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Die Relativität des Realen

2. Not what you see – Die Relativität des Realen:

2.1. Platon und die Schatten an der Wand:

2.1.1. Platon und Aristoteles:

Auch wenn es in dieser Arbeit nicht um eine eingehende Analyse der griechischen Philosophie geht, ist es dennoch notwendig, auf den Paradigmenstreit zwischen Platon und seinem Schüler Aristoteles hinzuweisen, die beide unterschiedliche Ansichten hinsichtlich der Eindeutigkeit der Wahrnehmung vertraten. Aristoteles, anders als Platon, sieht den Dichter als Künstler in seiner Poetik in erster Linie als „Nachahmer“:

Da der Dichter ein Nachahmer ist, wie ein Maler oder ein anderer bildender Künstler, muß er von drei Nachahmungsweisen, die es gibt, stets eine befolgen: er stellt die Dinge entweder dar, wie sie waren oder sind, oder so, wie man sagt, daß sie seien, und wie sie zu sein scheinen, oder so, wie sie sein sollten.20

Während Aristoteles dem Dichter die Fähigkeit zuschreibt, die Dinge so darzustellen, wie sie sind, hält Platon jegliche abbildende Kunst (die Dichtung fällt nicht hierunter) für eine Verstärkung der Verfälschung der Wirklichkeit.21 Die Menschen, die sich in der Höhle befinden, sehen die Welt bereits nicht so, wie sie ist. Indem der Künstler von diesem – falschen – Abbild nun wieder ein Abbild macht, was dem vorhergehenden auch nicht

19 „Shooting Script“, New York, 2002, 357-358, vgl. Zizek, “[…] der Verräter ist an die Illusion unserer sog.

“Realität” gebunden, die von der Matrix dominiert und manipuliert ist, während Reeves der Menschheit die Erfahrung des Universums als Spielplatz anbietet, auf dem wir eine Vielzahl von Spielen spielen, frei von einem zum anderen übergehen, die Regeln umgestalten, die unsere Realitätserfahrung festlegen”, Der zweite Tod der Oper, Berlin, 2003, 34

20 Aristoteles; Fuhrmann, Manfred (ed.), Aristoteles – Poetik, Stuttgart, 1996, 85

21 vgl. dazu den Begriff Mimesis als die Nachahmung, z.B. bei Schönberger in Longinus. Vom Erhabenen, Stuttgart, 2002, 137

genügend entspricht, macht er die Welt ohne Notwendigkeit noch falscher, als sie ohnehin schon ist. Im zehnten Dialog des Staates wird Glaukon von Platon über diesen Sachverhalt aufgeklärt:

Wir müssen uns also überlegen, ob solche Leute nicht von Nachahmern, denen sie in die Hände fallen, getäuscht werden und beim Anblick ihrer Werke nicht bemerkten, daß diese doch drei Stufen vom wahren Sein entfernt und leicht zu schaffen sind für einen, der die Wahrheit nicht kennt; denn sie schaffen ja nur Scheinbilder, nicht wahrhafte [...] 22

Eine ähnliche Ansicht scheint Morpheus zu vertreten, denn einerseits hat auch er begriffen, daß Realität nur elektrische Signale sind, die vom Verstand interpretiert werden,23 andererseits ist die Welt von Zion für ihn aber doch irgendwie realer als die Simulation der Matrix, „weniger Stufen vom wahren Sein entfernt“, da man bei der Matrix den Schuldigen an der Simulation, i.e. die Maschinen, sofort ausfindig machen kann, dies bei der wirklichen Welt von Zion aber nicht mehr so einfach ist, denn wer täuscht uns denn schließlich nun dort?

