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Die Relativität des Realen

2. Not what you see – Die Relativität des Realen:

2.5. Die Dominanz des Gehirns – Erkenntnistheorie der Neurobiologie:

2.5.2. Neurobiologischer Schematismus:

doch möchte ich dennoch auf eine Argumentation Singers eingehen, der den Glauben an die eigene Freiheit ebenfalls als eine mögliche Illusion des Gehirns deutet:

Auch kann nicht ausgeschlossen werden, daß bestimmte Inhalte dieser Selbsterfahrung, beispielsweise die Überzeugung, frei entscheiden zu können, illusionäre Komponenten haben. Im Bezugssystem neurobiologischer Beschreibungen gibt es keinen Raum für objektive Freiheit, weil die je nächste Handlung, der je nächste Zustand des Gehirns immer determiniert wäre durch das je unmittelbar Vorausgegangene. Variationen wären allenfalls denkbar als Folge zufälliger Fluktuationen. Innerhalb neurobiologischer Beschreibungssysteme wäre das, was wir als freie Entscheidung erfahren, nichts anderes als eine nachträgliche Begründung von Zustandsänderungen, die ohnehin erfolgt wären, deren tatsächliche Verursachungen für uns aber in der Regel nicht in ihrer Gesamtheit faßbar sind.189

In dieser Hinsicht würde unser Gehirn als ein brillanter Verkäufer auftreten, der uns das, was notwendigerweise ohnehin geschehen wäre, als freie Entscheidung verkauft. Auch wenn dies im Film reichlich konstruiert wirkt, muß Neo in Matrix Reloaded und Revolutions ebenfalls diese Erfahrung machen als ihm klar wird, daß er nicht durch seinen Mut in Teil 1 zum Auserwählten wurde, sondern schon von Beginn an das sechste Erlöserprogramm war, das einen Neustart des Systems hervorrufen soll. Der Merowinger (Abb. 34) in Matrix Reloaded macht Morpheus, der obige Ansicht nicht teilt, bereits vorher auf diesen Sachverhalt aufmerksam: „There is nothing like free choice. Just action, reaction. Cause and effect”.190 Daß dies auch auf profaner Ebene Bestand hat, demonstriert er am Ende der Szene, als er den Raum verläßt und die Rebellen ihn fragen, wo er denn hin möchte: “I have drunk to much wine so I have to piss. Cause and effect.“191

Wahrnehmungsmuster oder handlungsförmige Strukturierungen. Er ist sozusagen das schemabildende und schemaanwendende Wesen.192

Roth z.B. sieht den Schematismus der Erkenntnis in spezifisch vorgefertigten Netzwerken, die “nur darauf warten, informiert zu werden” und durch die das Lernen und Klassifizieren unserer Wirklichkeit auf sehr schnelle und exemplarische Weise geschieht.193 Ein interessantes Beispiel für dieses ‚Einrasten’ des Schematismus findet sich ebenfalls bei Roth und ist im Anhang angefügt (Abb. 45).194 Gemäß Roth beruhen diese Konstrukte der Wahrnehmung auf Mechanismen, „[...] die teils genetisch bedingt sind, teils frühkindlich erworben wurden und sich dann verfestigen oder im engeren Sinn erfahrungsbedingt sind. Sie laufen überwiegend unbewußt ab.“195 Worauf sich dieses Schema der Erkenntnis begründet, konnte schon Kant uns nicht sagen. Auch die moderne medizinische Gehirnforschung kann darauf keine eindeutige Antwort geben, da sich die Interpretation einer bewußtseinsunabhängigen Realität durch eine bewußtseinsabhängige Realität als unmöglich gestaltet. Christian Geyer belehrt die Hirnforscher in einem FAZ-Artikel, daß wir nicht die geringste Ahnung haben, „[...] wie das bewußte Erleben, das uns in der Perspektive der ersten Person gegeben ist aus den objektiv beschreibbaren Hirnprozessen hervorgeht.“196 Dies ist den Hirnforscher, ebenso wie Kant, selbstverständlich bewußt.197Das Problem der Selbstbetrachtung erläutert Singer:

Bei der Erforschung des Gehirns betrachtet sich ein kognitives System im Spiegel seiner selbst. Es verschmelzen also Erklärendes und das zu Erklärende. Und es stellt sich die Frage, inwieweit wir überhaupt in der Lage sind, das, was uns ausmacht, zu erkennen. [...] Grundsätzlich unbeantwortbar erscheint somit die Frage, ob es jenseits des uns Zugänglichen noch Unergründbares gibt und wo die Grenzen des Erkennbaren, wenn es sie gibt, liegen.198

192 Lenk, Hans, Kleine Philosophie des Gehirn, Darmstadt, 2001, 52, vgl. auch ebd., „Wir können nicht nicht schematisieren. Wir haben unabhängig von unseren Interpretationen und Interpretationsprozessen und den entsprechenden Konstrukten oder Schemata, mit denen wir „arbeiten“ (müssen), keinen direkten Zugang zur aus guten lebenspraktischen wie auch theoretischen Gründen hypostasierten Außenwelt.“, 54

193 Roth, Gerhard, Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt am Main, 2003, 83

194 aus Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt am Main, 2002, 262, zunächst wird der Betrachter überhaupt nichts erkennen, wenn er jedoch weiß, was dargestellt ist, wird er in dem Bild nichts anderes mehr erkennen können als eine Kuh.

