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Die Relativität des Realen

2. Not what you see – Die Relativität des Realen:

2.8. Nicht Sehen und gesehen werden:

2.8.3. Édouard Manet: Un bar aux Folies-Bergère, 1881 :

konkretisiert, dadurch aber auch der Bildwelt entrückt wird, bei Manet ist es das Doppelgesicht der Bardame, die einerseits im Spiegel einen Kunden bedient, in der Frontalansicht aber anscheinend ihre Position oder ihre Stellung kritisch reflektiert:

Die Rückenfigur ist nicht einfach die Spiegelung der Frontalfigur: Sie mutet nach recht versetzt an, widerspricht also den Gesetzen der Optik. Auch ohne ihre Gesichtszüge zu kennen, erraten wir aus Haltung und Zuwendung des Körpers, daß sie sich mit einem Kunden beschäftigt, also das tut, wofür sie bezahlt wird. Die Frontalfigur tut nichts dergleichen [...] Die Rückenfigur zeigt das Mädchen bei der Ausübung seiner Rolle, die frontale Gestalt stellt das Nachdenken über die Rolle, den Rückzug in die Selbstbefragung dar. Hier wird der innere permanente Zustand zur regungslosen Ikone erhöht (aber nicht stilisiert!), dort der Ausschnitt einer Episode skizziert, die flüchtige Abwechslung, ein Gespräch oder einen Flirt verspricht.314

Bei beiden Werken handelt es sich zudem um „transitive Kunstwerke“,315 die sich erst im Raum des Betrachters vervollständigen, der Betrachter blickt bei beiden Werken in Augen die sehen, was ihm (dem Betrachter) verborgen bleibt. Dennoch sind auch die Unterschiede zu beachten: Bei Velázquez finden wir die typischen Instrumente der Repräsentation vor:

Modell, Betrachter, Bild, Spiegel sowie den Maler mit Leinwand und Farbpalette. Bei Manet hingegen finden wir nur den Spiegel. Ebenso ist bei Velázquez der Spiegel auf der hinteren Wand nur ein „Bild“ von vielen, während er bei Manet nahezu die gesamte Leinwand einnimmt.316 Stärker als bei Velázquez werden durch die Größe des Spiegels Bild und Raum entgrenzt und fließen ineinander. „Auf diese Weise vollzieht Un bar aux Folies-Bergères den Übergang vom Rahmen als Paradigma der Totalität zum Bildfeld als Paradigma einer offenen

314 Hoffmann, Werner, Die Moderne im Rückspiegel, München, 1998, 189, vgl. zur Doppeldeutigkeit von Manet ebenfalls Krell, Allan, „His particular brand of realism was never a simple reflection of the world around him […] the subjects are both immediately familiar yet disturbingly distant: the perspective is wrong; faces are unsmiling when the opposite might be expected; celebration is turned into subtle criticism.”, Manet and the Painters of Contemporary Life, London, 1996, 200, vgl. ebenfalls Feist, Peter, H., der zwar nicht auf die Erweiterung des Bildes in den Zuschauerraum eingeht, wohl aber die Inszenierung der Bardame als Ware interpretiert, “Die Farben sind zwar etwas stumpf, was vielleicht auch auf die verrauchte, etwas morbide Atmosphäre des Vergnügungspalastes Bezug nimmt, aber Manet prunkt andererseits im Vordergrund mit seiner Befähigung für Stilleben. [...] Der Rücken des Mädchens und der ihr gegenüberstehende Kunde, in dem sich auch der Betrachter des Bildes gleichsam wiederfinden muß, ist im Spiegelbild zur Seite geschoben. Das Barmädchen, dessen geschnürte Taille verzeichnet scheint und das mit seinem blumengeschmückten tiefen Dekolleté ebenso als eine zu Konsum verlockende Ware ausgestellt ist wie die Flaschen und Früchte vor ihr [...].

