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Die Relativität des Realen

2. Not what you see – Die Relativität des Realen:

2.2. Die Ambivalenz von Realität:

2.2.4. Descartes – Das Denken als Existenzbeweis:

Ich weiß jetzt, daß die Körper nicht eigentlich von den Sinnen oder von der Einbildungskraft, sondern von dem Verstand allein wahrgenommen werden, und zwar nicht, weil wir sie berühren und sehen, sondern lediglich, weil wir sie denken; und so erkenne ich, daß ich nichts leichter oder evidenter wahrnehmen kann als meinen Geist.80

Kant sieht in seiner Schrift Träume eines Geisersehers die lokale Nähe des Gehirns zu Augen und Ohren als Grund, daß die Sinneseindrücke dieser beiden Organe sogleich vom Gehirn entwickelt werden, „Die Zeichen unserer Vorstellungen aber sind vernehmlich solche, die entweder durchs Gehör oder das Gesicht empfangen sind, welche beide Sinne durch die Eindrücke im Gehirne bewegt werden, indem ihre Organe auch diesem Teile am nächsten liegen.“81 Descartes ist ebenfalls der Ansicht, daß die Eindrücke der Sinne irgendwo interpretiert werden, und definiert die Zirbeldrüse in der Mitte des Gehirns als das Zentrum der Interpretation und Deutung von Erscheinungen: „[...] bin ich mir gewiß, erkannt zu haben, daß der Körperteil, über den die Seele ihre Funktion unmittelbar ausübt, keineswegs das Herz ist, noch auch das ganze Gehirn, sondern nur der innerste Teil von dessen Teilen, welches eine sehr kleine Drüse ist, die inmitten der Hirnsubstanz liegt.“82 Diese Erkenntnis der

80 Descartes, „Zweite Meditation“, Meditationen über die Erste Philosophie, Stuttgart, 2002, 97, diese Fragestellung wird zudem von Catherine Wilson sehr gut zusammengefaßt, „What can we come to know about the human mind and its powers? Is there a reality behind appearances and, if so, how can we have access to it?

Do our experiences arise from our bodies and our brains. or could we think, feel, and perceive without them?”, in Descartes Meditations, Cambridge, 2003, 1. Ich möchte nicht versäumen, darauf hinzuweisen, daß Descartes die Neuropsychologie auch heute noch beschäftigt. So deutet Antonio R. Damasio Descartes Definition des Geistes als „Software“, während das Gehirn die „Hardware“ darstellt, in Descartes Irrtum, Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München, 2001, 328, ausgehend von Descartes strikter Polarität zwischen Geist und Körper fragt er nach einer „[...] organischen Perspektive zum Verständnis des menschlichen Geistes“, ebd., 333.

Insgesamt wird Descartes vorgeworfen, daß „[...] Denken und das Bewußtsein vom Denken die eigentlichen Substrate des Seins sind.“, ebd., 329. Gehen wir davon aus, daß das Gehirn die Entwicklungskammer aller sinnlichen Eindrücke ist und diese nicht nur aufnimmt, sondern auch subjektiv interpretiert, stellt sich die Frage, was das Sein denn außerhalb des Bewußtseins und des Denkens bestimmen sollte, wo wir doch unseren Körper und die Umwelt auch nur über die Interpretation unseres Gehirn wahrnehmen?, vgl. zu dieser Thematik auch Lenk, Hans, „Insofern ist es unsinnig, einen absoluten Unterschied zwischen den Bereichen des Erkennens, des reinen Denkens, der res cogitans, einerseits und dem Handeln in der Welt, dem Verhalten, dem beobachtbaren Verhalten und dem körperlichen Geschehen andererseits zu konstatieren“, Kleine Philosophie des Gehirns, Darmstadt, 2001, 23

81 Kant, Immanuel, „Vorkritische Schriften“, Vol,I, Frankfurt am Main, 2004, 332

82 in Hammacher, Klaus (ed.), Die Leidensschaften der Seele, Hamburg, 1984, 53, vgl. die Definition der Zirbeldrüse in der Brockhaus Enzyklopädie, „Nervenzellen der Zirbeldrüse von Vögeln reagieren jedoch auf Veränderungen des Magnetfeldes mit einer Änderung ihrer Entladefrequenz; dies deutet darauf hin, daß die Zirbeldrüse ein Reizempfänger für Magnetfeldänderungen ist und vielleicht im Dienst der Orientierung nach dem Magnetfeld der Erde steht. [...] Darüber hinaus scheint die Zirbeldrüse eine zentrale Funktion für die Aufrechterhaltung der 24-Stunden Rhythmik (Schlaf-wach-Rhythmus) zu besitzen, wobei Melatonin das chemische Signal darstellt“, in Brockhaus – Die Enzyklopädie: in 24 Bänden, Leipzig – Mannheim, Online Version, www.brockhaus.de, bzw. die Inszenierung der Zirbeldrüse als Wahrnehmungsorgan des Unheimlichen in der Horrorliteratur, z.B. bei H.P. Lovecraft, „’What do we know’ he had said, ‘of the world and the universe about us ? Our means of receiving impressions are absurdly few, and our notions of surrounding objects infinitely narrow. We see things only as we are constructed to see them, and can gain no idea of their absolute nature. With five feeble senses we pretend to comprehend the boundlessly complex cosmos, yet other beings with a wider, stronger or different range of senses might not only see very differently the things we see, but might see and study whole worlds of matter, energy and life which lie close at hand yet can never be detected

subjektiven Interpretation bringt Descartes zu der Vermutung, daß die menschliche Erkenntnis auch nicht vor dem Betrug oder der Illusion sicher sein kann; Erkenntnis ist damit nichts weiter als Einbildung und daher auch Illusion. Ein listiger Geist, ein Demiurg oder die Computer der Matrix könnten uns ständig täuschen:

Ich will also annehmen, daß nicht der all gütige Gott, der die Quelle der Wahrheit ist, sondern ein ebenso böser wie mächtiger und listiger Geist all sein Bestreben darauf richtet, mich zu täuschen; ich will glauben, daß der Himmel, die Luft, die Erde, die Farben, die Gestalten, die Töne und alles außerhalb von uns nur das Spiel von Träumen sei, durch die er meiner Leichtgläubigkeit nachstellt.