195 Ebd., 208

196 Geyer, Christian, „Hohepriester des Gehirns“, in FAZ, Frankfurt am Main, 10.04.2004, 1

197 vgl. dazu besonders, Roth; Singer u.a., „Denn >>wie<< das funktioniert (die Prozesse im Gehirn, VME), darüber sagen diese Methoden (das Messen von Gehirnströmen, VME) nichts, schließlich messen sie nur sehr indirekt, wo in Haufen von Hundertausenden von Neuronen etwas mehr Energiebedarf besteht. Das ist in etwa so, als versuchte man die Funktionsweise eines Computers zu ergründen, indem man seinen Stromverbrauch mißt, während er verschiedene Aufgaben abarbeitet“, „Das Manifest“, Gehirn und Geist, Heidelberg, Nr. 6, 2004, 33

198 Singer, Wolf, Der Beobachter im Gehirn, Essays zur Hirnforschung, Frankfurt am Main, 2002, 61-62, ebenso Roth, „Ich kann meinen Körper betrachten und ebenso den Raum mit den Dingen, die meinen Körper umgeben.

Die Illusionsmaschine befindet sich in uns. Wenn uns der Satz „Ich bin mein Gehirn“ zu umfassend und abstrakt erscheint, so scheinen die medizinischen Erkenntnisse diesem Ansatz Recht zu geben. Wir können nämlich nicht beurteilen, wie die Realität außerhalb unserer Wahrnehmung aussieht und dadurch hängt unsere gesamte Wahrnehmung von der Wirklichkeitskonstruktion unseres Gehirns ab.199 Aufschlußreich ist, daß die Erkenntnisse Kants als auch die Beobachtungen Gombrichs zum Schematismus200 von den Neurowissenschaftlern durch empirische, medizinische Forschung nahezu bestätigt werden, so z.B. die Unterscheidung zwischen erkannten Objekt und Ding an sich, das Nicht-Urteilen der Sinnesorgane, die Interpretation des Wahrgenommenen innerhalb des Verstandes sowie die Unmöglichkeit, die Schemata der Erkenntnis genau zu klassifizieren. Am Ende scheint das Gehirn, wie die Matrix, ein geschlossener Kreislauf zu sein:

Die Feststellung, daß die von mir erlebte Welt des Ich, meines Körpers und des Raumes um mich herum ein Konstrukt des Gehirns ist, führt zu der vieldiskutierten Frage: Wie kommt die Welt wieder nach draußen? Die Antwort hierauf lautet: Sie kommt nicht nach draußen, sie verläßt das Gehirn gar nicht.

[...] wir leben in einer imaginierten Welt, aber es ist für uns die einzige erlebbare Welt.201

Keine erlebte Welt, die nicht konstruiert ist, kein Ausgang aus dem geschlossenen System, etwa so, wie Morpheus dieses System bereits beschreibt: „Like everyone else, you were born into bondage, kept inside a prison that you cannot smell, taste, or touch. A prison for your mind.”202

Gleichzeitig muß ich als Neurobiologe annehmen, daß sich diese ganze Szene in meinem Gehirn abspielt, das sich in meinem Kopf befindet. Also befindet sich mein Gehirn in meinem Kopf, der sich zusammen mit meinem Körper in einem Raum befindet, und dies alles wiederum befindet sich in meinem Gehirn. Wie kann aber das Gehirn ein Teil der Welt sein und sie gleichzeitig hervorbringen?“, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt am Main, 2002, 22

199 vgl. Roth, Gerhard, Aus Sicht des Gehirns, „Unsere Wahrnehmungswelt ist die einzige Welt, die wir wahrnehmen können; die von unserer Wahrnehmung unabhängige Welt ist nicht ‚dahinter’, sie existiert erlebnismäßig überhaupt nicht, auch wenn wir mit gutem Grund annehmen, daß sie irgendwie vorhanden ist.“ 73

200 z.B. Gombrich, E. H., Art and Illusion, Princeton, 1972, 52ff.

201 Ebd., 48, Lenk scheint hier, in Bezug auf Kant, eine andere These zu vertreten, nämlich, daß die Welt zu ihrer Entstehung beiträgt, daß es keine strikte Polarität zwischen Subjekt und Objekt gibt, „Es ist nicht so, wie Kant meinte, daß das Material der Sinnlichkeit seinerseits rein unverarbeitet rezipiert wird und der Verstand das Aufgenommene erst bearbeitet, verarbeitet, zur Gegenstands- und Urteilskenntnis strukturiert [...] Nicht wir strukturieren erst sekundär, sondern es strukturiert sich von Anfang an interaktiv und aktivistisch das, was „die Welt“ beiträgt“, Kleine Philosophie des Gehirns, Darmstadt, 2001, 57, ebenso Roth, „Wir sind damit zu einer Aufteilung der Welt in Realität und Wirklichkeit, in phänomenale und transphänomenale Welt, Bewußtseinswelt und bewußtseinsjenseitige Welt gelangt. Die Wirklichkeit wird in der Realität durch das reale Gehirn hervorgebracht“, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt am Main, 2002, 325

202 „Shooting Script“, New York, 2002, 300, interessant ist natürlich die Frage, wann Computer in der Lage sein werden, das menschliche Gehirn zu simulieren. Giorgio C. Buttazzo stellt dazu in „Kann je eine Maschine ihrer selbst bewußt werden?“ in Aurich, Rolf; u.a. (eds.), Künstliche Menschen, Berlin, 2000, 49-52 und Abbildung 46 folgende These auf: Das Gehirn besteht aus 1012 Neuronen und jedes Neuron bildet 103 Synapsen, also Verbindungen mit anderen Neuronen. Insgesamt befinden sich im Gehirn schätzungsweise1015 Synapsen. 1