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Die Relativität des Realen

2. Not what you see – Die Relativität des Realen:

2.3. Immanuel Kant und die Erkenntnis a priori:

2.3.2. Der Prozeß der Erkenntnis:

Das, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, entspricht nicht der Realität bzw. dem Ding an sich. Dennoch scheint es gewisse Konstanten innerhalb der Wahrnehmung zu geben, die es den Menschen ermöglichen, die Erscheinungen kollektiv ähnlich zu sehen bzw. ähnlich falsch zu sehen. Dieses Vermögen ist die Vernunft, „[...] welche die Prinzipien, etwas schlechthin a

mit Denken nicht identischen Sachhaltigen; ohne das Etwas kann formale Logik nicht gedacht werden.“, in Negative Dialektik, Frankfurt am Main,1997, 139

106 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Vol, III, Frankfurt am Main, 2004, 335, diese Definition der Theologie ist heute nicht mehr korrekt, da es in dieser Wissenschaft primär um die Erforschung biblischer Texte geht als um die Suche nach einem höheren Wesen; so kann ein Theologe ebenso ein Atheist sein.

107 Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main, 1997, 142

108 Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main, 1997, 177, vgl. hierzu auch zur Lippe, „Der Zeichner überträgt also, genaugenommen, nicht, was er sieht, auf ein Blatt, sondern das, was das Quadratnetz der Drähte für ihn auffängt und einteilt, und zwar so, wie es eingeteilt wird. Die Distanzierung ist materialisiert und als Strategie der Abbildungstechnik instrumentell entwickelt.“, in Neue Betrachtung der Wirklichkeit, Hamburg, 1997, 215, vgl. dazu ebenfalls Eisler, „Die Erscheinung der Erscheinungen – wie nämlich das Subjekt mittelbar affiziert wird, wie das Subjekt sich selbst zum Objekt macht (sich seiner selbst als bestimmbar in der Anschauung bewußt ist) – ist metaphysisch.“, in Kant-Lexikon, Hildesheim, 1969, 143

priori zu erkennen, enthält.“109 Hierbei unterscheidet Kant zwischen synthetischer und analytischer Erkenntnis. Die Aussage ‚Der Ball ist rund’ ist ein analytisches Urteil, weil ein Ball, der nicht rund ist, kein ‚richtiger’ Ball wäre; die Aussage ‚Der Ball ist rot’ hingegen ist synthetisch, da ein Ball verschiedene Farben haben kann, ohne dadurch aufzuhören, ein Ball zu sein. Somit sind Erfahrungsurteile als solche notwendigerweise synthetisch und sind Erkenntnisse a posteriori. Erkenntnisse a priori aber sind solche, denen keine Erfahrung zugrunde liegt. 110

[...] ob es ein dergleichen von der Erfahrung und selbst von allen Eindrücken der Sinne unabhängige Erkenntnis gebe. Man nennt solche Erkenntnisse a priori, und unterscheidet sie von den empirischen, die ihre Quellen a posteriori, nämlich in der Erfahrung haben.111

Es gibt kein analytisches Urteil a priori, mit dem wir das Ding an sich erkennen könnten, da wir mit unserer Wahrnehmung kein Ding erkennen können, das unabhängig von unserer Wahrnehmung existiert. Wir können nur synthetische Urteile a priori und a posteriori treffen;

erstere Urteile wären die Beweise einer kollektiven Form des Sehens, z.B. die Wahrnehmung von Farben, Größen, Weiten etc. „Die Mathematik gibt uns ein glänzendes Beispiel, wie weit wir es unabhängig von der Erfahrung in der Erkenntnis a priori bringen können.“112 „Einen Triangel setzen und doch die drei Winkel desselben aufheben, ist widersprechend; aber den Triangel samt seinen drei Winkeln aufheben, ist kein Widerspruch.“113 A priori hat ein Triangel in der Mathematik drei Winkel und diese Definition „funktioniert“ bei allen weiteren Operationen mit diesem Triangel, ganz egal, ob der reale Triangel sich tatsächlich so verhält, wie wir ihn wahrnehmen. Der Begriff setzt also ein „schlechthin“114 gegebenes Ding voraus und ist ohne dieses auch gar nicht möglich.115 In dieser Hinsicht weist Kant auch auf die Ambivalenz des Begriffes Wahrheit hin, wobei die Unterscheidung, was wahr ist und was

