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Die Relativität des Realen

2. Not what you see – Die Relativität des Realen:

2.2. Die Ambivalenz von Realität:

2.2.3. Die Welt als Text und das Buch der Welt:

Die Deutung unserer (subjektiven) Erscheinung ist am Ende ebenfalls nur eine (subjektive) Erscheinung, denn das, was wir in unserer Umgebung wahrnehmen und in unserem Geist deuten, basiert beides auf unserer subjektiven Erkenntnis.57 Den Erschaffern der Matrix im Film ist es gelungen, die Gehirnzentren des kollektiven Sehens bzw. Falschsehens anzusprechen, die es ermöglichen, daß alle in der Matrix eingeloggten Menschen die Illusion in gleicher Weise wahrnehmen; dies aber möglicherweise nur aus dem Grund, da sie wissen, welche Neuronen, Synapsen und Rezeptoren stimuliert werden müssen, um die Illusion zu ermöglichen, ohne zu wissen, wo das Grundschema, die Matrix der Erkenntnis, generiert wird – ebenso wie auch eine Katze einen Lichtschalter betätigen und für Licht sorgen kann, ohne die geringste Ahnung zu haben, wie Elektrizität funktioniert. Was die weitere Erforschung des Schematismus angeht, wird es wohl zunächst bei Kants nüchterner Erkenntnis bleiben, daß wir das, was wir nur subjektiv betrachten, niemals objektiv bewerten können. Ist man aber in der Lage, eine Illusion zu entwickeln, die den Schematismus bedient, wie dies in Matrix geschieht, so ist man in der Lage, eine Illusion zu erschaffen, die niemand durchschauen kann.

Örtern.”60 „And thy commandment all alone shall live within the book and volume of my brain“, sagt Hamlet.61 Selbstverständlich ist in diesem Fall der Text bzw. das Buch ebenfalls eine Metapher für die Welt, so wie Gott das Buch der Welt schrieb, kann er auch Namen aus dem Buch der Welt tilgen. „Der Raum der unmittelbaren Ähnlichkeiten wird zu einem großen, offenen Buch. Er starrt von Schriftzeichen“, schreibt Foucault.62 Alles, was auf Erden geschah, war eine Wiederholung des Himmels und alle Funktionen des menschlichen Körpers waren eine Wiederholung der Natur. So ließen sich alle Anschauung von einem gemeinsamen Ursprung ableiten.63 Die Erkenntnis war von wenig Zweifeln erfüllt: Gott schrieb und der Mensch las. Jedoch ist nicht nur die Welt, sondern auch jedes Geschöpf ein Buch für sich, die Welt ist Text und alle Geschöpfe sind Text, der Mensch blickt, sozusagen selber Text, dadurch in einen Spiegel, wie es Alanus de Insulis im 12. Jahrhundert formuliert:

Omnis mundi creatura, Quasi liber et pictura, Nobis est in speculum;

Nostrae vitae, nostrae mortis, Nostri status, nostrae sortis Fidele signaculum. 64

Ähnlich wie Alanus de Insulis stellt auch Hugo de S. Victore die Welt als ein riesiges Buch dar. „Die ganze Erscheinungswelt, heißt es bei Hugo, sei ein Buch vom Finger Gottes geschrieben, und die einzelnen Geschöpfe seien wie Zeichen oder Wörter in diesem Buch, die

60 Offenbarung, 6, 14, in dem Cyberpunk Trendsetter Neuromancer wird ebenfalls die Farbe des Himmels mit einem Fernseher verglichen, der auf einen toten Kanal geschaltet ist, in Gibson, William, Neuromancer, London, 1994, 7

61 Shakespeare, William, „Hamlet“, Act I, Scene 5, in Well, Stanley; Taylor, Gary (eds.), The Oxford Shakespeare, Oxford, 1998, 662

62 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main, 2003, 57

63 vgl. ebd., „Die Welt drehte sich in sich selbst: die Erde war die Wiederholung des Himmels, die Gesichter spiegelten sich in den Sternen [...]“, 46, ebenso, „Von fern ist das Gesicht Nacheiferer des Himmels, und ebenso wie der Intellekt des Menschen unvollkommen die Weisheit Gottes reflektiert, reflektieren die beiden Augen mit ihrer begrenzten Helligkeit das große Licht, das am Himmel Sonne und Mond verbreiten“, 49

64 Alanus de Insulis, Rhythmus alter quo graphice natura hominis fluxa et caduca depingitur (Opera omnia, ed.

Migne Patraologia Latina CCX 579 sq.). Der Titel bezieht sich auf den vorausgehenden >Rhythmus perelegans<

De Incarnatione Christi , zitiert nach Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, 51, deutsche Übersetzung:

Die Geschöpfe dieser Erde, Sind ein Buch und ein Gemälde, Und ein Spiegel unseres Seins.

