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7 Der Zusammenschluss von Die Grünen und Bündnis 90

7.2 Verschiebungen in der außenpolitischen Programmatik

Das Ergebnis der Fusionsverhandlungen war neben dem Assoziationsvertrag der so genannte

„Grundkonsens“ von Bündnis 90/Die Grünen. Diese Präambel zum Assoziationsvertrag ging auf Rahmenpapiere von Ludger Volmer und Hans-Jürgen Fischbeck zurück.565 Der Grundkonsens war kein offizielles Grundsatzprogramm, skizzierte jedoch die Elemente des politischen

560 Zu weiteren Sonderrechten gehörte das Recht der Mitglieder von Bündnis 90, eine innerparteiliche Organisation

„Bürgerbewegung“ zu bilden; ein Vetorecht zum Aufschub von Entscheidungen im Länderrat; die Ermöglichung eines Ost-Länderrats; keine Trennung von Amt und Mandat für die Mitglieder des Bündnis 90 im Bundesvorstand (vgl. Satzung und satzungsändernde Vereinbarungen, in: Assoziationsvertrag zwischen Bündnis 90 und Die Grünen).

561 Lorenzo 1993.

562 Außerdem wurde der Antrag der ostdeutschen Grünen, vor wichtigen Abstimmungen „Meinungsbilder" der ostdeutschen Mitglieder einzuholen, von den mehrheitlich westlichen Delegierten abgelehnt (vgl. Bündnis 90 und Grüne wollen eine Partei werden).

563 Zitiert nach: Bündnis 90 und Grüne wollen eine Partei werden.

564 Vgl. Matthias Platzeck.

565 Fischbeck war 1990-1992 als Mitglied von Bündnis 90 in der bündnisgrünen Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus und danach Leiter der Evangelischen Akademie in Mühlheim/Saar tätig.

Selbstverständnisses und beschrieb die „grundsätzlichen Ziele, Werte und politischen Leitsätze“566 der neuen Partei. Der Grundkonsens besitzt daher sehr allgemeinen Charakter und entzieht sich zumeist konkreten politischen Handlungszielen und Strategien.567 Im außen- und sicherheitspolitischen Teil des Grundkonsenses wurden wesentliche Teilbereiche der pazifistischen Ideologie wieder aufgegriffen. Vor allem die Konzeption der strukturellen Gewalt fand Eingang in den Grundkonsens. Im Vorwort wandte sich Bündnis 90/Die Grünen gegen

„militärische Logik der Konfliktaustragung“ und forderte demgegenüber ein „demokratisch begründetes multilaterales System nichtmilitärischer Konfliktlösung“.568 Zudem klagte der Grundkonsens eine „Weltordnung“ ein, in der es keine „wirtschaftlichen Motive für die gewaltsame Austragung von Konflikten mehr gibt“.569 Auch die erweiterte Sicherheitskonzeption wurde fortgeführt: So wurde als Handlungsziel benannt, den „Interessenstreit“ zwischen Staaten durch „Entwicklung und Institutionalisierung einer Weltinnenpolitik“ unter einer „reformierten Uno“ abzulösen.570

Neben diesen aus grüner Sicht inhaltlichen Kontinuitäten in der außen- und sicherheitspolitischen Programmatik sind zwei wesentliche inhaltliche Verschiebungen festzustellen. Entscheidend war zunächst, dass Bündnis 90/Die Grünen einen programmatischen Schwerpunkt auf die Sicherung und Herstellung von Menschenrechten legte.571 Die Menschenrechte seien „unteilbar, gleichwertig und universell“ und umfassten

„politische BürgerInnenrechte, Demokratie, Rechtstaatlichkeit und individuelle Freiheitsrechte; die sozialen Exstenzrechte; das Recht auf Schutz der Umwelt, Sicherung der Grundbedürfnisse sowie auf Bildung und Entwicklung.”572

Bei den Grünen war der Begriff der Menschenrechte bereits 1980 programmatisch genannt worden.573 Das Wahlprogramm 1987 erklärte einen „umfassenden Menschenrechtsbegriff“ als

566 Satzung von Bündnis 90/Die Grünen, in: Assoziationsvertrag zwischen Bündnis 90 und Die Grünen, § 2 Absatz 1.

567 Vgl. Hoffmann 1998: 220.

568 Vgl. Politisches Vorwort, in: Assoziationsvertrag zwischen Bündnis 90 und Die Grünen: Ziffer (44).

569 Grundkonsens, in: Assoziationsvertrag zwischen Bündnis 90 und Die Grünen: Ziffer (49).

570 Grundkonsens, in: Assoziationsvertrag zwischen Bündnis 90 und Die Grünen: Ziffer (49).

571 Vgl. Hoffmann 1998: 222.

572 Grundkonsens, in: Assoziationsvertrag zwischen Bündnis 90 und Die Grünen: Ziffer (6).

„stets wirkendes Leitprinzip grüner Innen- und Außenpolitik“. Dieses „Leitprinzip“ beschrieb nicht nur individuelle und politisch-soziale Rechte, sondern auch wirtschaftliche und kulturelle Dimensionen der Menschenrechte.574 Im Wahlprogramm 1990 jedoch findet sich der Begriff der Menschenrechte nicht. Im Zentrum des Forderungskatalogs der Bürgerbewegungen hatten die demokratische Beteiligung und Bürgerrechte gestanden. Die im Grundkonsens verwendete Menschenrechtskonzeption knüpfte also an den Forderungskatalog von Bündnis 90 an. Die grüne Verhandlungsseite schloss sich im Laufe des Vereinigungsprozess offensichtlich dieser Schwerpunktsetzung an.575 Die programmatische Neugewichtung war aus Sicht der Grünen zwar

„kein großes Zugeständnis“576, aber dennoch ein „kleines Entgegenkommen“577 gegenüber dem Bündnis 90.

