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Die Relativität des Realen

2. Not what you see – Die Relativität des Realen:

2.9. Illusion und Spiegel:

Entschädigung dafür auch von allen Seiten des Bildes Aufmerksamkeit zuteil. Der Betrachter von Un bar aux Folies-Bergères wird ebenfalls in diese Position gerückt, doch es ist am Ende eine leere Position, in der er nur auf einen Spiegel blickt und auf Augen, die irgend etwas anschauen, aber nicht ihn.

Un bar... offenbart [...] den leeren Platz, den das Subjekt in der Moderne einnimmt. Mit Las Meninas orientierte sich Manet an einem Bild (Las Meninas, VME), das in produktions- und rezeptionsästhetischer Perspektive das Subjekt im modernen Sinne nicht kannte, um es in eine Malerei zu transformieren, die das Subjekt verschwinden läßt. 325

Somit finden wir in diesem Bild bereits alle Aspekte des Spektakels des 20. Jahrhunderts, die Abschaffung eines Fixpunktes innerhalb eines Systems, dadurch bedingt die Herauslösung des Subjekts aus der Subjekt-Objekt Polarität, das Spiegelbild, dem im gleichen Winkel kein Betrachter auf der Betrachterseite entsprechen kann und die Unsichtbarkeit dessen, der die Illusion des Bildes erschaffen hat. Die Werkzeuge der Repräsentation, Pinsel und Leinwand, sind nicht mehr zu sehen. Der schauende Betrachter im Banne dessen, was er passiv betrachtet ohne seiner eigenen Position oder der des Erschaffers des Spektakels, des Malers oder der Simulation, gewahr zu sein – ähnlich den Menschen in der virtuellen Welt der Matrix, die weder wissen, wo sie sich in Wirklichkeit befinden noch wer ihnen diese simulierte Wirklichkeit präsentiert. Letztendlich ist das Werk auch eine Hommage an die Autonomie der Malerei. Der Betrachter, der sich wundert, weil sich im Spiegel alles anders spiegelt, als es in der Wirklichkeit sein sollte, mag sagen, „Das geht so aber nicht“. Manet zeigt aber, daß dies sehr wohl geht und führt dem Betrachter dessen eigene Vorhersehbarkeit des Sehens vor Augen. Wir behandeln die Illusion ebenso wie die Wirklichkeit und sind enttäuscht oder empört, wenn die Illusion sich anders als die Wirklichkeit verhält. Zu dieser Sehgewohnheit hält uns Manet wortwörtlich den Spiegel vor. Die Autonomie der Malerei vor der Wirklichkeit erlaubt es ihr immer, Dinge zu zeigen, die die Wirklichkeit nicht zeigen kann.

das lange Zeit vor der Erfindung von Simulation, Fernsehen, Kino und Computerspielen entstanden war, das aber, aufgrund der damals logischerweise begrenzten technischen Möglichkeiten auf statische Bilder beschränkt war. Dennoch lassen sich für die Wirksamkeit einer Illusion folgende Regeln ableiten, die auch für die simulierte Wirklichkeit in Matrix gelten: Eine Illusion wird eher als wahr interpretiert, wenn es dem Betrachter möglich ist, ein Teil dieser Illusion zu sein (van Eyck). Eine Illusion, die nicht den Eindruck erweckt, sie brauche einen Zuschauer, wird ebenfalls eher als wahr interpretiert, da die wirkliche Welt ebenfalls nicht als ein Spektakel für Zuschauer konzipiert ist (Velázquez). Eine Illusion, die uns nicht den Erschaffer der Illusion zeigt, wird ebenfalls eher als wahr angesehen, da wir auch in der Wirklichkeit den Hersteller unserer Realität, sollte es ihn geben, nicht sehen (Manet).326

In allen drei aufgeführten kunsthistorischen Beispielen wurde ein Spiegel verwendet, da er die Möglichkeit bietet, dort einen Raum zu erschaffen, wo eigentlich keiner ist. In Matrix wird diese Funktion des Spiegels ebenfalls thematisiert: Kurz bevor Neo aus der Matrix ausgeloggt wird, faßt er in einen Spiegel, wobei sich der Spiegel in scheinbar flüssiges Metall verwandelt und beginnt, Neos Arm und Körper zu bedecken (Abb. 77 und 78). Abb. 79 zeigt wieder die comichafte Vorlage von Kunitake.

The mirror gel seems to come to life, racing, crawling up his arms like hundreds of insects.

The mirror creeps up his neck as Neo begins to panic, tipping his head as though he were sinking into the mirror, trying to keep his mouth up.327

Den Wachowski-Brothers ist das kunsthistorische Erbe des Spiegels, wie es auch in den drei obigen Bildern angesprochen wurde, in dieser Szene wohl deutlich bewußt. Der Spiegel eröffnet in der Malerei das Tor zu einer neuen Welt, er erweitert den Raum, der vor dem Spiegel ist, in den Raum hinter dem Spiegel hinein und er stellt letztendlich dadurch eine Verbindung zwischen virtueller Welt und realer Welt her. Entsprechender Wert wurde auch auf die visuelle Umsetzung des flüssigen Spiegels gelegt, wie Zeichner Kunitake berichtet:

Larry and Andy wanted to distinctly get away from the ‚Terminator look’ and that would be to have the reflection revolve with all the shapes/forms. They wanted mirrors within mirrors, reality and reflections

