine Verunstaltung einer wichtigen Episode „des“ Medeia-Mythos echauffiert99.

Das gilt nicht nur für Mythen, sondern für alle Stoffe, im Extremfall sogar für einen bestimmten, von einem Autor neu erfundenen Stoff. Wenn dieser Stoff nie von irgend jemandem aufgegriffen wurde und somit nur in der Form dieser einen Stoffvariante vorliegt, die der Autor gestaltet hat, dann handelt es sich auch in diesem Fall nur um eine Variante dieses neu kreierten Stoffes, nicht um „den“

Stoff insgesamt: Nichts hindert potentielle Nachfolger, diesen Stoff doch noch aufzugreifen und ihn in Form einer anderen Variante zu erzählen, und bereits der Autor selbst hätte das Potential, das in diesem Stoff steckt, in Form einer anderen Variante erzählen können.

Das bedeutet: Die Gestalt eines konkreten Stoffes ist sowohl mit Blick auf die Vergangenheit als auch mit Blick auf die Zukunft offen. Anders ausgedrückt: Das

|| 98 Vgl. zum „Wirkungspotential des Mythos“ Blumenberg, 1971, und 1984, 685: „Es gibt kein Ende des Mythos, obwohl es die ästhetischen Kraftakte des Zuendebringens immer wieder gibt.“

In die Richtung einer solchen „Offenheit“ des Mythos im Blick auf die Zukunft geht bereits Lévi-Strauss (1955), wenn er nicht zögert, sogar reaktualisierende Analysen der mit Oidipus verbun-denen mythischen Stoffe von wissenschaftlicher Seite aus, wie etwa durch ihn selbst oder durch Freud, „zu unseren Quellen des Ödipusmythos zu zählen“ (zitiert nach Barner et al., 2003, 71).

99 Vgl. zu diesem spannenden Thema der „Mythenkorrekturen“ den gleichnamigen Sammel-band von Vöhler/ Seidensticker, 2005. Ein grundsätzliches theoretisches Problem bleibt freilich die Annahme, „daß bestimmte zentrale Elemente bzw. Konstellationen eines Mythos nicht ändert werden können, ohne daß der jeweilige Mythos zerstört wird, d. h. seine Identität ver-liert“, wie die Herausgeber in der Einleitung unter Berufung auf Aristoteles ausführen (ebd. 3);

s. dazu ausführlich die Diskussion im Kapitel 4.4 zur „Standardversion“ eines mythischen Stof-fes, ein Begriff, der in dem Sammelband explizit verwendet wird (ebd. 7): „Umfang und Intensi-tät von stofflichen und thematischen Mythenvariationen und -korrekturen lassen sich nur auf dem Hintergrund der jeweiligen Standardversion bestimmen“. Die Problematik treffend wird in einer Fußnote eingeräumt (ebd. 5, Anm. 25): „Der Übergang von der Variation zur Korrektur ist gleitend.“ Zur Frage, was für einen mythischen Stoff konstitutiv ist, wenn man nicht von einer Standardversion ausgehen kann, sondern nur von einer Skala von leichten bis sehr starken Va-rianten eines nur approximativ erfaßbaren Stoffpotentials, s. Kapitel 12.3.

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Potential, das in einem bestimmten Stoff steckt, ist annähernd unerschöpflich100. Das tatsächliche Maximum der gesamten Bandbreite der Möglichkeiten einer Stoffgestaltung ist unerreichbar, und damit ist ein konkreter Stoff auch nicht de-finierbar, sondern nur annähernd umschreibbar101. Neben vielen paganen anti-ken Mythen ist bspw. die mancherorts bis heute lebendige Krippenspiel-Tradi-tion christlicher Kirchen ein bemerkenswertes Beispiel für das unauslotbare Potential eines Erzählstoffes: Bei der Aufführung der Geburt Jesu werden Rollen, Texte und Handlungen immer wieder neu unterschiedlichsten Besetzungen an-gepaßt und nicht selten mit neuen, zeitgeschichtlichen Bezügen versehen.

Ist ein Stoff zufällig nur in einer einzigen Variante bezeugt, so ändert dies nichts an seiner prinzipiellen Polymorphie, an der Vielzahl der Möglichkeiten der Stoffgestaltung. Bei vielbezeugten Stoffen wiederum läßt sich eine Synopse aller verfügbaren Stoffvarianten immer nur als Näherungswert an die Gestalt eines be-stimmten Stoffes begreifen:

→ Ein Stoff ist eine polymorphe Handlungssequenz, deren Polymorphie sich durch die Sammlung der überlieferten Varianten nur annähernd er-fassen läßt; mehr als einen solchen Näherungswert kann es nicht geben.

Ein Stoff läßt sich daher nicht in seiner maximalen Bandbreite abgrenzen und somit eindeutig „definieren“, sondern als eine grundsätzlich offene, polymorphe Gestalt nur approximativ umschreiben.

|| 100 Tatsächlich annähernd unerschöpflich mit Blick auf die Zukunft, nur prinzipiell uner-schöpflich in Hinblick auf die Vergangenheit: dort gehören zu den die Stoffvarianz begrenzen-den Faktoren u. a. der jeweilige kulturelle Horizont, die künstlerische Freiheit bei der Gestal-tung, die eine Gesellschaft einzelnen Autoren zugesteht oder gerade nicht zugesteht, generell der Grad der Traditionsverbundenheit einer Gesellschaft und anderes mehr; zu diesen „zentri-petalen“, einen Stoff zusammenhaltenden Faktoren s. Kapitel 12.1.

