• Keine Ergebnisse gefunden

Die Relativität des Realen

2. Not what you see – Die Relativität des Realen:

2.5. Die Dominanz des Gehirns – Erkenntnistheorie der Neurobiologie:

2.5.1. Bilder sehen, Bilder schaffen:

ähnlich wie er einen Ball, der nicht rund ist, nicht mehr als Ball wahrnehmen bzw. bezeichnen würde. Die Feststellung, daß die Realität immer unerfreulich ist, scheint ein pessimistisches Cogito darzustellen. Ob diese Vorstellung nun durch Erfahrung entstanden ist oder ob diese schon immer im Gehirn des Menschen enthalten war, läßt sich freilich nicht eindeutig definieren. Die Welt ist dennoch des Menschen Vorstellung, die Vorstellung davon ist schlecht und jede Welt, die uns vorgesetzt wird, muß daher auch schlecht sein, um unserer synthetischen Erkenntnis a priori zu entsprechen. Man sagt „zu schön, um wahr zu sein“ aber niemals „zu schlecht, um wahr zu sein“. Wie Freud schreibt: „[...] die Absicht, daß der Mensch ‚glücklich’ sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten.“164 Nur ein böser Traum ist ein realer Traum und die schlechte Welt ist für uns die wahre Welt – ob in der Wirklichkeit oder in der Simulation.

2.5. Die Dominanz des Gehirns – Erkenntnistheorie der

Gemäß Gerhard Roth besteht das Gehirn aus schätzungsweise 100-500 Milliarden Nervenzellen, wovon allein das Kleinhirn dreißig Milliarden Nervenzellen beinhalten soll.168 Diese Nervenzellen decken folgende Bereiche ab:

-Körper, Stoffwechsel, Kreislauf169 -Wahrnehmung170

-Motorisches System171

-Kognitive Leistungen (Erinnerung, Handlungsplanungen, Sprache)172 -Limbisches System, emotionale Bewertung der Folge unseres Handelns173

„Gleichzeitig entwickelt das Gehirn über das limbische System bewußt oder unbewußt Erwartungen, Wünsche und Absichten, die unser Verhalten von innen heraus steuern. Diese innengesteuerten Handlungen sind sogar viel bedeutender als die durch Wahrnehmungen geleiteten Handlungen.“174 Infolge dieser Wahrnehmungen, kommen sie nun von innen oder von außen, ergeben sich Erregungen des Nervensystem, wobei es sich um Aktionspotentiale handelt, die Roth folgendermaßen erklärt:

Grundlage der Erregungsverarbeitung im Nervensystem (einschließlich des Gehirns) ist die Tatsache, daß die Haut (Membran), die die Nervenzellen und ihre Fortsätze umgibt, elektrisch aufgeladen ist.

Durch Messungen stellen wir fest, daß das Zellinnere gegenüber der Umgebung eine negative Spannung von rund 70 Millivolt aufweist. Die Membran kann sich nun kurzfristig entladen und dadurch elektrische Impulse erzeugen, die über die Oberfläche der Nervenzelle zum Ursprungsort des Axons und über das Axon zu anderen Zellen weiterlaufen. Diese Impulse nennt man Aktionspotentiale.175 (Abb. 44)

Nun haben wir bei Kant bereits erfahren, daß die Wirklichkeit, so wie wir sie sehen, nicht der Realität, also dem Ding an sich, entspricht. Ebenso, daß unsere Sinnesorgane nicht urteilen, sondern die gelieferten Impulse vom Verstand interpretiert werden. Diese Ansicht ist nicht neu und wurde u.a. von Henri Bergson weiterentwickelt.176 Nach medizinischen

168 Roth, Gerhard, Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt am Main, 2003, 12

169 Ebd., 25

170 Ebd., vgl. zur Kategorisierung von visueller Wahrnehmung ebenfalls Arnheim, Rudolf, „Visuelle Gestaltwahrnehmung beruht auf Ähnlichkeit von a) Größe, b) Form, c) Position, d) Richtung, e) Helligkeit und Farbe“, in: Ders., „Gestaltpychologie und künstlerische Form“, In Dieter Henrich und Wolfgang Iser (edd.), Theorien der Kunst, Frankfurt am Main, 1993, 137

171 Ebd., 27

172 Ebd.

173 Ebd., 28

174 Ebd., 29, es entsteht somit zunächst einmal der Eindruck, daß Gehirn würde sich mehr mit sich selbst als mit der Außenwelt befassen.

