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Die Relativität des Realen

2. Not what you see – Die Relativität des Realen:

2.6. Die Erkenntnistheorie und die Matrix:

kurzfristigen Erfolg angeht, besser gelungen ist als jedem anderen Medium zuvor, auch deswegen, weil Matrix zur ‚richtigen’ Zeit da war.203

Wie aber wird dieser Diskurs in Matrix interpretiert? Der Ausbruch aus der platonischen Höhle ist in Matrix durch das Ausloggen aus der Simulation möglich. Die Täuschung besteht nur in der Matrix, die wirkliche Welt, bzw. die Nebukadnezar und Zion, ist die Welt ohne Zweifel, Descartes Cogito, der Ort der Eigentlichkeit.204 Es argumentiert jedoch Platon, daß nur ein paar wenige Auserwählte aus der Höhle in das Licht geführt werden können, während Morpheus die gesamte Menschheit aus der Höhle ins Licht führen möchte. Es muß hier allerdings angemerkt werden, daß auch Morpheus hier keineswegs konsequent ist in seiner Argumentation. Er belehrt Neo, daß Realität nichts weiter sei als elektrische Impulse, die vom Verstand interpretiert werden,205 ist sich aber trotz dieser Klarheit hinsichtlich der Anfälligkeit unseres Geistes für Illusionen dennoch sicher, daß die ‚wahre’ Welt von Zion realer ist als die Illusion der Matrix, was er Neo gegenüber ebenfalls vehement vertritt, „[…]

you are a slave, Neo. Like everyone else, you were born into bondage, kept inside a prison that you cannot smell, taste, or touch. A prison for your mind.”206 Da aber die wirkliche Welt von Zion ebenfalls eine Illusion sein kann, ist, so würden es die oben zitierten Neurowissenschaftler sehen, letztendlich das Gehirn des Menschen genau das Gefängnis, das ihm seine eigene Version der Wirklichkeit vorspielt und das er ebenfalls weder riechen, schmecken oder fühlen kann. Um sich aus diesem Gefängnis zu befreien, kommt dann wohl nur der Tod in Frage, wobei auch dabei niemand Auskunft geben kann, ob oder was einem dann an Illusionen blüht;207 ganz abgesehen von der Tatsache, daß es ja auch unser Gehirn ist, das uns zum Nachdenken über unser Gehirn treibt, es also außerhalb von uns keine objektive Instanz gibt, die wir wahrnehmen können. Matrix macht es in dieser Hinsicht sowohl den Rebellen als auch dem Zuschauer einfach: Beide müssen sich nicht mit dem evtl.

unheimlichen Gedanken abfinden, daß es möglicherweise unser Gehirn in uns selbst ist, das uns als subjektiver Operator täuscht, indem es unsere Wahrnehmung nicht nur interpretiert,

203 Matrix 1 spielte, was Kinokasse und DVD Verkauf angeht, mehr als 1 Millarde US Dollar ein, Stand 2003, Quelle Warner Brothers, 2003, mehr zur ‚richtigen’ Zeit in Kapitel 6

204 Wichtig ist noch einmal die Unterscheidung zwischen Platons Garten außerhalb der Höhle, der sicherlich ein angenehmeres Ambiente bietet als die Höhle und der kargen Welt von Zion im Vergleich zur Illusion der Matrix.

Da es in Zion diese Verbesserung nicht gibt, ist ein Ausbruch aus der Matrix rein ideologisch gesteuert und hat keinen praktischen Wert.

205 vgl. seine Einweisung, hier der Bequemlichkeit halber noch einmal wiederholt, gegenüber Neo, “What is real? How do you define real? If you’re talking about what you feel, taste, smell or see, then real is simply electrical signals interpreted by your brain”, in “Shooting Script”, New York, 2002, 310

206 Ebd., 300

207 vgl. Roth, “Als toleranter Konstruktivist wird man es aber für unwahrscheinlich halten, daß das Wesen Gottes und die Beschaffenheit des Jenseits – sollte es beides geben – in irgendeiner Weise diesseitigen Verhältnissen ähnelt. Eher wären Zustände zu erwarten, die alle unsere irdischen Vorstellungen übersteigen“, Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt am Main, 2003, 191

sondern auch nach Belieben ändert. In Matrix wird die subjektive Wahrnehmung also externalisiert, es ist nicht unser Gehirn, das uns täuscht, sondern eine perfide Illusionsmaschinerie der Maschinen, die uns den Subjekt-Status nicht gönnt. Slavoj Zizek sieht dieses lacanianische Große Andere in Matrix in die Person eines bösen Programmierers ausgelagert, „[...] when our entire (social) existence is progressively externalized-materialized in the big Other of the computer network, it is easy to imagine an evil programmer erasing our digital identity and thus depriving us of our social existence, turning us into non-persons […]