109 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Vol.III, Frankfurt am Main, 2004, 62, vgl. hierzu ebenfalls Kant, Träume eines Geistersehers, wobei die Metaphysik mit der Arithmetik verglichen wird, „In beiden werden zuerst anstatt der Sachen selbst ihre Zeichen mit den besonderen Bezeichnungen ihrer Vermehrung oder Verminderung, ihrer Verhältnisse u.s.w. gesetzt und hernach mit diesen Zeichen nach leichten und sicheren Regeln verfahren durch Versetzung, Verknüpfung oder Abziehen und mancherlei Veränderung, so daß die bezeichnete Sache selbst hierbei gänzlich aus den Gedanken gelassen werden, bis endlich beim Beschlusse die Bedeutung der symbolischen Folgerung entziffert wird.“, Vorkritische Schriften, Vol. I, Frankfurt am Main, 2004, 274

110 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Vol. III, Frankfurt am Main, 2004, 53

111 Ebd., 45

112 Ebd., 50

113 Ebd., 531, vgl. auch an derselben Stelle, „[...] unter der Bedingung, daß ein Triangel da ist (gegeben ist), sind auch drei Winkel (in ihm) notwendigerweise da.“

114 „d.i. in jeder Beziehung Unbedingten“, ebd., 330

115 Ebd., 302, „[...] durch bloße Begriffe kann ich freilich ohne etwas Inneres nichts Äußeres denken, eben darum, weil Verhältnisbegriffe doch schlechthin gegebene Dinge voraussetzen und ohne diese nicht möglich sind.“

nicht, als synthetisches Urteil a priori vorausgesetzt wird, es sich wieder um einen objektiven (von der Nicht – Erkennbarkeit des Dinges an sich aber subjektiven) Grundsatz der Vernunft handelt:

Was ist Wahrheit? Die Namenerklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei, wird hier geschenkt und vorausgesetzt; man verlangt aber zu wissen, welches das allgemeine und sichere Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis sei.116

Diese objektiven Grundsätze der Vernunft ermöglichen nicht nur die Anwendung von Naturgesetzen, sie können auch dafür sorgen, daß eine subjektive Erkenntnis für eine objektive gehalten wird; für Kant die Definition der Illusion:

[...] daß in unserer Vernunft (subjektiv als ein menschliches Erkenntnisvermögen betrachtet) Grundregeln und Maximen ihres Gebrauchs liegen, welche gänzlich das Ansehen objektiver Grundsätze haben, und wodurch es geschieht, daß die subjektive Notwendigkeit einer gewissen Verknüpfung unserer Begriffe zugunsten des Verstandes für eine objektive Notwendigkeit der Bestimmung der Dinge an sich selbst gehalten wird. Eine Illusion, die gar nicht zu vermeiden ist, so wenig als wir es vermeiden können, daß uns das Meer in der Mitte nicht höher scheine, wie an dem Ufer, weil jene durch höhere Lichtstrahlen als diese sehen, oder noch mehr, so wenig selbst der Astronom verhindern kann, daß ihm der Mond im Aufgange nicht größer scheine, ob er gleich durch diesen Schein nicht betrogen wird.117

Der schlitzohrige Cypher (Abb. 30) ist sich beim Steakessen dieser Illusion ebenfalls bewußt und akzeptiert sie nur zu gerne:

CYPHER

You know, I know that this steak doesn’t exist.

I know that when I put it in my mouth, the Matrix is telling my brain that it is juicy and delicious. After nine years, do you know what I realized?

[…] Ignorance is bliss.

[…] Mmm so, so goddamn good.118

116 Ebd., 102

117 Ebd., 310-311

118 „Shooting Script“, New York, 2002, 331

Wie als ‚Kontrastprogramm’ wird danach das Frühstück an Bord der Nebukadnezar serviert, das sich als Eiweiß-Protein-Nährmasse durchaus weniger appetitlich ausnimmt. Durch diese scheinbar objektive Erkenntnis Cyphers, die allerdings eine subjektive ist, lesen wir das Buch der Welt falsch, aber wir lesen es gemeinsam falsch.

