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Die Relativität des Realen

3. Gothic – Innen- und Außenwelten:

3.5. Was Neo kann, das kannst Du auch! – Der Messias im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: 192

3.5.1. Rebellion gegen das System:

Wie ich dargestellt habe, definierte sich die Gothic Novel u.a. als Rebellion gegen das funktionalisierte Zeitalter der Aufklärung und der industriellen Revolution, wobei sie sich

217 Die freudianische Analyse dazu in Kap. 3.6

218 Ebd., 175

219 Foster, Allan, Dean, “Die Rache der Unterdrückten, Teil 10“, Das Geheimnis der Matrix, München, 2003, 180

220 vgl. Zizek, Slavoj, “Crucial for the function of THIS One is his virtualization of reality: reality is an artifical construct whose rules can be suspended or last rewritten – therein resides the properly paranoiac notion that the One can suspend the resistance of the Real”, In: Ders. „The Matrix, or the two sides of perversion“, Inside the Matrix – International Symposium at the Center for Art and Media, Karlsruhe, October 28, 1999, veröffentlicht unter www.container.zkm.de/netcondition/matrix/zizek.html

selbstverständlich der Errungenschaften dieser Zeitalter bediente. So spielt Bram Stokers Dracula221 zum größten Teil in London und nicht in der transilvanischen Berglandschaft und auch die Helden der Matrix wirken dann am ‚coolsten’, wenn sie ihrer Fähigkeiten innerhalb der Simulation anwenden und sich nicht auf ihren ungemütlichen Rebellenschiffen aufhalten.

Die Rebellion gegen ein System findet in der Geistesgeschichte z.B. beim Sturz Luzifers gegen Gott statt, ebenso beim Aufstand des Prometheus gegen Zeus.222 Beide Rebellionen wurden in der Romantik wiederentdeckt und mit deutlicher Sympathie für die Rebellen adaptiert. So ist John Miltons Satan in Paradise Lost ein Wesen, das von Gott in die Hölle verstoßen wurde und darauf sinnt, den Himmel zurückzuerobern und die Menschen zu befreien;223 ähnlich den Rebellen in Matrix, wobei hier aber die Zion-Wirklichkeit im Vergleich zur Matrix wenig himmlisch erscheint. Zu Beginn des Epos erwähnt Milton die Vertreibung der Menschen aus dem Paradies:

Of Man’s first disobedience and the fruit Of that forbidden tree whose mortal taste Brought death into the world and all our woe, With loss of Eden, till one greater Man Restore us and regain that blissful seat […]224

Hierbei wird nicht nur Bezug auf die Szene aus dem Alten Testament genommen,225 sowie zugleich mit „one greater Man“ ein möglicher Erlöser angekündigt, wobei man im Unklaren gelassen wird, ob es sich dabei um Jesus oder um Satan handeln soll. Gemäß dem Byronschen Motto „The tree of knowledge is not that of life“226 führt zu viel Wissen immer zu einer

221 London, 1994

222 vgl. Aischylos, Kraus, Walter (ed.), Der gefesselte Prometheus, Stuttgart, 1998, sowie die kommentierte Version von Browning, Elizabeth (ed.), Prometheus Bound by Aischylos, London, 1992

223 Milton, John, Paradise Lost, London, 1996, 5ff, Praz sieht bei Milton die Entstehung des Werkes Paradise Lost als Reaktion auf das Scheitern von Miltons Traum vom Commonwealth begründet; ähnlich wie bei Platon und Dante wurde auch dieses Werk als Sublimierung für fehlenden politischen Einflusses geschrieben, in Praz, Mario, Liebe, Tod und Teufel – Die schwarze Romantik, München, 1994, 70, vgl. zu Miltons ‚Gothicism’ sein Gedicht Il Penseroso, zitiert nach Clark, The Gothic Revival, London, 1995, 28-29:

‚But let my due feet never fail, To walk the studious Cloisters pale, And love the high-embowed Roof, With antick Pillars massy proof, And storied Windows richly dight, Casting a dimm religious light.’