175 Ebd., 14

176 Bergson, Henri, „Die ganze Schwierigkeit des Problems mit dem wir uns beschäftigen, rührt daher, daß man sich die Wahrnehmung als eine Art photographischer Ansicht der Dinge vorstellt, welche von einem bestimmten

Erkenntnissen interpretiert die Entwicklungskammer des Verstandes aber nicht nur diese Bilder, sie fügt bei Bedarf auch eigene Bilder hinzu, die in der Wirklichkeit in dieser Form gar nicht existieren. So nennt Roth als Beispiel den Moment, in dem unsere Augen von einem Gegenstand zum anderen springen, und wir die Welt dennoch nicht verwischt erleben, obwohl wir dies eigentlich müßten. Da wir die verwischte Welt, die die Wirklichkeit darstellen würde, nicht sehen, müßten wir in diesem Moment blind sein, sind es aber nicht:

Unser Bewußtsein füllt diese winzige zeitliche Lücke zwischen den stabilen Blicken aus, und zwar offenbar so, daß das bisher Gesehene in diese Lücke hinein verlängert wird. Zeit ist eben auch ein Konstrukt des Gehirns.177

Was die Akzeptanz dieser subjektiven Sicht angeht, reagieren die Menschen darauf unterschiedlich. Wohingegen sicherlich viele Personen mit der oben gezeigten Untersuchung des eingefügten Bildes Schwierigkeiten hätten und argumentieren würden, sie sähen alles so wie es sei, würde dennoch niemand sagen, daß Dinge z.B. bei Dunkelheit tatsächlich ihre Farbe verlieren, also ein roter Apfel bei Nacht grau sei und am Tag wieder rot. In diesem Falle sind wir gerne bereit, diese Eigenschaft unserem Sehsystem bzw. Verstand zuzuschreiben, da die Dinge ja nun einmal bei Dunkelheit anders aussehen bzw. gesehen werden.178 Ebenso folgert auch Hans Lenk, „[...] daß Sehen nicht etwa ein Abbilden von äußeren Strukturen, sondern ein kompliziertes Verarbeitungsprodukt und eine konstruktive Leistung ist“,179 ein Teil der wahrgenommenen Realität wird förmlich von uns selbst nicht nur interpretiert, sondern auch konstruiert. Wolf Singer spricht in dieser Hinsicht von einer Phenomenal Awareness, es gibt im Gehirn kognitive Strukturen, „[...] welche die Repräsentation des Draußen noch einmal reflektieren, noch einmal auf die gleiche Weise verarbeiten wie die peripheren Areale die sensorischen Signale aus der Umwelt und dem

Punkt mit einem besonderen Apparat – unserem Wahrnehmungsorgan – aufgenommen wird, um alsdann in der Gehirnsubstanz durch einen unbekannten chemischen und psychischen Vorgang entwickelt zu werden. Aber warum will man nicht sehen, daß die Photographie, wenn es überhaupt eine Photographie ist, von allen Punkten des Raumes aus im Innern der Dinge schon angekommen und schon entwickelt ist?“, in “Materie und Gedächtnis” in Kunstforum 127, Konstruktionen des Erinnerns, Juli-September 1994, Ruppichteroth 1994, 32

177 Roth, Gerhard, Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt am Main, 2003, 44

178 Ebd., „Niemand wird annehmen, daß bei Dunkelheit die Dinge tatsächlich ihre Farben verlieren, vielmehr gehen wir davon aus, daß der Verlust der Farbigkeit der Welt bei Dunkelheit mit Eigenschaften unseres Sehsystems zusammenhängt..“, 68, vgl. ebenfalls Roth zum Phänomen des Gegenbildes und Nachbildes, „Unser visuelles System konstruiert in beiden Fällen etwas, das gar nicht vorhanden ist. Deshalb können Farbwahrnehmung und Bewegungswahrnehmung wie viele andere Wahrnehmungsinhalte keine Kopien realer Gegebenheiten sein.“, ebd., 71

179 Lenk, Hans, Kleine Philosophie des Gehirns, Darmstadt, 2001, 13, auch „Sehen ist Konstruktion, ist kein Abbilden, kein Nachmalen, sondern aktive Konstruktion – man könnte sagen: eine konstruktive oder interpretatorische Aktivität“, ebd.