Manet hielt das Beobachtete – und Überdachte – mit Ungerührtheit (als künstlerische Methode, nicht als menschliche Haltung) und ohne anklagenden Gestus fest.“, in Walther, Ingo, F. (ed), Impressionismus, Vol.I, Köln, 1996, 235

315 „Lüthy, Michael, Bild und Blick in Manets Malerei, Berliner Schriften zur Kunst, Vol. XVII, Berlin, 2000, 189

316 zudem ist dies das erste Bild Manets, in dem der Spiegel als Stilmittel eingesetzt wird, vgl. Cachin, Françoise;

Moffett, Charles, S.„C’est la première fois dans son œuvre que Manet utilise l’effet de miroir, si plausible dans un portrait […] mais au contraire du procède traditionelle, Manet n’utilise pas le possibilitès qu’il donne, d’offrir plusieurs angles d u même modèle. Chez lui, le miroir prend son autonomie.“, Manet 1832-1883, Galeries nationales du Grand Palais, Paris, Metropolitan Museum of Art, New York, Paris, 1983, 481

und unbegrenzten Struktur.“317 Das Parergon (der Rahmen) tritt zum Ergon (dem Werk) hinzu, „[...] ist sowohl außerhalb wie innerhalb seiner, indem es die Bedingungen markiert, unter denen das Werk möglich ist.“318 Indem der Rahmen das Werk einnimmt und das Werk in die Wirklichkeit öffnet, wirkt es ein wenig wie eine Großbildleinwand im Kino oder auch wie die Projektionsfläche in Platons Höhlengleichnis, auf die die Schatten der Illusion projiziert werden. Im Gegensatz zu Velázquez verdrängt der Spiegel hier alle anderen Bilder319 und zwingt seine verdoppelte Realität, die er abbildet, dem gesamten Ergon auf.

Nicht nur der Betrachter, auch der Künstler, der noch auf Las Meninas mit den Werkzeugen der Repräsentation zu sehen war, ist verschwunden und tritt neben oder hinter sein Werk zurück.320 Bei Velázquez wird die reale Anwesenheit des Betrachters vor dem Bild negiert, um ihn die reale, symbolische Ordnung schauen zu lassen, die an diesem Ort herrscht,321 nämlich die gleichzeitige An- und Abwesenheit des Souveräns; bei Manet erblickt der Betrachter zunächst den gewaltigen Spiegel im Raum, der auch sein eigener ist und er erblickt in der Figur, die zu der Frau spricht, sein alter ego, das im Leeren hängt. Im Gegensatz zum Doppelporträt der Monarchen könnte dieser Mann im Spiegel jeder sein, es ist der Mann auf der Straße, „The Man of the Crowd“, wie wir ihn bei Poe finden,322 Herr Müller, Herr Meier oder Mr. Smith – Agent Smith (Abb. 35), der ohne subjektive Identität überall auftaucht, aber eigentlich nirgends beheimatet ist. Ähnlich verhält es sich mit der Bardame: Sie wird nicht, wie die Figuren in Las Meninas vom Raum durchmessenden Blick des Souveräns umschlossen, sondern steht als Souverän ohne Königreich dar, als Subjekt ohne Bezug.323 Die Barfrau blickt den Betrachter an, scheint ihn jedoch nicht wirklich zu sehen und der Betrachter erblickt als einzigen Bezugspunkt ein Spiegelbild, das eigentlich gar nicht zu ihm gehört. Jeder blickt an einem möglichen Bezugspunkt vorbei, was dazu führt, „[...] daß die Relationen – zwischen Barfrau und Betrachter, zwischen Bild und Betrachter, zwischen Bild und Blick – sich der Fixierung entziehen, indem sie ambivalent und unbestimmbar bleiben.“324 In Las Meninas nimmt der Betrachter ebenfalls gewaltsam eine Position ein, die ihn von seiner eigenen Person entfremdet, nämlich die des Souveräns, doch wird ihm als