Following the same paranoiac twist, the thesis of The Matrix is that big Other is externalised in the really existing Mega-Computer.”208 Ist die Illusion in Matrix aber aufgebrochen und die Person ist ausgeloggt, scheint das Gehirn des Betrachters nun wohl plötzlich alles genau so abzubilden, wie es sich auch in der Realität darstellt. Da es nun daher, was den Wert von Wirklichkeit angeht, keinen praktischen Grund gibt, die Illusion der Matrix zugunsten der wirklichen Welt zu verlassen, drängt sich mir nur der Eindruck ideologischer Verbohrtheit der Rebellen um Morpheus auf, ähnlich religiöser Fanatiker. Die Cyber-Rebellen in Matrix nutzen nicht nur das System der Matrix aus, um es zu bekämpfen, so wie religiöse Fanatiker und Terroristen westliche Erfindungen wie Flugzeuge und Finanzströme ausnutzen, um eben dieses System zu schädigen oder am besten ganz abzuschaffen, sondern sie bedienen sich zunächst einer idealistischen Erkenntnistheorie, um Menschen wie Neo von der Illusion der Matrix zu überzeugen, um dann, in fanatischer Weise, zu einer realistischen Weltansicht, was die wirkliche Welt von Zion angeht, umzuschwenken. Solange wir in der Matrix sind, kann alles Illusion sein, da Realität nichts weiter ist als elektrische Impulse, interpretiert von unserem Verstand. Sobald wir aber die wirkliche Welt von Zion erreicht haben, soll dies alles plötzlich nicht mehr gelten und die Welt soll genau das sein, was wir sehen? Die Matrix ist die Höhle von Platon, aber die Welt von Zion ist die Welt, in der die Ideen, gemäß Aristoteles, nicht mehr getrennt von den von ihnen nachgebildeten, wahrnehmbaren Dingen existieren.

Was die philosophische Erkenntnistheorie angeht, gibt es in der Matrix und bei Descartes den Ort ohne Täuschung, die wirkliche Welt, die Nebukadnezar bzw. Zion; bei Kant und Schopenhauer ist dieser Zugang nicht erreichbar, da sich das ‚Ding an sich’, wie bereits erläutert, der Erkenntnis entzieht.209 Da der Betrachter keine Möglichkeit der Interpretation

208 Zizek, Slavoj „The Matrix, or the two sides of perversion“, Inside the Matrix – International Symposium at the Center for Art and Media, Karlsruhe, October 28, 1999, veröffentlich unter www.container.zkm.de/netcondition/matrix/zizek.html

209 Descartes trennt mit seinem Cogito ergo sum den reflektierenden Geist von Gehirn und Körper ab und versucht so, eine neutrale Instanz außerhalb der Illusion zu schaffen; dennoch stellt das Cogito eine Trennung

des Wahrgenommenen außerhalb seines eigenen Selbst hat, ist auch nicht garantiert, daß es sich bei der wirklichen Welt der Matrix nicht auch um eine Illusion handelt. Wieso will ein Mensch wie Morpheus, der selbst ausgeloggt wurde und lange Zeit der Illusion der Matrix erlegen war, nun auf einmal darüber urteilen, was real ist und was nicht? Er hat sich einmal täuschen lassen, er kann wieder getäuscht werden. Matrix fungiert als Erlösungsmythos, während besonders Kant und Schopenhauer gnadenlose Diagnostiker sind. Dennoch macht sich Matrix stilistisch die Erkenntnisse der Aufklärung zunutze, denn wenn alles, was wir sehen, nur Trug und Schein ist, ist es auch möglich, daß wir tatsächlich innerhalb einer computergenerierten Simulation leben. Das Unbehagen und die Faszination, die Matrix erzeugt, speist sich aus dem Befinden des Menschen, möglicherweise nicht so in der Welt zu existieren, wie er sich in der Welt sieht. Der Zuschauer verläßt das Kino mit dem Gedanken