Körper.“180 Es wird also die Erscheinung mit der Erfahrung abgeglichen, die Hypothesen innerhalb des Gehirn darüber, wie die Welt sein sollte mit der Erkenntnis, wie die Welt, gemäß subjektiver Betrachtung, ist.181 Allerdings ist das Gehirn auch hierbei geneigt, die Betrachtung der Welt mehr gemäß der eigenen Erfahrung auszurichten als an der tatsächlichen, aktuellen Erscheinung. „Meist nehmen wir ohnehin nur wahr, was wir ohnehin erwarten, und oft vereiteln auffällige, aber möglicherweise unbedeutende Reize die Wahrnehmung der leisen, aber vielleicht viel wichtigeren Vorgänge.“182 Edgar Allan Poe, einer der besten Beobachter der menschlichen Psyche, hat dies bereits erkannt, denn auf diese Tatsache geht bereits Poes Meisterdetektiv Auguste Dupin in „The Purloined Letter“ ein:

There is a game of puzzles,’, he resumed, ‘which is played upon a map. One party requires another to find a given word – the name of town, river, state or empire – any word, in short, upon the motley and perplexed surface of the chart. A novice in the game generally seeks to embarrass his opponents by giving them the most minutely lettered name; but the adept selects such words as stretch, in large characters, from one end of the chart to the other […] and here the physical oversight is precisely analogous with the moral inapprehension by which the intellect suffers to pass unnoticed those considerations which are too obtrusively and too palpably self-evident.”183

Ein interessantes Phänomen der Wahrnehmung ist das Déjà Vu, bei dem der Betrachter glaubt, er hätte etwas in gleicher Konstellation schon einmal gesehen. Neo widerfährt dies in Matrix 1, als er zweimal hintereinander eine schwarze Katze sieht. Trinity belehrt ihn, daß dies passiere, wenn die Maschinen in der Matrix etwas änderten:

NEO

[...] Just had a little déjà vu.

TRINITY

What happened? What did you see?

180 Singer, Wolf, Der Beobachter im Gehirn, Essays zur Hirnforschung, Frankfurt am Main, 2002, 70

181 Ebd., „Daß Wahrnehmung nicht als passive Abbildung von Wirklichkeit verstanden werden darf, sondern als das Ergebnis eines außerordentlich aktiven, konstruktivistischen Prozesses gesehen werden muß, bei dem das Gehirn die Initiative hat. Das Gehirn bildet ständig Hypothesen darüber, wie die Welt sein sollte, und vergleicht die Signale von den Sinnesorganen mit diesen Hypothesen.“, 72, ebenso weist Singer darauf hin, daß es im Gehirn, anders als in technischen Systemen, keine Trennung zwischen Hard- und Software gibt, somit also ein cartesianisches Cogito, welches CPU-ähnlich über dem ganzen Bewußtseinsapparat thront, nach medizinischen Erkenntnissen nicht möglich ist, was uns wieder einmal eines festen Bezugspunktes beraubt, ebd., 64

182 Ebd., 80

183 Galloway, David (ed.), The Fall of the House of Usher and other Writings, London, 1986, 345

NEO

A black cat went past us and then I saw another that looked just like it. […]

TRINITY

A déjà vu is usually a glitch in the Matrix. It happens when they change something.184

Eine wissenschaftliche Erklärung dazu liefert uns Roth: bei geringem Blutzuckerspiegel spielt das Vertrautheitsgedächtnis verrückt und gibt eine Fehlmeldung, die es normalerweise nur geben würde, wenn der Gegenstand der Erscheinung tatsächlich vertraut wäre.185 Überspitzt könnte man sagen, daß nicht die Tatsache, daß wir etwas schon einmal in der Wirklichkeit gesehen haben, darüber entscheidet, ob uns etwas bekannt vorkommt, sondern lediglich der Blutzuckerspiegel im Gehirn! Diese Selbstbeschäftigung des Gehirns mit seinen eigenen Erfahrungen bedingt allerdings auch ein Phänomen, das Computer und Maschinen (noch) nicht aufweisen können: Bewußtsein. Gemäß Roth schätzt man die Kommunikation des Cortex mit sich selber als 100.000 mal so stark ein wie die Kommunikation des Cortex mit dem, was außerhalb der Großhirnrinde sonst noch passiert.186 „Angesichts dieser Tatsache dürfte es uns nicht mehr wundern, daß in diesem Teil des Gehirns besonders merkwürdige Dinge ablaufen, z.B. das Entstehen von Bewußtsein.“187 Singer argumentiert, daß die Entwicklung von Bewußtsein und Selbstbewußtsein u.a. dadurch entsteht, daß einem Kind während der Erziehung von den Eltern gesagt wird, was es zu tun und was es zu lassen habe.

