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Die Relativität des Realen

3. Gothic – Innen- und Außenwelten:

3.2. Der Begriff Gotik und die Naturbeherrschung:

Wenn es um den Begriff Gotik geht, gibt es unterschiedliche Assoziationen; es kann sich um gotische Kathedralen wie den Kölner Dom handeln, die sich düster und majestätisch in den Himmel erheben, um Gothic Horror oder Gothic Rock, um Vampire, die leicht bekleidete Damen durch vom Vollmond beschienene, viktorianische Gärten jagen oder an die Sisters of

5 Oosterhouse, Phil, „The Matrix Notes“, The Art of the Matrix, New York, 2002, 397

6 Rosenkranz, Ästhetik des Häßlichen, Leipzig, 1996, 271, vgl. auch die Deutung von Rosenkranz’ Ästhetik als

„Resignationsästhetik“ nach der Revolution von 1848 bei Oesterle, Georg, „Entwurf einer Monographie des ästhetisch Häßlichen“, in Bänsch, D. (ed.), Zur Modernität der Romantik, Stuttgart, 1977, 270

7 vgl. zur Konkretisierung des Nachtmahrs als Wahnvorstellung vor allem Busch, Werner, „[...] sie (die Nachtmahre, VME) sind Ausgeburt von Traumphantasien, deren sexuelle Konnotationen eindeutig sind, das Alpdrücken wird verstanden als verruchter Geschlechtsakt mit dem teuflischen Inkubus, zu dem die Frau als Triebwesen prädestiniert ist“, ebenso die Inszenierung des Irrealen als Realität, „[...] und daß er die formale Übertreibung nutzt, um deutlich zu machen, daß der geschilderte Zustand zu Wahnvorstellungen, zu einer Störung der realen Bezüge führen kann, daß es eine Realität des Irrealen gibt.“, in Beck, Herbert; Bol, Peter, C.;

Bückling, Maraike (eds.), Mehr Licht. Europa um 1770. Die bildende Kunst der Aufklärung. München, 1999, 67

8 vgl. z.B. den Film 23, Deutschland, 1998

Mercy. Schließlich gibt es noch den germanischen Volksstamm der Goten, und, Wunder der Semantik, zutreffend sind all diese Assoziationen.

Entstanden ist der Begriff Gotik zur Zeit der Renaissance im 15. Jahrhundert in Italien. Als man sich wieder auf antike Architektur, besonders die griechische und die römische, zu besinnen begann, kam den Baumeistern dieser Zeit jegliche mittelalterliche Baukunst barbarisch vor – die Germanen, insbesondere die Goten, hatten das Römische Imperium zerstört und Europa für Jahrhunderte der Errungenschaften der Antike beraubt, folglich war alles nicht römisch-griechische eben gotisch.9 Daß aus abwertend gemeinten Bezeichnungen später Stilbezeichnungen werden, hat sich in der Geschichte noch häufig wiederholt, so wiesen auch die Begriffe Barock und Impressionismus zunächst eine negative Konnotation auf.10 Was Gotik angeht, ist dies ist natürlich eine subjektive, um nicht zu sagen ‚platte’

Definition, denn die gotischen Stämme, die Rom in die Knie zwangen, hatten wenig mit der Baukunst des 13. Jahrhunderts zu tun (Abb. 92).11 Nun zeichnete sich das 18. Jahrhundert in England – dem Geburtsland der Gothic-Novel – nicht nur durch eine uneingeschränkte Verehrung des Mittelalters aus. Das Bewußtsein, seine Umgebung durch den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt beherrschbar gemacht zu haben, fand sich in Architektur und Kunst wieder. Der Baustil des Palladianimus, der von Lord Burlington und William Kent propagiert wurde, zeichnete sich durch Klarheit und Strenge der architektonischen Gliederung sowie durch Anlehnung an antike, insbesondere römische Architektur aus.12 Seinen Namen erhielt er vom italienischen Renaissance-Architekten Andrea Palladio (1508-1580). Die Besinnung auf ‚reine’ antike Ideale wurde schließlich im Greek-Revival, das während der Regency Period (1810-1820) seinen Höhepunkt erlebte,13 weitergeführt (Abb. 91). Die