„Mein Gott, das könnte ja wirklich so sein!“ und empfiehlt den Film aufgrund dieser schockierenden Offenbarung gleich weiter. Dennoch ist dieser Gedanke in Matrix nicht zu Ende gedacht, da man dem Zuschauer nicht einerseits vermitteln kann, daß alles, was er sieht, Illusion ist, um gleich danach zu sagen, daß die Nebukadnezar aber nun keine Illusion mehr ist – Kant würde argumentieren, daß die Welt von Zion ebenfalls Objekt einer subjektiven Erkenntnis sei und daher ebenso wenig real sei wie die Matrix. Schopenhauer schließlich weist den Erfindern der Matrix den Weg, wie man die Menschen am besten hinters Licht führen kann: der Mensch ist durch eine feindliche Umgebung, in der es nichts im Überfluß gibt, dazu gezwungen, für sein Leben zu kämpfen. Der Selbsterhaltungstrieb bringt den Menschen dazu, diese feindliche Umgebung zu seinem Vorteil zu ändern und das Gehirn belohnt ihn für solche Taten durch die Ausschüttung von Botenstoffen. Bedingt durch diese Erfahrung ist die Vorstellung der Menschen von der Welt schlecht, die Welt ist feindlich und dem Menschen nicht wohlgesonnen – ist die Illusion der Matrix ebenso, wird der Mensch glauben, er sei in der Wirklichkeit, ist die Illusion nicht schlecht genug, wird er versuchen, aufzuwachen, da er glaubt, er träume. Zusammenfasssend ist zu sagen, daß Matrix die Faszination der Nicht-Polarität von Wirklichkeit und Illusion als Stilmittel nutzt, also den Hebel bei der Unsicherheit des Betrachters über den eigenen Standpunkt ansetzt. Innerhalb des Plots aber stellt der Film die Behauptung einer stringenten Polarität zwischen Wirklichkeit und Illusion, Matrix und Zion, auf, und die Unsicherheit der objektiven Wahrnehmung wird aus dem Gehirn in einen bösen Mega-Computer ausgelagert. Daher wäre

zwischen Gehirn und Geist, zwischen Hardware und Software dar, welche es laut aktuellen Forschungen nicht gibt, vgl. Singer, Wolf, Der Beobachter im Gehirn, Essays zur Hirnforschung, Frankfurt am Main, 2002, 80 ff;

bei Kant und Schopenhauer ist letztendlich alles Konstruktion, nur der Schematismus (Kant), den wir aber nicht genau ergründen können, ermöglicht eine Grobstrukturierung unserer Wahrnehmung, die eine gewisse Objektivität aufweist.

es ein faszinierendes Ende von z.B. Matrix 3 gewesen, wenn sich die wahre Welt schließlich ebenfalls als Illusion bzw. Simulation herausgestellt hätte. Das Liebäugeln mit binären Plattitüden wie gut und böse bzw. real und nicht real und die möglicherweise damit verbundene bessere Aussicht auf gefüllte Kinokassen haben die Wachowski-Brothers leider von diesem Schritt abgehalten, sofern er ihnen in den Sinn gekommen sein sollte.210

2.6.1. Die Illusion des Eigentlichen in Matrix:

Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;

Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

1.Korinther, 13, 13

Nun könnte man meinen, Matrix würde dem Kinozuschauer den Weg zu einer vollkommen leidenschaftslosen, massentauglichen Interpretation der kantischen Erkenntnistheorie liefern.

Indem Kant vom ‚Ding an sich’ spricht, demonstriert er ja gleichzeitig, wie gezeigt, daß der Zugang zu diesem Ding an sich nicht möglich ist. Die Welt, die wir sehen, ist nur ein Konstrukt, konstruiert vom Supercomputer, einem bösen Geist, Gott, dem Gehirn oder anderen Dingen, auf die wir gar nicht kommen würden. Dies hieße, wir alle würden ohne eigene Identität und ohne irgendeinen objektiven Fixpunkt an den Drähten eines Operators hängen und es wäre vollkommen egal, ob wir existierten oder nicht. Würde Matrix tatsächlich nur diese – ausgesprochen desillusionierende – Aussage tätigen, wäre der Film nicht so erfolgreich geworden. Denn in Wahrheit nutzt Matrix die Botschaft einer ambivalenten Realität, die deshalb funktioniert, weil sie aufklärerische Wurzeln hat und im westlich-philosophischen Kontext beheimatet ist, nur, um den Zuschauer zunächst aufzurütteln und sich seiner Aufmerksamkeit sicher zu sein. Gleich danach wird das ‚Heilmittel’ verabreicht.