Ein böser Gott, ein anderes, aber unbekanntes Computerprogramm, vielleicht aber auch kein anderer als unser eigenes Gehirn? Platons Ideenlehre führt als Metapher für die wahren Ideen, die hinter den scheinbaren Dingen stehen, die Namen der Dinge auf, wobei jedes Ding einen willkürlichen und einen natürlich richtigen Namen habe:

[...] es gebe für jedes Ding eine richtige, aus der Natur dieses Dinges selbst hervorgegangene Bezeichnung, und nicht das sei als (wahrer) Name anzuerkennen, was einige nach Übereinkunft als Bezeichnung für das Ding anwenden, indem sie (willkürlich) einen Brocken ihres eigenen Lautvorrates als Ausdruck für die Sache wählen, sondern es gebe eine natürliche Richtigkeit der Namen [...]24

So wie es zu jedem Gegenstand die passende Idee gibt, gibt es auch zu jedem Ding den richtigen Namen; nicht als willkürlicher, abiträrer Name, sondern als innerer Name, als Namen an sich. Die großen Unterschiede zwischen Platon und Aristoteles sind, was die Wahrnehmung der Welt angeht, zusammenfassend die folgenden: Gemäß Platon sind die Dinge der Wirklichkeit unvollkommene Abbilder der höchsten Ideen, woraus sich auch die Geisteshaltung des Idealisten ableitet. Da der Mensch allerdings weiß, daß es diese Urbilder bzw. Ideen gibt und er dies von irgendwoher wissen muß, ist dies, so Platon, ein Beweis der Unsterblichkeit der menschlichen Seele bzw. eine Wiedererinnerung an die Urgestalt der –

22 Platon; Rüdiger Rufener (ed.), Platon: Der Staat, Düsseldorf und Zürich, 2000, 676-677

23 vgl. seine Einweisung gegenüber Neo, “What is real? How do you define real? If you’re talking about what you feel, taste, smell or see, then real is simply electrical signals interpreted by your brain”, in “Shooting Script”, New York, 2002, 310

24 Apelt, Otto (ed.), “Platon-Menon”, in Platon – Sämtliche Dialoge, Vol. II, Hamburg, 1988, 37

jetzt im Leben nur sinnlich erfahrbaren – Dinge. Aristoteles vertritt die Ansicht, daß Platons Weltsicht zu einer unmöglichen Verdoppelung der Wirklichkeit führen würde, wenn es für jeden Gegenstand noch eine dazu passende Idee gäbe. In Wahrheit stelle jeder Gegenstand auch genau das dar, was er sein sollte.25 Die Dinge werden entweder durch die sinnliche Wahrnehmung (aisthēsis) oder die Erfahrung (empeira) wahrgenommen.26 Die Idee befindet sich nicht entrückt von den wirklichen Dingen, sondern wohnt dem jeweiligen Stoff als einheitsstiftendes Prinzip inne.

Wenn überhaupt das ‚bestimmte Etwas’ außerhalb der Verbindung existiert, dann bei den natürlichen Substanzen; daher sagte Platon nicht schlecht, daß es so viele Formen gibt, wie Dinge, die von Natur sind, wenn es denn Formen gibt, jedoch nicht von Dingen wie Feuer, Fleisch, Kopf; denn alles ist Materie, und die letzte Materie ist Materie der Substanz, die es im höchsten Grad ist. [...] Denn wenn der Mensch gesund ist, dann existiert auch die Gesundheit, und die Gestalt der bronzenen Kugel ist zugleich mit der bronzenen Kugel. Ob aber auch später etwas bestehen bleibt, wäre zu untersuchen; bei einigen Dingen steht dem nichts entgegen, etwa wenn die Seele von der Art ist, nicht die ganze, aber der Geist; denn daß die ganze Seele Bestand hat, ist vielleicht unmöglich.