317 Lüthy, Michael, Bild und Blick in Manets Malerei, Berliner Schriften zur Kunst, Vol. XVII, Berlin, 2000, 202

318 Derrida, Jaques, Die Wahrheit in der Malerei, Wien, 1992, 74

319 Lüthy, Michael, Bild und Blick in Manets Malerei, Berliner Schriften zur Kunst, Vol. XVII, Berlin, 2000, 202

320 Ebd., 203, vgl. zum Verschwinden des Künstlers bzw. Autors in der späten Moderne besonders Barthes, Roland, „La mort de l’auteur“, Œuvres complètes. Vol. II, Paris, 1994, 191-195

321 Lüthy, Michael, Bild und Blick in Manets Malerei, Berliner Schriften zur Kunst, Vol. XVII, Berlin, 2000, 203

322 Poe, Edgar, Allan, „The Man of the Crowd“, in Galloway, David (ed.), The Fall of the House of Usher and Other Writings, London, 1986, 179-188, vgl. ebd. besonders, “’This old man’ I said at length, ‘is the type and the genius of deep crime. He refuses to be alone. He is the man of the crowd. It will be in vain to follow […]”, 188

323 vgl. Lüthy, Michael, Bild und Blick in Manets Malerei, Berliner Schriften zur Kunst, Vol. XVII, Berlin, 2000, 203

324 Ebd., 175

Entschädigung dafür auch von allen Seiten des Bildes Aufmerksamkeit zuteil. Der Betrachter von Un bar aux Folies-Bergères wird ebenfalls in diese Position gerückt, doch es ist am Ende eine leere Position, in der er nur auf einen Spiegel blickt und auf Augen, die irgend etwas anschauen, aber nicht ihn.

Un bar... offenbart [...] den leeren Platz, den das Subjekt in der Moderne einnimmt. Mit Las Meninas orientierte sich Manet an einem Bild (Las Meninas, VME), das in produktions- und rezeptionsästhetischer Perspektive das Subjekt im modernen Sinne nicht kannte, um es in eine Malerei zu transformieren, die das Subjekt verschwinden läßt. 325

Somit finden wir in diesem Bild bereits alle Aspekte des Spektakels des 20. Jahrhunderts, die Abschaffung eines Fixpunktes innerhalb eines Systems, dadurch bedingt die Herauslösung des Subjekts aus der Subjekt-Objekt Polarität, das Spiegelbild, dem im gleichen Winkel kein Betrachter auf der Betrachterseite entsprechen kann und die Unsichtbarkeit dessen, der die Illusion des Bildes erschaffen hat. Die Werkzeuge der Repräsentation, Pinsel und Leinwand, sind nicht mehr zu sehen. Der schauende Betrachter im Banne dessen, was er passiv betrachtet ohne seiner eigenen Position oder der des Erschaffers des Spektakels, des Malers oder der Simulation, gewahr zu sein – ähnlich den Menschen in der virtuellen Welt der Matrix, die weder wissen, wo sie sich in Wirklichkeit befinden noch wer ihnen diese simulierte Wirklichkeit präsentiert. Letztendlich ist das Werk auch eine Hommage an die Autonomie der Malerei. Der Betrachter, der sich wundert, weil sich im Spiegel alles anders spiegelt, als es in der Wirklichkeit sein sollte, mag sagen, „Das geht so aber nicht“. Manet zeigt aber, daß dies sehr wohl geht und führt dem Betrachter dessen eigene Vorhersehbarkeit des Sehens vor Augen. Wir behandeln die Illusion ebenso wie die Wirklichkeit und sind enttäuscht oder empört, wenn die Illusion sich anders als die Wirklichkeit verhält. Zu dieser Sehgewohnheit hält uns Manet wortwörtlich den Spiegel vor. Die Autonomie der Malerei vor der Wirklichkeit erlaubt es ihr immer, Dinge zu zeigen, die die Wirklichkeit nicht zeigen kann.