Neo wird außerhalb der Matrix und außerhalb der Illusion externalisiert. Der Film zeigt, daß es doch ‚eigentliche’ und ‚authentische’ Gefühle gibt, die ‚wahr’ und ‚echt’ und keine Konstruktion – von welcher Instanz auch immer – sind. Hierbei bedient der Film eine kulturpessimistische Sehnsucht des Zuschauers und konkretisiert namentlich die Liebe als einzige objektive Konstante in einer scheinbar von Beliebigkeit beherrschten Welt. Der Supercomputer der Matrix ist die Auslagerung der Unsicherheit der Erkenntnis, die Liebe ist

210 Diese Hoffnung hatte Slavoj Zizek noch 1999, “In the sequels to The Matrix we shall probably learn that the very ‚desert of the real’ is generated by (another) matrix“, in: Ders. „The Matrix, or the two sides of perversion“, Inside the Matrix – International Symposium at the Center for Art and Media, Karlsruhe, October 28, 1999, veröffentlich unter www.container.zkm.de/netcondition/matrix/zizek.html

die Konstante, die dessen Inszenierung des Beliebigem binär entgegensteht. Indem Trinity Neo, der eigentlich schon tot ist, küßt, gelten sowohl die Gesetze von Wirklichkeit und Illusion nicht mehr. Neo steht von den Toten auf.211

TRINITY

Neo, please, listen to me. I promised to tell you the rest.

The Oracle, she told me that I’d fall in love and that man, the man I loved would be the One. You see? You can’t be dead, Neo, you can’t be because I love you. You hear me? I love you!212

Der Kuß (Abb. 47-51) ist das Authentische, das Eigentliche, womit Matrix weit hinter die Neurobiologen und Kant zurückfällt; nicht Ich denke, also bin ich sondern Ich liebe, also bin ich scheint zu gelten und damit auch eine weitere Distanzierung von den mächtigeren Maschinen, denn lieben können diese nicht. Der Kuß ist symbolischer Ruhepunkt innerhalb des Chaos der Simulation. Visuell ist er ebenso – in Form der Liebenden Trinity und Neo – der Ruhepunkt innerhalb des Chaos der Wirklichkeit an Bord der Nebukadnezar, wobei Neo und Trinity als Liebende scheinbar von den Blitzen und Laserstrahlen der Maschinen abgeschirmt sind (Abb. 47-50). Durch diese scheinbar objektive Definition der Liebe als einer Konstante, die nicht mehr konstruiert ist, gibt Matrix auch dem Zuschauer die scheinbar verlorene Stellung als Subjekt und Ich zurück. Diese Vorgehensweise entspricht dem Zaudern Descartes,213 der erkenntnistheoretisch auf die Nicht-Eindeutigkeit der Wahrnehmung verwies, dann jedoch ‚zurückruderte’, indem er argumentierte, daß Gott niemals so böse sein könne, es einem bösen Geist zu erlauben, die Wahrnehmung des Menschen zu täuschen. Der Film reißt zunächst mit nüchterner, erkenntnistheoretischer Analytik beim Zuschauer eine Wunde auf, die er sogleich mit kulturskeptischer, authentisch-naiver Erfüllung von Urspünglichkeitssehnsucht versorgt. Matrix demonstriert, volkswirtschaftlich gesprochen, den idealen Markteintritt. Zunächst wird für die Nachfrage gesorgt und dann für das passende Angebot.

211 dies steht im Widerspruch zur vorherigen Aussage Morpheus, der Neo aufklärte, daß ein Tod in der Matrix auch den Tod in der Wirklichkeit zur Folge habe, “Shooting Script”, New York, 2002, 322

212 Ebd., 390, in der Filmversion sagt Trinity “[…] fall in love with a dead man”, Matrix 1, 1999; es soll hier nicht über Unstimmigkeiten gerätselt werden, der Kuß Trinitys erfolgt, weil Neo der Auserwählte ist und deswegen erwacht er auch von den Toten.

213 Siehe Kap. 2.2.4