Unserm Leben, unserm Sterben,

Unsrer Lage, unserm Lose,

Können Sie ein Zeichen sein.

zitiert nach Assunto, Rosario, „Alanus ab Insulis“, Die Theorien des Schönen im Mittelalter, Köln, 1996, 215-216

nicht nach menschlichen Belieben erfunden, sondern durch göttlichen Entscheid festgelegt, zur Kundgabe des Unsichtbaren der göttlichen Welt bestimmt. Wenn ein des Lesens Unkundiger das Buch vor sich liegen habe, erblickt er zwar die Zeichen, erkenne aber diese nicht als Buchstaben“, so Blumenberg.65 Der Mensch des Mittelalters illustriert zwar auch seine Welt als Zeichen, so fertigt er Tier- und Pflanzenbücher an, dennoch vermutet er auch hinter den Texten, die Gott in die Welt hineinschreibt, eine wohlmeinende Absicht, die dem Menschen durch die Art des Zeichens z.B. einer Pflanze auch dessen Wirkung demonstriert.

Diesen Vergleich untersucht Foucault in Hinblick auf die Pflanze Eisenhut:

Zwischen den Augen und dem Eisenhut besteht eine Sympathie. Diese unvorhergesehene Affinität bliebe im Schatten, wenn es auf der Pflanze nicht eine Signatur, ein Zeichen und gewissermaßen ein Wort gäbe, das besagte, daß sie für die Augenkrankheiten gut ist. Dieses Zeichen ist vollkommen lesbar in ihren Samenkörnern: das sind kleine dunkle Kügelchen, eingefaßt in weiße Schalen, die ungefähr das darstellen, was die Lider für die Augen sind. 66

In der Matrix herrscht, was die Programme angeht, eine ähnliche Hierarchie; das Orakel unterrichtet Neo in Matrix Reloaded, daß es für Wind, Sonne, Wetter etc. Programme gäbe, die sich um diese Phänomene kümmerten. Als Anspielung auf solche Zeichenhaftigkeit ist auch Cypher in Matrix 1 in der Lage, sich die Matrix unverschlüsselt anzusehen, in dem von Gott – der Matrix – geschriebenen Text, der als Chaos von grünen Zeichen auf den Monitoren erscheint, in dem Cypher aber blonde, brünette und rothaarige Frauen erkennt.67 Für den

65 Blumenberg, Hans, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main, 2000, 52, vgl. zum Sichtbaren und Unsichtbaren auch Hugo de St. Victore, zitiert nach Assunto, Rosario, Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Köln, 1996, 201,

...non potest noster animus ad invisibilium ipsorum veritatem ascendere, nisi per visibilium considerationem eruditus, ita videlicet, ut arbitretur visibiles formas esse imagniationes invisibilis pulchritudinis. Quia enim in formis rerum visibilium pulchritudo earumdem consistit, congrue ex formis visibilibus invisibilem pulchritudinem demnonstrari decet, quoniam visibilis pulchritudo invisibilis pulchritudinis imago est.

[...] unsere Seele kann nicht direkt zur Wahrheit des Unsichtbaren aufsteigen, es sei denn, sie wäre durch die Betrachtung des Sichtbaren geschult und zwar so, daß sie in den sichtbaren Formen Sinnbilder der unsichtbaren Schönheit erkennt. Da nun aber die Schönheit der sichtbaren Dinge in ihren Formen gegeben ist, läßt sich entsprechend aus den sichtbaren Formen die unsichtbare Schönheit beweisen, weil die sichtbare Schönheit ein Abbild der unsichtbaren Schönheit ist

vgl. ebenfalls Foucault, „Es gibt überall nur ein und dasselbe Spiel, das des Zeichens und des Ähnlichen, und deshalb können die Natur und das Verb sich unendlich kreuzen und für jemanden, der lesen kann, gewissermaßen einen großen und einzigen Text bilden“, in Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main, 2003, 66, ebenso Eco, „Zur bloßen visuellen Empfindung kommen Erinnerung, Einbildungskraft und Vernunft hinzu;

dennoch erfolgt diese Synthese schnell und beinahe augenblicklich.“, Kunst und Schönheit im Mittelalter, München, 2004, 121

66 Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main, 2003, 58

67 vgl. Cyphers Aussage zu Neo, „Your brain does the translating. I don’t even see the code. All I see is blond, brunette, redhead.” In „Shooting Script“, New York, 2002, 328

mittelalterlichen Menschen ist klar, daß er den Text so wahrnimmt, wie Gott ihn geschrieben hat, wenn auch die Gedanken Gottes dahinter, die die Schöpfung erst ermöglicht haben, anders aussehen können. Später wird diese eindeutige Zuordnung von Zeichen und Bezeichnetem jedoch nicht mehr so einfach sein. Foucault sieht z.B. Cervantes Don Quixote als ein exemplarisches Werk des Barock, in dem die Sprache ihre alte Verwandtschaft mit den Dingen aufkündigt und sich nur noch auf Sprache oder Zeichen bezieht :

Die Sprache zerbricht darin ihre alte Verwandtschaft mit den Dingen, um in jene einsame Souveränität einzutreten, aus der sie in ihrem abrupten Sein erst als zur Literatur gewordene wieder erscheinen wird.