9 Vgl. Gombrich, E.H., Geschichte der Kunst, Frankfurt am Main, 1997, „Das Wort „gotisch“ wurde von den italienischen Kunstschriftstellern der Renaissance geprägt, um einen Stil zu bezeichnen, den sie für barbarisch hielten und von dem sie glaubten, daß Italien ihn den Goten verdanke, die der römischen Herrschaft ein Ende gesetzt hatten. Das Wort „Manierismus“ hat auch heute noch einen Unterton von Affektion und seichter Nachahmung, ein Vorwurf, den die Kunstschriftsteller des siebzehnten Jahrhunderts gegen die Künstler des späten sechzehnten erhoben hatten. Das Wort „barock“ schließlich war ein Ausdruck, den die Kritiker einer späteren Kunstepoche im Kampf gegen bestimmte Tendenzen des siebzehnten Jahrhunderts verwendeten, die sie lächerlich machen wollten. Barock bedeutet eigentlich absurd oder grotesk“, 387, ebenso Freud, Sigmund, in Ders: „Das Unheimliche“, Werke aus den Jahren 1917-1920, Gesammelte Werke, Vol. XII, Frankfurt am Main, 1966, 217-256 „Die Barbaren, nachdem sie ihrerseits ihre Macht befestigten, führten einen gewissen verkehrten Geschmack ein, den man den gotischen nennt, und der auf Fratzen auslief“, 254

10 vgl.Gombrich, E.H., „Norm und Form, Die Stilkategorien der Kunstgeschichte und ihr Ursprung in den Ideen der Renaissance“, in Henrich, Dieter; Iser, Wolfgang (eds.), Theorien der Kunst, Frankfurt am Main, 1993, „Das Wort >gotisch< hatte einst denselben Nebensinn von barbarisch roher Fühllosigkeit gegenüber dem Schönen wie unser Wort >Vandalismus<. Für >barock< bezeichnet das Pocket Oxford Dictionary noch 1934 als Hauptbedeutung >grotesk, schrullig<“, 148

11 zur detaillierteren Behandlung der Gotik vgl. besonders Male, Émile, Die Gotik, Stuttgart, 1986

12 vgl. Gombrich, Die Geschichte der Kunst, Frankfurt am Main, 1997, 460

13 Ebd., 477, ebenso gab es in Frankreich Ende des 18. Jahrhunderts eine Gruppe ehemaliger David-Schüler, die sich ‚primitifs’ nannte und durch die geistige Rückkehr zur griechischen Antike glaubten, sich einer Zeit anzunähern, „[...] die noch nicht durch Zivilisation verdorben“ war, es näherte sich der Kulturpessimismus nicht

nüchternen Fassaden des Palladianismus und der ionische Stil des Dorset-House (Abb. 91) zeigen eine Nüchternheit, die dem naturwissenschaftlichen Blick entspricht und mit gotischen Schnörkeln wenig gemein hat. Die Beherrschung der Natur durch den Menschen wurde auch von Malern wie z.B. Joseph Wright of Derby dargestellt. Auf Das Experiment mit der Luftpumpe von 1769 sehen wir einen Wissenschaftler, der in einem Glasbehälter, in dem sich ein Vogel befindet, ein Vakuum erschafft (Abb. 93). Der Vogel, durch den Mangel an Sauerstoff bereits erschlafft und dem Tode nahe, wird durch den erneuten Zufluß von Sauerstoff im nächsten Moment wieder zum Leben erweckt werden. Durch die Macht über das Vakuum erlangt der Experimentator – ähnlich einem Erlöser – scheinbar auch die Macht über den Tod. Die Macht, die vorher nur ein Gott hatte, geht durch die Kenntnis der Naturwissenschaften auch auf den Menschen über. Diese religiöse Komponente innerhalb der Komposition des Bildes erläutert Busch:

Gottähnlich wird der Experimentator im nächsten Augenblick das Ventil am oberen Ende des Glasbehälters betätigen und dem Haubenkakadu den Odem des Lebens einhauchen, ihn zu neuem Leben erwecken. Nicht anders, nämlich durch einen Fingerzeig, animiert Gott Adam auf Michelangelos Fresko in der Sixtina. Wird der im Animationsprozeß begriffene Experimentator mit Gottvater gleichgesetzt, so fällt die Annahme einer Verbindung zwischen dem weißen Kakadu und der Taube des heiligen Geistes nicht schwer.14

Zudem wird durch das Vakuum ein Zustand erzeugt, der als das Nichts interpretiert werden kann, also in seiner Beschaffenheit den Urzustand des Universums vor der Schöpfung nochmals eintreten läßt. Auch dadurch wird der Wissenschaftler zum Schöpfergott. In Die Schmiede von 1771 zitiert Joseph Wright die Geburt Christi (Abb. 94). Bei der Betrachtung des Bildes fällt sofort das weißglühende Stück Eisen auf, das auf dem Amboß bearbeitet wird.

Dieses lenkt nicht nur durch seine Helligkeit und seine mittige Position im unteren Drittel des Bildes die Aufmerksamkeit auf sich, sondern auch durch die Tatsache, daß sich fast alle Blicke der Bildprotagonisten auf dieses Stück Eisen richten. Es wird kein Stilleben und keine zeitgenössische Berühmtheit wie z.B. ein Fürst dargestellt, sondern ein glühendes Stück Metall als Synonym für die Beherrschbarkeit der Natur durch den Menschen. „Die ganze Anordnung ähnelt einer Anbetungsszene, bei der an die Stelle des aus sich heraus leuchtenden Christuskindes das weißglühende Stück Eisen getreten ist“, kommentiert Busch.15 Die

vom Mittelalter, sondern von der Antike, vgl. dazu Friedlaender, Walter, Hauptströmungen der französischen Malerei von David bis Delacroix, Köln, 1996, 61-65

14 Busch, Werner in Beck, Herbert; Bol, Peter, C.; Bückling, Maraike (eds.), Mehr Licht. Europa um 1770. Die bildende Kunst der Aufklärung. München, 1999, 73

15 Ebd., 79

konkretisierte Naturbeherrschung ist nicht nur ‚Hauptperson’ des Bildes, sondern Heilsbringer eines neuen Zeitalters. So wie mit der Geburt Christi der Alte Bund durch den Neuen Bund abgelöst wurde, erfolgt durch den ‚neuen Bund’ der Naturwissenschaft die Ablösung des – scheinbar überflüssig gewordenen – religiösen Glaubens.

In der christlichen Tradition der Anbetungsszene verweist der verfallene Stall, ebenfalls kirchlichen Ursprungs, im Sinn der Typologie auf den Alten Bund: auf den Trümmern des mosaischen Tempels gründet die neue Kirche des christlichen Heils. Überträgt man diesen Gedanken auf Wrights Bild, so scheint es aussagen zu wollen, auf den Trümmern der christlichen Kirche gründet der wissenschaftlich-technische Fortschritt der Gegenwart. Das glühende Stück Eisen verkörpert die menschliche Macht der Materieverwandlung.16

Die Faszination der Technik finden wir ebenso in Matrix, wo die ‚stylische’ Welt des Cyberspace (Abb. 84) ebenfalls sehr viel faszinierender erscheint als die kargen Steinkavernen von Zion (Abb. 16). Dennoch sehnen sich die Rebellen nach der

‚authentischen’ Ursprünglichkeit der ‚wahren Realität’ zurück. Aus der gleichen Geisteshaltung entstand in England das Gothic Revival. Fortschrittspessimisten sahen in der Technisierung der Welt und dem Triumph der Naturwissenschaften die drohende Auflösung alles Spirituellen und Geheimnisvollen. Davon soll im folgenden die Rede sein.

3.3. Strawberry Hill als künstliches Konstrukt von