101 Vgl. auch Kühr, 2006, 17: „Deshalb gibt es keine ursprüngliche oder einzig ‘wahre’ Variante eines Mythos, vielmehr konstituiert er sich aus allen Varianten, die je existierten und noch exi-stieren werden …“ Wenn Reinhardt, 2011, von „‘Mythos’ in allgemeinerem Sinn“ (ebd. 20, im Gegensatz zum „Einzelmythos“) als von einem „Komplex sprachlich-gedanklicher Äußerungen über wesentliche menschliche Grunderfahrungen im Rahmen eines speziellen Kulturkontextes und eines spezifischen Weltverständnisses“ (ebd. 20 f, im Original fett und kursiv), oder von

„mythischen Äußerungen“ (ebd. 21) spricht und fortfährt, daß es bei „‘Mythos’ im allgemeineren Sinn nicht nur um den Ursprung und die Frühphase der Realisierung in Ritual und Religion, Literatur und Bildender Kunst, sondern mindestens ebenso auch um seine Entwicklung im Ver-lauf der weiteren Rezeptionsgeschichte“ geht (ebd. 21), so scheint er damit nicht einen einzelnen Stoff als unauslotbares Potential im Blick zu haben, sondern eher das „mythische Denken“ bzw.

die hinter den Einzelstoffen liegende mythische Weltanschauung insgesamt.

Daraus ergibt sich eine wichtige Folgerung für die Praxis der Erforschung von (antiken) Mythen. Wenn es a priori unmöglich ist, einen Stoff in seiner Gesamt-heit zu erfassen, wenn mithin immer nur Einblicke möglich sind in sein prinzipi-ell unauslotbares Potential, dann ist es zwar sinnvoll und wünschenswert, aber wiederum auch nicht notwendig und unabdingbar, alle verfügbaren Belege zu sammeln, um einen Stoff überhaupt näher untersuchen zu dürfen102. Denn selbst alle diese Belege wären wiederum nur ein Ausschnitt aus der Fülle der Möglich-keiten, die ein Stoff für seine konkrete Ausgestaltung bietet. Mit der Sammlung aller verfügbaren Stoffvarianten läßt sich nur eine scheinbare Vollständigkeit er-reichen, die leicht darüber hinwegtäuscht, daß eine tatsächliche Vollständigkeit unerreichbar ist.

Dennoch kann die Sammlung und Nebeneinanderstellung möglichst vieler verschiedener Stoffvarianten heuristisch wertvoll sein, wenn sie sich der natürli-chen Grenzen bewußt bleibt, die ihr durch die grundsätzliche Unerschöpflichkeit eines Stoffes gesetzt sind. Denn der Vergleich verschiedener Varianten bietet Ein-blicke in die Bandbreite der Stoffgestaltung, und gerade in Abhebung voneinan-der lassen sich Spezifika einzelner Gestaltungen erkennen.

Um solche Spezifika herauszuarbeiten, ist es überdies wichtig und gewinn-bringend, nicht nur Vergleiche mit Varianten zu betreiben, die „seriös“ oder in großartiger künstlerischer Gestaltung dargeboten werden, sondern auch mit sol-chen, die einen Stoff karikierend zu verzerren scheinen oder ihn absichtlich zu desavouieren trachten, und auch mit solchen, die den Stoff trocken und ohne je-den künstlerischen Anspruch präsentieren – und dies in all je-den genannten Fäl-len außerdem unabhängig davon, ob die jeweiligen mediaFäl-len Konkretionen über-lieferter Stoffvarianten früh oder spät zu datieren sind. Denn für die Frage nach dem Potential eines Stoffes ist die Frage nach dem Alter einer bestimmten Stoff-variante ohne Belang103.

In der Einbeziehung einer ganzen Bandbreite verschieden gearteter und da-tierter Stoffvarianten-Konkretionen liegt ein deutlicher Vorteil einer Approximal-version im Vergleich zu einer StandardApproximal-version, für deren Erstellung bestimmte interpretatorische und damit nicht unproblematische Vorentscheidungen getrof-fen werden müssen. Es geht darum, ohne solche Vorentscheidungen die Eigen-heiten bestimmter Stoffvarianten zu profilieren und das Potential eines Stoffes besser zu erkennen und tiefer auszuloten; vollständig ermessen läßt es sich nie.

|| 102 Vgl. dazu auch Zima, 2011, 361.

103 S. dazu auch die Ausführungen zu der Frage, ob und inwieweit es sinnvoll ist, eine „Stoff-geschichte“ im Sinne einer linearen Stoffentwicklung zu schreiben, in Kapitel 21.3.1.

Die nicht realisierten Stoffvarianten | 85

Im Dokument Christian Zgoll Tractatus mythologicus (Seite 105-109)

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