326 vgl. dazu auch Roth, „Je lebhafter eine Wahrnehmung ist, desto eher bin ich geneigt, das Wahrgenommene für real zu halten“, in Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt am Main, 2002, 322

327 „Shooting Script“, New York, 2002, 303

compounding into infinity. With the open hand we have more of a madhouse, everything has been distorted in Mr. Anderson’s life. He sees himself as mad and distorted, and then it totally overtakes him.328

Kurz bevor Neo ausgeloggt wird und der Spiegel ihn nahezu ‚überfällt’ wie ein amorpher Insektenschwarm, wird diese Verbindungsfunktion bewußt ‚umgedreht’: Vor dem Log-Out

‚fließt’ der Spiegel in Neo hinein, die Welt des Virtuellen schiebt sich in die Wirklichkeit (allerdings die Wirklichkeit der Matrix), bevor das Heraustreten aus der Virtualität und der Eintritt in die ‚wirkliche’ Wirklichkeit (die Welt von Zion) erfolgt. Es scheint, als wolle der Spiegel als Konstrukt des Virtuellen noch einmal seine Herrschaft innerhalb der Wirklichkeit behaupten, bevor er schließlich durch die ‚wahre’ Wirklichkeit abgelöst wird.

Das Hineingreifen Neos in den Spiegel ist ebenfalls ein Zitat der Kunstgeschichte. Auf Max Klingers Werk „Philosoph, Vom Tode“ (Abb. 80) sehen wir eine Hand, die in einen Spiegel hineingreift. Beelte, Engels und Schenk deuten den Spiegel als visuelles Stilmittel als eine Vorstufe der Foto- und Filmkunst, die Dinge dort abbilden kann, wo sie gar nicht ‚real’

existieren:

Seit Bestehen der Foto- und Filmkunst sind viele neue Möglichkeiten der Wiedergabe von Realität hinzugekommen: Beide Medien liefern uns exakte visuelle Reproduktionen von Wirklichkeit. In vielen Bildern hatte vorher der Spiegel diese wichtige Rolle zu erfüllen: In ihm wird wie in der Fotografie exakt abgebildet. Dies ist einer der Gründe dafür, daß auf vielen Selbstbildnissen neben den Künstlern auch ein Spiegel gezeigt wird.329

Beelte, Engels und Schenk führen weitere Beispiele des ‚Hineinfassens’ in einen Spiegel auf: So greift in Kubrick 2001: A Space Odyssey330 ein Astronaut auf einer Mondbasis in einen schwarzen Monoliten mit einer sich spiegelnden Oberfläche, der durch seine unbekannte Herkunft ebenfalls als Medium zwischen verschiedenen Welten fungiert (Abb.

81).331 Die Gesten sind sowohl bei Klinger als auch bei Kubrick und schließlich in Matrix

328 Kunitake, Tani, The Art of the Matrix, New York, 2002, 66, ebenso Oosterhouse, Phil, “Every shot with Keanu and the mirror gel had to be shot once with all the elements in the shot, once with a greenscreen, and then John Gaeta, the visual effect supervisor, would step in and film the shot again, without Keanu but with a cube, pyramid or ball in his place.”, ebd., 401

329 „Die Narration im Bild als symbolische Erzählung bei Max Klinger“, in Hoffmann (ed.), Erzählende Bilder.

Stadtmuseum Oldenburg, Oldenburg, 1998, 71, ebenso Hoffmann in „Aneignung von Wirklichkeit“ in Hoffmann; Thiele (eds.), Lichtbilder / Lichtspiele. Anfänge der Fotografie und des Kinos in Ostfriesland, Marburg, 1998, 15

330 GB/USA, 1968

331 Beelte; Engels; Schenk, „Seine Oberflächenstruktur ist von glänzender Beschaffenheit, die eine weitere Parallele zum Spiegel herstellt. Zu Beginn des Films werden frühzeitliche Affenmenschen gezeigt, die unvorhergesehen eines Morgens diesem Monolithen gegenüberstehen. Es gibt keinerlei Hinweise, woher dieser Stein kommt und welche Funktion er haben könnte. Er ist einfach da“, in „Die Narration im Bild als symbolische

nahezu identisch. So zeigt uns diese Szene nicht nur eine ironische Reflektion des Spiegels in der Kunstgeschichte und die Reflektion des Spiegels im Film, sondern zuletzt die Steigerung der ‚Spiegel-Thematik’: die Möglichkeit, in den Spiegel hineinzutreten. Da den Wachowski-Brothers offensichtlich klar war, daß solch eine Deutung zu naheliegend wäre, geschieht eine Umkehrung des Sachverhalts: Nicht der Betrachter steigt in den Spiegel, sondern der Spiegel steigt in den Betrachter. Bevor Neo aus der Illusion austritt, zeigt sich diese noch einmal in ihrer ganzen Macht. Die reine Repräsentation ergreift noch einmal – handgreiflichen! –Besitz von dem, der im Begriff ist, sie abzuschaffen.

Erzählung bei Max Klinger“, in Hoffmann (ed.), Erzählende Bilder. Stadtmuseum Oldenburg, Oldenburg, 1998, 73

thgfh Kapitel 3 Gothic –

Innen – und Außenwelten

The weather was cold and gloomy; heavy clouds betokened a long and dreary continuance of autumnal rains; cloud after cloud

came sweeping on like the dark banners of an approaching host whose march is for desolation.

Charles Robert Maturin, Melmoth the Wanderer (2000, 28)