224 Milton, John, Paradise Lost, London, 1996, 6

225 vgl. Mose, 3, 6-7

226 Byron, Lord, „Manfed“, Act I, Scene I, in Wu, Duncan (ed.), Romanticism, London, 1999,

„But grief should be the insructor of the wise- Sorrow is knowledge; they who know the most Must mourn the deepest o’er the fatal truth:

The tree of knowledge is not that of life.”, 718

Vertreibung aus einem Paradies. In Matrix geschieht dies in zwei Fällen: Durch die frankensteinsche Hybris, Maschinen mit künstlicher Intelligenz zu erschaffen, werden die Menschen schließlich aus ihrem Paradies vertrieben und die Welt wird von Maschinen beherrscht. Ebenso sehen allerdings auch einige Ex-Bewohner der Matrix, wie Cypher, das Ausloggen aus der Matrix als eine weitere Vertreibung aus dem Paradies. „Ignorance is bliss“227 sagt Cypher zu Agent Smith und möchte alles vergessen, unbedingt wieder in die Matrix eintreten und nichts mehr von Zion und Revolutionen wissen. Ähnlich wie Judas ist er bereit, den Erlöser dafür zu verraten.228 Erkenntnistheoretisch gesehen verhält er sich rational – welchen Unterschied macht es schon, ob seine Wahrnehmung ihn in der Wirklichkeit oder in der Simulation täuscht – zudem es in der Simulation wohlschmeckende Steaks gibt, auch wenn diese nicht wirklich existieren.229 Was natürlich für jeden halbwegs mitdenkenden Menschen die Frage aufwirft, ob nicht der gesamte Prozeß des Ausloggens und die Realität von Zion nicht auch von den Maschinen simuliert ist. Was die Rebellion angeht, können sowohl Morpheus als auch Neo als eine späte Version des Prometheus gesehen werden.

Prometheus, Bruder des Titanen Atlas, brachte den Menschen gegen den Willen Zeus das Feuer, wofür er von Zeus an eine Säule gefesselt wurde, an der zudem ständig ein Adler einen Teil von Promoetheus Leber fraß, bis er schließlich von Herakles befreit wurde. Nach der erstmaligen Bühnenfassung in der Tragödie „Der gefesselte Prometheus“ von Aischylos (465 v.Chr.) wurde dieser Stoff besonders in der Romantik wiederentdeckt. So schrieb z.B. Percy Shelley das Stück „Prometheus Unbound“ als Befreiung des gefesselten Prometheus:

PROMETHEUS Monarch of Gods and Demons, and all spirits, But One, who throng those bright and rolling worlds

Which thou and I alone of living things Behold with sleepless eyes! Regard this earth Made multitudinous with thy slaves, whom thou Requitest for knee-worship, prayer and praise, And toil, and hecatombs of broken hearts […]230

227 „Shooting Script“, New York, 2002, 331

228 vgl. Johannes, 18, 2ff.

229 „Shooting Script“, New York, 2002, 331

230 Shelley, Percy, „Prometheus Unbound“,Wu, Duncan (ed.), Romanticism, London, 1999, 867, vgl. ebenfalls Goethe, Johann, Wolfgang, “Prometheus”, in Trunz, Erich (ed.), Werke, Vol. I, Frankfurt am Main, 1998, 44-46

[...]

Ich kenne nichts Ärmer’s Unter der Sonn’ als euch Götter.

Ihr nährt kümmerlich

Von Opfersteuern

Und Gebetshauch

Eure Majestät

Morpheus bringt den Menschen das Feuer der Erkenntnis und wird zur Strafe von den Göttern, bzw. den Agenten der Maschinen, gefangengenommen. Schließlich durchbricht er seine Ketten und wird von Herakles in Form von Neo mit dem Hubschrauber befreit. (Abb.

110 und 174).231 In Matrix hinkt dieses Befreiungsideal allerdings ein wenig, denn die Welt von Zion und die verdunkelte Erde können wohl kaum eine Alternative zu den Bequemlichkeiten der Matrix sein. Der Wunsch nach Befreiung ist also mehr ideologischer Doktrin als praktischem Denken entsprungen – so als würde ein Patient beim Zahnarzt auf die Spritze verzichten, weil das Betäuben von Schmerz ja eine nicht reale Empfindung sei, mithin der Naturzustand die Empfindung von Schmerz.

Und darbtet, wären

Nicht Kinder und Bettler

Hoffnungsvolle Toren.

[...]

Ich dich ehren? Wofür?

Hast du die Schmerzen gelindert

Je des Beladenen?

Hast du die Tränen gestillet

Je des Geängsteten?

Hat nicht mich zum Manne geschmiedet

Die allmächtige Zeit

Und das ewige Schicksal,

Meine Herrn und deine?

[...]

Hier sitz ich, forme Menschen,

Nach meinem Bilde,

Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, weinen,

Genießen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich.

231 “Shooting Script”, New York, 2002, 375,

Slowly, Morpheus lifts his face into the room’s rain. When he finally opens his eyes, they are again dark and flashing with fire.

He rises from the chair, snapping his handcuffs just as the Agents enter the adjoining room.

Agent Smith stops and sees Morpheus run past the open door.