Somit glaubt das Kind, es wäre frei, auch Dinge nicht zu tun und nicht zu lassen; der Appellcharakter der elterlichen Aufforderungen erst suggerieren dem Kind , daß es Herr über seine eigenen Entscheidungen sei.188 Wobei der Glaube, frei zu sein und die tatsächliche Existenz von Freiheit selbstverständlich zwei verschiedene Aspekte sind. Es soll in dieser Arbeit kein Dogmenstreit zwischen Determinismus und Indeterminismus geführt werden,

184 „Shooting Script“, New York, 2002, 346

185 vgl. Roth, Gerhard, Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt am Main, 2003, 90

186 Ebd., „Die Zahl der corticalen Ein – und Ausgänge ist aber sehr gering verglichen mit der Zahl der Verbindungen der corticalen Zellen untereinander. Man schätzt dieses Verhältnis ganz grob auf rund Eins zu Hunderttausend, d.h. die Beschäftigung des Cortex mit sich selber ist hundertausendmal stärker als die Kommunikation mit dem, was außerhalb der Großhirnrinde sonst noch passiert.“, 24-25

187 Ebd., 25

188 Singer, Wolf, Der Beobachter im Gehirn, Essays zur Hirnforschung, Frankfurt am Main, 2002, 74, vgl. dazu besonders Freud, Sigmund, „Das Unbehagen in der Kultur“, Psychologische Schriften, Studienausgabe, Vol. IX, 193-270, Frankfurt am Main, 1970, „Normalerweise ist uns nichts gesicherter als das Gefühl unseres Selbst, unseres eigenen Ichs. Dies Ich erscheint uns selbständig, einheitlich, gegen alles andere abgegrenzt. Daß dieser Anschein ein Trug ist, daß das Ich sich vielmehr nach innen ohne scharfe Grenze in ein unbewußt seelisches Wesen fortsetzt, das wir als Es bezeichnen, dem es gleichsam als Fassade dient, das hat uns erst die psychoanalytische Forschung gelehrt [...]“, 198

doch möchte ich dennoch auf eine Argumentation Singers eingehen, der den Glauben an die eigene Freiheit ebenfalls als eine mögliche Illusion des Gehirns deutet:

Auch kann nicht ausgeschlossen werden, daß bestimmte Inhalte dieser Selbsterfahrung, beispielsweise die Überzeugung, frei entscheiden zu können, illusionäre Komponenten haben. Im Bezugssystem neurobiologischer Beschreibungen gibt es keinen Raum für objektive Freiheit, weil die je nächste Handlung, der je nächste Zustand des Gehirns immer determiniert wäre durch das je unmittelbar Vorausgegangene. Variationen wären allenfalls denkbar als Folge zufälliger Fluktuationen. Innerhalb neurobiologischer Beschreibungssysteme wäre das, was wir als freie Entscheidung erfahren, nichts anderes als eine nachträgliche Begründung von Zustandsänderungen, die ohnehin erfolgt wären, deren tatsächliche Verursachungen für uns aber in der Regel nicht in ihrer Gesamtheit faßbar sind.189

In dieser Hinsicht würde unser Gehirn als ein brillanter Verkäufer auftreten, der uns das, was notwendigerweise ohnehin geschehen wäre, als freie Entscheidung verkauft. Auch wenn dies im Film reichlich konstruiert wirkt, muß Neo in Matrix Reloaded und Revolutions ebenfalls diese Erfahrung machen als ihm klar wird, daß er nicht durch seinen Mut in Teil 1 zum Auserwählten wurde, sondern schon von Beginn an das sechste Erlöserprogramm war, das einen Neustart des Systems hervorrufen soll. Der Merowinger (Abb. 34) in Matrix Reloaded macht Morpheus, der obige Ansicht nicht teilt, bereits vorher auf diesen Sachverhalt aufmerksam: „There is nothing like free choice. Just action, reaction. Cause and effect”.190 Daß dies auch auf profaner Ebene Bestand hat, demonstriert er am Ende der Szene, als er den Raum verläßt und die Rebellen ihn fragen, wo er denn hin möchte: “I have drunk to much wine so I have to piss. Cause and effect.“191