[...] was wir äußere Gegenstände nennen, nicht anderes als bloße Vorstellungen unserer Sinnlichkeit seien, deren Form der Raum ist, deren wahres Korrelatum aber, d.i. das Ding an sich selbst, dadurch gar nicht erkannt werden kann, nach welchem aber auch in der Erfahrung niemals gefragt wird.119

Wir betrachten allerdings nicht nur die Welt um uns herum, sondern auch unser eigenes Gemüt lediglich mit den Instrumenten unserer Wahrnehmung, so daß wir nicht nur die Umgebung, sondern auch unseren eigenen Akt der Wahrnehmung möglicherweise nicht korrekt wahrnehmen; am Ende findet der gesamte Prozeß mittels des Verstandes im Kopf statt – in Matrix reicht daher auch ein Stecker, um die Menschen ein- und auszuloggen. Kant spricht in diesem Zusammenhang von der menschlichen Wahrnehmung als einem

„unschicklichen Werkzeug.“ 120 Der beängstigende Gedanke, der daraus folgt, ist, daß auch wir als scheinbar reale Menschen nicht sicher sein können, ob wir nicht auch in einer Simulation wie der Matrix leben, da ja die Möglichkeit besteht, daß wir die Illusion a priori für die Realität halten – wir säßen also in der platonischen Höhle, ohne es zu wissen und träten wir heraus, könnte diese scheinbar wahre Realität einfach nur eine weitere Höhle sein.

Die Tatsache, daß Matrix genau diese Unsicherheit unserer Existenz, die ja an sich nicht neu ist, in ‚coolem’ und ausgesprochen ‚stylischem’ Ambiente präsentiert,121 ist ein wesentlicher Grund für den großen Erfolg von Teil 1 und letztendlich auch der gesamten Trilogie.

Descartes war der Ansicht, daß durch das Cogito ergo sum der Mensch als denkendes Wesen seiner Existenz als Subjekt sicher sein kann, praktisch dadurch einen objektiven Anker innerhalb des subjektiven Chaos der Wahrnehmung setzt. Dies wird von Kant negiert. Nicht ich bin, indem ich denke, sondern indem ich denke, bin ich in Anschauung meines Denkens:

Nicht dadurch, daß ich bloß denke, erkenne ich irgendein Objekt, sondern nur dadurch, daß ich eine gegebene Anschauung in Absicht auf die Einheit des Bewußtseins, darin alles Denken besteht, bestimme, kann ich irgend einen Gegenstand erkennen. Also erkenne ich mich nicht selbst dadurch, daß ich mich meiner als denkend bewußt bin, sondern wenn ich mir die Anschauung meiner selbst, als in Ansehung der Funktion des Denkens bestimmt, bewußt bin.122

119 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Vol, III, Frankfurt am Main, 2004, 78

120 Ebd., 298

121 vgl. Kap. 1.1.3

122 Ebd., 346

Möglicherweise hätte sich Descartes auch mit dem Gedanken angefreundet, daß letztlich noch wir es selbst sind, die all diese Illusionen denken bzw. uns denkend betrachten. Kant findet sich damit ab, daß wir nur die Sicherheit haben, daß wir uns des Prozesses der Anschauung unseres Denkens bewußt sind, wenn wir denken, wobei aber unsere Position und das, was wir erkennen nicht mit unserer realen Position und dem Ding an sich zusammenhängen müssen. In Matrix jedoch ist es nicht mehr das Subjekt, das allein denkt, sondern das Objekt affiziert das Subjekt sogar und beeinflußt nicht nur dessen Erkenntnis, also dessen passives Betrachten, sondern auch dessen aktives Denken und Interpretieren, wie uns Agent Smith belehrt:

AGENT SMITH

I say ‚your civilization’ because as soon as we started thinking for you, it really became our civilization, which is, of course, what this is all about.123

Daß die Agenten dazu in der Lage sind, demonstrieren sie mehrfach. Neo wird der Mund organisch zugeklebt (Abb. 139), es wird ihm eine biomechanische Wanze eingesetzt (Abb.

97), die ihn überwachen soll und das gesamte Verhör wird schließlich als Alptraum Neos getarnt. Es sind letztendlich nicht einmal mehr wir selbst (bzw. Neo), die da denken, man könnte sagen Cogito ergo non sum ipse cogitans; ich denke, also bin ich nicht selbst denkend.

Wenn also die Welt unserer subjektiven Vorstellung entspricht, ist die Illusion davon umso erfolgreicher, je besser sie der subjektiven Erwartung des Betrachters an diese Realität entspricht.