Die Ähnlichkeit tritt dort in ein Zeitalter ein, das für sie dasjenige der Unvernunft und der Imagination ist.68

In der Tat verwechselt Don Quixote ständig die Zeichen, die er in der Wirklichkeit sieht mit den Zeichen aus seinen Ritterbüchern und tauscht konkrete Phänomene der Wirklichkeit, wie z.B. eine Schafsherde mit Konstrukten aus seiner Ritter- und Sagenwelt aus, wie z.B. mit einem berittenen Heer. Sancho, sein Knappe, muß immer wieder die undankbare Aufgabe erfüllen, seinen Herrn schon im Voraus und meist vergeblich auf den zu erwartenden Einbruch des Realen hinzuweisen.69

„Wie kannst du so etwas sagen, Sancho?“, sprach Don Quixote. „Hörst du denn nicht das Wiehern der Rosse, das Schmettern der Trompeten und das Rollen der Trommeln?“ „Ei, ich höre nichts als das Blöken von Schafen und Hammeln“, sprach Sancho. Und so verhielt es sich auch wirklich; denn die beiden Herden waren ihnen jetzt ziemlich nahe.70

Don Quixote sucht in der Wirklichkeit nach Affirmationen der Illusion, „[...] sein Abenteuer wird eine Entzifferung der Welt sein, ein minuziöser Weg, um an der ganzen Oberfläche der Erde Gestalten aufzulesen, die zeigen, daß die Bücher die Wahrheit sagen.“71 Der Einbruch des Realen erfolgt für den Leser auf amüsante, für Don Quixote jedoch ständig auf schmerzhafte Weise, während Sanchos ‚objektive’ Sicht der Dinge fortlaufend bestätigt wird, worüber er sich bei seinem Herrn auch mehrfach beschwert: „[...] seit wir fahrende Ritter sind oder seit es Euer Gestrengen sind – denn ich habe keinen Grund, mich unter diese Ehrenzunft zu rechnen –, haben wir noch keine Schlacht gewonnen [...] Denn seitdem hat es nichts mehr

68 Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main, 2003, 81

69 vgl. Turgenjew, Iwan, „Sancho Pansa besitzt zu viel gesunde Vernunft; er weiß sehr gut, daß der Knappe eines fahrenden Ritters außer Prügel so gut wie nichts zu erwarten hat“, in „Hamlet und Don Quixote“, Don Quixote, Vol.I, Frankfurt am Main, 2000, 20

70 Cervantes, Don Quixote, Vol.I, Frankfurt am Main, 2000, 209

71 Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main, 2003, 79

gesetzt als Prügel und abermals Prügel, Faustschläge und abermals Faustschläge [...].“72 Don Quixote ficht dies nicht an, vielmehr schiebt er all die scheinbaren Täuschungen auf vermeintliche schwarze Magie und Kobolde. „Als langer magerer Graphismus, wie ein Buchstabe, ist er gerade den offenklaffenden Büchern entkommen. Sein ganzes Wesen ist nur Sprache, Text, bedruckte Blätter, bereits geschriebene Geschichte.“73 So verwundert es nicht, daß Don Quixote fest davon überzeugt ist, daß es einen „weisen Zauberer“ gibt, der synchron die Geschichte seiner Taten schreibt.74

Vom siebzehnten Jahrhundert an nun fragt man sich, wie ein Zeichen mit dem verbunden sein kann, was es bedeutet.“75 Der Signifikant beherrscht zunehmend das Signifikat, die Diskursivierung der Wirklichkeit funktioniert nur noch über die Diskursivierung unserer Vorstellung von Wirklichkeit. „Zwischen den Büchern und der Wirklichkeit ist eine alte Feindschaft gesetzt. Das Geschriebene schob sich an die Stelle der Wirklichkeit, in der Funktion, sie als das endgültig [...] Gesicherte überflüssig zu machen.“76 Der Weg von dieser Erkenntnis zu Baudrillards Simulationsprinzip77 scheint nicht weit. Ging der mittelalterliche Mensch aber noch davon aus, daß der von Gott geschriebene Text als Text vom Menschen automatisch richtig interpretiert wird, stellt sich Descartes die Frage, inwieweit die Wahrnehmung der Wirklichkeit überhaupt von der Wirklichkeit als eher von unseren inneren Ideen beeinflußt wird.

72 Cervantes, Don Quixote, Vol.I, Frankfurt am Main, 2000, 204

73 Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main, 2003, 78

74 Cervantes, Don Quixote, Vol.I, Frankfurt am Main, 2000, 222

75 Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main, 2003, 75

76 Blumenberg, Hans, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main, 2000, 53

77 Kap. 4.1