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Die Relativität des Realen

2. Not what you see – Die Relativität des Realen:

2.7. Die Illusion in der Kunst:

2.7.2. Verräumlichung von Zeit:

Umfeldes und der Geschichte dieser Erscheinung, die sich über viele Kilometer bzw. Jahre erstrecken. Frank definiert Zeit und Raum als Begrenzung von Literatur und Kunst– “Time and space were the two extremes defining the limits of literature and the plastic arts in their relation to sensuous perception; and, following Lessing’s example, it is possible to trace the evolution of art forms by their oscillations between these two poles“.228 Eine Verbindung dieser beiden Polaritäten könnte zu einer ‚realen Zeit’ – „real time“229 – und einen Zugang zur absoluten Beschaffenheit der Realität bilden. Als Beispiel hierfür führt er Marcel Proust und sein Werk À la récherche du temps perdu an:

He (Proust, VME) has almost invariably been considered the novelist of time par excellence – literary interpreter of that Bergsonian “real time” intuited by the sensibility, as distinguished from the abstract, chronological time of the conceptual intelligence.

[…] Proust believed that the transcendent, extratemporal moments contained a clue to the ultimate nature of reality.230

„Contained a clue to the ultimate nature of reality“ bedeutet natürlich nicht, daß es sich dabei bereits um die Erkenntnis des kantischen Ding an sich handelt, sondern daß möglicherweise die Wahrnehmung asymptotisch an die Erkenntnis des Dinges an sich angenähert wird. Der Vollständigkeit halber werde ich die berühmte Passage dieser sog.

mémoire involontaire aus Prousts À la recherche du temps perdu anführen, in dem sich der Erzähler, durch den Geruch eines in Lindenblütentees getunkten Madeleine–Törtchens, in einem Augenblick seiner gesamten Kindheit erinnert.

Et tout d’un coup le souvenir m’est apparu.

[…] Et comme dans ce jeu où les Japonais s’amusent à tremper dans un bol de porcelaine rempli d’eau, de petits morceaux de papier jusque-là indistincts qui, à peine y sont-ils plongés s’étirent, se contournent, se colorent, se différencient, deviennent des fleurs, des maisons, des personnages consistants et reconnaissables, de même maintenant toutes les fleurs de notre jardin et celles du parc de M. Swann, et les nymphéas de la Vivonne, et les bonnes gens du villages et leurs petit logis et l’église et tout Combray et ses environs, tout cela qui prend forme et solidité, est sorti, vielle et jardins, de ma tasse de thé.231

228 Frank, Joseph, The Widening Gyre, New York, 1963, 8

229 Der Begriff real time findet sich zudem bei Online Informationen von Börsenkursen. Ein real time Kurs ist der letzte, aktuelle Kurs, nicht älter als ein paar Sekunden. Real ist nach dieser Definition wohl immer das, was einen gewissen Live-Charakter besitzt, eine Beobachtung, die von den zahlreichen Reality Shows der 90er Jahre bestätigt wird.

230 Frank, Joseph, The Widening Gyre, New York, 1963, 19

231 Proust, Marcel, À la recherche du temps perdu, Du côté de chez Swann, Paris, 1992, 86,87, zum Vergleich die deutsche Übersetzung, „Und dann mit einem Male war die Erinnerung da. [...] Und wie in den Spielen, bei denen die Japaner in eine mit Wasser gefüllte Porzellanschale kleine, zunächst ganz unscheinbare Papierstückchen werfen, die, sobald sie sich vollgesogen haben, auseinandergehen, sich winden, Farbe

Der Erzähler wird hierbei unverhofft mit einem Ereignis konfrontiert, von dem er Sekunden zuvor noch nichts ahnte, das ihn aus dem gewöhnlichen Kontinuum der Zeit ausbrechen läßt und seine Ereignisse der Vergangenheit, gemeinsam mit den dazugehörigen Landschaften und Bildern, nebeneinander, wie in der Malerei, statt nacheinander, wie in der Literatur bzw. der normalen Zeitauffassung gemäß, zeigt. Ein einzelner Augenblick wird eingefangen und in seine diversen, geistigen Assoziationen zerlegt, ebenso wie auch die bereits erwähnten Impressionisten den gegenwärtigen Moment einzufangen versuchten und dessen einzelne Aspekte als ungemischte Farbtöne nebeneinander auf der Leinwand plazierten, die sich erst im Auge des Betrachters mischten. Da man in diesen Augenblicken aber der unbarmherzigen Herrschaft der Zeit und der Naturgesetze entkommt, entweder weil der vergängliche Moment – wie im Impressionismus – fixiert wird oder weil dieser Moment die Grenzen der gewöhnlichen Wahrnehmung sprengt, erlebt man einen Moment jenseits der Zeit, jenseits der vorhersehbaren Naturgesetze und der Wahrnehmung.