Es ist also klar, daß es, wenigstens aus diesen Gründen, keine Ideen zu geben braucht; denn ein Mensch zeugt einen Menschen, der einzelne einen bestimmten.27

Ist man also der Ansicht, man sähe die Welt so, wie sie auch ist, ist man Realist.28 In der Renaissance wurde dieser Streit z.B. zwischen der Akademie von Florenz (Platon) sowie der Universität von Padua (Aristoteles) ausgetragen.29 Auch in den Diskursen von Matrix geht dieser Streit weiter. Die Rebellen in Matrix scheinen ebenfalls zwischen diesen beiden Schulen zu schwanken – was die Matrix angeht, sind sie Idealisten, was die wahre Welt von Zion angeht, wohl eher Realisten. Wenn man aber, wie es Morpheus tut, Neo aufklärt, bei einem Tod in der Matrix träte auch in der Wirklichkeit der Tod ein, dann ist der Tod und auch

25 vgl. hierzu zur Eindeutigkeit von Realität z.B. Aristoteles in Fuhrmann, Manfred (ed.) Aristoteles Poetik, griechisch-deutsch, „[...] nun glauben wir von dem, was nicht wirklich geschehen ist, nicht ohne weiteres, daß es möglich sei, während im Falle des wirklich Geschehenen offenkundig ist, daß es möglich ist – es wäre ja nicht geschehen, wenn es nicht möglich wäre.“, Stuttgart, 1996, 31

26 vgl. Politis, Vasilis, Aristotle and the Metaphysics, London, 2004, 31

27 Szlezák, Thomas, Alexander (ed.), Aristoteles: Metaphysik, Berlin, 2003, 213, ebenso Finsler, Gerhard, Platon und die aristotelische Poetik, Leipzig, 1990, 34ff., vgl. zur Polarität der aristotelischen Substanz auch Barnes, Jonathan, „Substances are individuals: Mozart is a substance, man is not. Substances are definable: man is a substance, Mozart is not“, in: Ders., “Metaphysics”, The Cambridge Companion to Aristotle, Cambridge, 1995, 91

28 vgl. Fuhrmann, „Die Poetik setzt also die Kritik an der platonischen Ideenlehre und an der plantonischen, gänzlichen negativen Bewertung der Affekte voraus; Aristoteles hatte die Auseinandersetzung mit der Philosophie Platons im wesentlichen abgeschlossen, er hatte die Grundpfeiler seines eigenen Lehrgebäudes bereits errichtet, als er sich anschickte, die Poetik zu Papier zu bringen“, in Aristoteles Poetik, Stuttgart, 1996, 153, vgl. ebenfalls E. Grumach (ed.) Aristoteles Werke, griechisch und deutsch, „Nikomachische Ethik“, Vol.VI, übers. von F. Dirlmeier sowie „Über die Seele“, Übers. von W. Theiler, Darmstadt, 1956

29 vgl. Hankins, James, Plato in the Italian Renaissance, “The humanists, like Plato, believed that in educating a ruling elite lay the best of hope of political and moral reform”, New York, 1997, 104

die Idee des Todes in der Wirklichkeit von Zion, die ja im aristotelischen Sinne aus Sicht der Rebellen genau das ist, was wir in ihr sehen, nämlich die wahre Welt von Zion, wahr und keine Illusion.30 Dann muß er aber doch in der Matrix, von der er ja schließlich kam, eigentlich genau so wahr sein? Dann könnte aber doch die Matrix, die ja die platonische Höhle darstellt, genau so wahr sein wie die aristotelische Welt von Zion? Die Rebellen benötigen scheinbar für die Rechtfertigung ihres fundamentalistischen Realismus der Welt von Zion die idealistische Natur der Matrix als Erklärung – und genau da liegt auch ihr Widerspruch! Sieht man sich einige der Zitate aus Matrix 1 an, kann man diese Widersprüche sehr schnell erkennen. So sagt Trinity zu Cypher, als dieser sich bekennt, wieder in die Matrix eingeloggt werden zu wollen, „The Matrix isn’t real!“31 Ebenso polarisiert Morpheus bei seinem ersten Gespräch mit Neo zwischen der ‚echten’ Wirklichkeit und der Illusion der Matrix. „That you are a slave, Neo. Like everyone else, you were born into bondage, kept inside a prison that you cannot smell, taste or touch. A prison for your mind.”32 Etwas später ist er allerdings Erkenntnistheoretiker genug, um zuzugeben, daß Realität nichts weiter ist als elektrische Impulse, interpretiert vom Verstand, „What is real? How do you define real? If you’re talking about what you feel, taste, smell, or see, then real is simply electrical signals interpreted by your brain”.33 Als sollte in dieser Szene (Abb. 39) unterstrichen werden, daß jegliche Wahrnehmung im Kopf stattfindet, ist das Konstrukt der Matrix weiß und leer. Einzig zwei Sessel sowie ein Fernseher als Symbol der Manipulation von Wahrnehmung befinden sich neben Morpheus und Neo im Raum.