Mich selbst will ich so ansehen, als hätte ich keine Hände, keine Augen, kein Fleisch, kein Blut noch irgendeinen Sinn, sondern daß ich mir dies bloß einbilde.83

Descartes befindet sich in seinen Meditationen in einem Zustand des Ungewissen, alles könnte Täuschung sein, und alles, was man jemals erlebt hat – vorausgesetzt man ist sich im Klaren darüber, daß alles Täuschung war – könnte niemals stattgefunden haben. „Ich nehme also an, alles, was ich wahrnehme, sei falsch; ich glaube, daß nichts von alledem jemals existiert habe, was mir mein trügerisches Gedächtnis vorführt. Ich habe überhaupt keine Sinne [...] Was soll da noch wahr sein? Vielleicht dies eine, daß es nichts Gewisses gibt.“84 Ähnlich fühlt sich auch Neo, der nach seiner Auferweckung aus der Matrix das erste Mal wieder durch die ihm bekannten Straßen der Illusion fährt: „I have these memories, from my entire life but ... none of them really happened.“85 Descartes stellt Gott (oder Satan oder den Demiurg) gar als einen Betrüger dar:

Aber es gibt irgendeinen sehr mächtigen, sehr schlauen Betrüger, der mit Absicht mich immer täuscht.

Zweifellos bin also auch Ich, wenn er mich täuscht; mag er mich nun täuschen, soviel er kann, so wird er doch nie bewirken können, daß ich nicht sei, solange ich denke, ich sei etwas.86

with the senses we have. I have always believed that such strange, inaccessible worlds exist at our very elbows, and now I believe I have found a way to break down the barriers.”, in Derleth, August (ed.), “From Beyond”, Lovecraft Omnibus 2, Dagon and Other Macabre Tales, London, 1994, 97

83 Descartes, „Erste Meditation“, Meditationen über die Erste Philosophie, Stuttgart, 2002, 73, vgl. dazu Wilson, Catherine, „The Mediator is here toying with a policy of Radical Mistrust, wondering whether to accept it or not.

[…] Radical mistrust is justified, all opinions about how things are that are based upon vision, touch, and the other sense modalities should not be assented to.”, in Descarte’s Meditations, Cambridge, 2003, 37

84 Descartes, „Zweite Meditation“, Mediationen über die Erste Philosophie, Stuttgart, 2002, 77

85 „Shooting Script“, New York, 2002, 335

86 Descartes, „Zweite Meditation“, Meditationen über die Erste Philosophie, 79, ; vgl. Wilson, Catherine Anmerkungen zum Traum als weitere Illusion der Erkenntnis, “[…] dream-objects and situations, however bizarre, are made up of combinations of well-known forms, and these well-known forms are themselves made up of simpler forms that really exist”, in Descartes Mediations, Cambridge, 2003, 39

Wohl um sich bei der katholischen Kirche nicht in Mißkredit zu bringen, relativiert Descartes diesen Standpunkt in der „Vierten Meditation“ wieder und argumentiert, ein wohlmeinender Gott würde dem Menschen niemals unzureichende Instrumente der Erkenntnis mitgeben: „Da nun aber Gott mich nicht täuschen will, wird er mir damit wahrlich ein Instrument gegeben haben, das mich bei richtigem Gebrauch niemals zu Irrtümern führen könnte.“87 So führt die Unsicherheit des Standpunktes Descartes schließlich zu seinem berühmten Cogito ergo sum, weil er sich nur dadurch, d.h. durch die Auslagerung eines rein objektiven Cogitos, das nicht getäuscht werden kann, als denkendes Wesen sicher ist zu existieren. Auch wenn alles um ihn herum Lug und Trug ist, ist dieses bewußte Denken Beweis seiner Existenz, denn wer denkt, muß auch existieren. Nicht mehr Gott ist Fixpunkt der Wahrheit, sondern einzig und allein die Tatsache, daß ICH es bin, der denkt, auch wenn alles, was ich denke Illusion ist. In Matrix allerdings haben die Maschinen das Denken zum Teil übernommen, es ist nicht mehr ganz klar, wer da überhaupt denkt. Das Ich, das letzte Signifikat im Dschungel der Signifikanten, existiert ebenfalls nicht mehr, sondern ist letztlich nur eine Konstruktion des Supercomputers. Was allerdings in Matrix stilistisch passiert, ist nicht nur eine Externalisierung der Täuschung aus dem konstruierenden Gehirn oder Bewußtsein heraus auf den Supercomputer der Maschinen, der die Illusion erschafft, sondern auch das Festsetzen eines cogito des Realen, das anscheinend keine Illusion mehr darstellt – die Welt von Zion. Kant wird uns jedoch zeigen, daß es so etwas nicht geben kann.88