At certain moments, however, the physical sensations of the past come flooding back to fuse with the present; and Proust believed that in these moments he grasped a reality “real without being of the present moment”, ideal but not abstract. […] a fragment of time in its pure state. […] For a person experiencing this moment, Proust adds, the word “death” no longer has a meaning. Situated outside the scope of time, what could he fear from the future?232

In James Joyces The Portrait of the Artist as a Young Man und auch in dem memory monologue des Idioten Benjy in William Faulkners The Sound and the Fury233 finden wir dieses Phänomen ebenfalls, wobei es von Joyce als Epiphany bezeichnet wird. Der junge Stephen Dedalus erlebt hierbei eine Vision seines künftigen, wechselhaften Lebens als Künstler, bedingt durch den Anblick eines jungen Mädchens am Meer:

Her image had passed into his soul for ever and no word had broken the holy silence of his ecstasy. Her eyes had called him and his soul had leaped at the call. To live, to err, to fall, to triumph, to recreate life out of life! A wild angel had appeared to him, the angel of mortal youth and beauty, an envoy from the

annehmen und deutliche Einzelheiten aufweisen, zu Blumen, Häusern, zusammenhängenden und erkennbaren Figuren werden, ebenso stiegen jetzt alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Monsieur Swann, die Seerosen auf der Vivonne, die Leutchen aus dem Dorfe und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, alles deutlich und greifbar, die Stadt und die Gärten auf aus meiner Tasse Tee“, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, In Swanns Welt, Frankfurt am Main, 1993, 67, dt. Übersetzung von Eva Rechel-Mertens

232 Frank, Joseph, The Widening Gyre, New York, 1963, 21

233 Faulkner, William, The Sound an the Fury, New York, 1995, 1-73

fair courts of life, to throw open before him in an instant of ecstasy the gates of all the ways of error and glory. On an on and on and on!234

Das Phänomen der Verräumlichung der Zeit finden wir nicht nur in der Prosa, sondern auch in der Lyrik. Folgendes Gedicht Daffodils von William Wordsworth von 1807 soll dieses verdeutlichen:

I wandered lonely as a cloud

That floars on high o’er vales and hills, When all at once I saw a crowd, A host of dancing daffodils;

Along the lake, beneath the trees, Ten thousands dancing in the breeze.235

„[...] all at once“ ist hierbei der Moment, in dem sich die Verräumlichung von Zeit einstellt.

1815 fügte Wordsworth folgenden Vers ein:

Continuous as the stars that shine And twinkle on the milky way, They stretched in never-ending line Along the margin of a bay – Ten thousands saw I at a glance, Tossing their heads in sprightly dance.236

“Ten thousands saw I at a glance”, läßt hierbei ebenfalls den Widening Gyre Joseph Franks erahnen und der Vergleich zwischen der Anordnung der Osterglocken und der Milchstraße deutet wiederum auf eine Erweiterung des gesamten Kontextes hin. Weiter lesen wir in der Version von 1807:

The waves beside them danced, but they Outdid the sparkling waves in glee;

A poet could not but be gay In such a laughing company.

I gazed and gazed, but little thought What wealth the show to me had brought –

For oft when on my couch I lie In vacant or in pensive mood,

234 Joyce, James, A portrait of the Artist as a Young Man, London, 1992, 186

235 „Daffodils“ in Wu, Duncan (ed.) , Romantiscism, Oxford, 1999, 383

236 Ebd.

They flash upon that inward eye Which is the bliss of solitude, And then my heart with pleasure fills, And dances with the daffodils.237

“That inward eye” ist der Blick nach innen, mit dem auch visuelle Künstler innere Welten wie Landschaften malen. Es zeigt ebenfalls die Ambivalenz des menschlichen Ichs, das sich einerseits in einem unbekümmerten Kosmos einsam fühlt – „[...] which is the bliss of solitude“ – aber auch in der Lage ist, durch die Stärke des menschlichen Geistes bzw. der Imagination die Grenzen von Raum und Zeit – wenigstens imaginär – zu durchbrechen.238 In Matrix ereilt Neo beim Erwachen aus der Matrix eine ähnliche – wenn auch unangenehmere – Erfahrung wie dem Protagonisten von Marcel Proust beim Teetrinken (Abb. 6-9). Während bei letzterem das gesamte Leben in einem einzigen Moment wieder neu entsteht und sich durch die Erinnerung aufs neue verfestigt, findet bei Neo in den Sekunden des Beobachtens der Waben und der Tausenden von eingeloggten Menschen die gesamte Negation des vorherigen Lebens statt. Es erfolgt der Prozeß des schmerzvollen Erwachens (Abb. 6 und 7), das Bewußtwerden (Abb. 8) und schließlich die – schreckerfüllte – Reflexion des Gesehenen (Abb. 9). Nichts war real und in dem Moment, in dem dies erkannt wird, wird die Bedeutung des Gewesenen auf einen Schlag gelöscht, während sie bei Proust innerhalb dieser Sekunden noch einmal neu erschaffen wird.