Tank, der in Zion geboren ist, bezeichnet sich Neo gegenüber als „old fashioned human“, verbindet also mit der Wirklichkeit von Zion eine Form von einzigartiger Authentizität, die sich auch in seiner abgewetzten Kleidung bestehend aus Unterhemd und Latzhose zeigt (Abb.

182). „Any holes? Nope. Me and my brother Dozer, we are 100 percent pure, old-fashioned,

30 vgl. “Shooting Script”, New York, 2002, Neo: If you are killed in the Matrix, you die here? Morpheus: The body cannot live without the mind.”, New York, 2002, 322, Gehirn und Seele werden hierbei zudem gleichgesetzt, denn tatsächlich schwirrt nicht im christlichen Sinne die Seele vom Körper losgelöst durch die Matrix, sondern deren Simulation stimuliert das Gehirn mit elektrischen Impulsen, die für reale Wahrnehmungen gehalten werden. Körper und Gehirn bleiben also wo sie sind. So lange dabei keine tödlichen Stromstöße oder Gifte abgegeben werden, gibt es m.E. nach medizinisch keinen Grund, von möglicher Magie, Gedankenkontrolle etc. einmal abgesehen, daß man in der Matrix stirbt, solange der Körper in Sicherheit ist, vgl. dazu Zizek, Slavoj,

„The logic of this solution is that your ‚real’ body can only stay alive (function) in conjunction to the mind, i.e.

to the mental universe into which you are immersed: so if you are in a Virtual Reality and killed there, this death affects also your real body. The obvious opposite solution (you can only really die when you are killed in reality) is also too short. The catch is: is the subject WHOLLY immersed into the Matrix-dominated Virtual Reality or does he know or at least SUSPECT the actual state of things?”, in Ders. „The Matrix, or the two sides of perversion“, Inside the Matrix – International Symposium at the Center for Art and Media, Karlsruhe, October 28, 1999, veröffentlich unter www.container.zkm.de/netcondition/matrix/zizek.html

31 “Shooting Script”, New York, 2002, 358

32 Ebd., 300

33 Ebd., 310

home-grown human. Born free. Right here in the real world. Genuine child of Zion.”34 Gleichzeitig ist er selbst aber auch fasziniert von dem E-learning ähnlichen Kampftraining, dem er Neo unterzieht und das in dieser Form nur in der Matrix bzw. einer simulierten, virtuellen Realität funktioniert, „Hey, Mikey, he likes it! Ready for more?“35 Möglicherweise ist er auch ein wenig neidisch, daß dies für ihn – als “old fashioned human” ohne Anschluß im Kopf – diese Form des Trainings nicht möglich ist. Und auch Morpheus' Beschreibung

“The desert of the real”36 für die zerstörte Erde und die verwüstete Skyline von Chicago, die er Neo zeigt (Abb. 40), klingt nicht so, als wäre diese Wirklichkeit eine ernstzunehmende Alternative für die Bequemlichkeiten der Simulation der Matrix. In ihrer visuellen Verwandtschaft mit der Welt nach dem Krieg in Terminator 237 (Abb. 156) ist diese Realität durchweg als unwirtlich und negativ konnotiert.38 So sind die Rebellen Realisten, was ihre ideologische Verbohrtheit hinsichtlich der scheinbaren Authentizität der Welt von Zion angeht und Idealisten, wenn sie sich auf die Ambivalenz von Wahrnehmung stützen, um Neulingen zu erklären, daß die Welt der Matrix eine Illusion ist.