Die Menschenrechtskonzeption des Grundkonsenses basierte wie wesentliche Teile der pazifistischen Ideologie auf dem strukturellen Gewalt-Verständnis. In der benannten Fassung der Menschenrechte wurde das Gewaltverständnis noch einmal mit der Forderung nach Sicherung dieser Rechte konkretisiert und intensiviert: Wertmäßiges Handlungsziel war nicht die Absenz von strukturellen, d.h. mitunter nicht akuten Gewaltformen, sondern der dauerhafte Bestand eines definierten Menschenrechtskatalogs.578 Das Handlungsziel besaß demzufolge in der Betonung von gewaltinduzierenden respektive menschenrechtsverletzenden politisch-sozialen Strukturen als außen- und sicherheitspolitische Problemfaktoren paradigmatische Gemeinsamkeiten mit pazifistischen Konzeptionen. Dennoch muss das Handlungsziel der Menschenrechtssicherung als zwar strukturell ähnlicher, aber dennoch autonomer normativer Teil des außen- und sicherheitspolitischen feasable set von Bündnis 90/Die Grünen betrachtet werden.

573 Im Bundesprogramm von 1980 wurde die Einhaltung der Menschenrechte lediglich kurz und undeutlich als Ziel formuliert (vgl. Das Bundesprogramm der Grünen: 18).

574 Vgl. Bundestagswahlprogramm. Farbe bekennen: 22f.

575 Vgl. Programmatische Erklärung von Bündnis 90; Hoffmann 1998: 119; Interview mit Poppe, 18.2.02.

576 Interview mit Volmer, 25.4.02.

577 Interview mit Poppe, 18.2.02; vgl. Hoffmann 1998: 222; vgl. auch die Rede Gerd Poppes zum Assoziationsvertrag auf der BDK im Januar 1993 in Hannover, wo er von „inhaltlicher Bewegung bei den Grünen“ sprach (Poppe 1993: 91).

578 Der Begriff der „strukturellen“ Gewalt wird an verschiedenen Stellen des Grundkonsenses benannt (vgl.

Grundkonsens, in: Assoziationsvertrag zwischen Bündnis 90 und Die Grünen: Ziffer (8), Ziffer (50)).

Während sich die Menschenrechte im Grundkonsens an vorderster Position befanden, wurde die pazifistische Norm der Gewaltfreiheit lediglich an letzter Stelle des Grundwertekatalogs und vage „als ein Prinzip unserer politischen Ethik“ benannt.579 Militärische Gewalt stelle eine

„generelle Bedrohung“ dar, Krieg und Kriegsdrohung seien „schlimme, illegitime“ Gewalt.580 Zwar dürfen Reihenfolge und begriffliche Fassung nicht überinterpretiert werden, da auch die Ablehnung militärischer Maßnahmen im Grundkonsens „deutlich“ formuliert wurde.581 Allerdings hatte die Existenz beider programmatischer Elemente im Optionenset von Bündnis 90/Die Grünen Folgen für die zukünftige Begründung außen- und sicherheitspolitischen Handelns: In konkreten Entscheidungssituationen konnte das politische Handlungsziel einer Sicherung von Menschenrechten der pazifistischen Handlungsnorm der Gewaltfreiheit gegenüberstellt werden. Die Anwendung von militärischer Gewalt konnte dabei einerseits als Verletzung von Menschenrechten erachtet werden, da die humanitären Folgen militärischen Agierens in Krisengebieten Menschenrechtsverletzungen im Sinne der getroffenen Definition darstellten. Andererseits wurde es möglich, mit Rekurs auf die Zielsetzung der Sicherung oder Wiederherstellung von Menschenrechten die Anwendung militärischer Mittel zur Bearbeitung internationaler Krisen leichter zu kommunizieren.

Es ist nicht anzunehmen, dass die Verhandlungsführer der Parteien sich einer möglichen programmatischen Konfrontation bewusst waren, die auf der Grundlage des formulierten außen- und sicherheitspolitischen Optionensets möglich wurde. Die Verhandlungspartner haben im Gegenteil die Schwerpunktverschiebung in Richtung Menschenrechte offensichtlich „nicht als Wandel empfunden“, da man keinen Widerspruch zwischen „Friedenspolitik und Menschenrechten“ sah.582 Volmer bestätigte jedoch, dass seit der Vereinigung der beiden Parteien ein „subtiler Streit“ zwischen den Handlungsoptionen – Menschenrechtssicherung einerseits und „Ablehnung militärischer Mittel“ andererseits – existierte. 583

Als eine zweite wesentliche programmatische Verschiebung wurde das von den Grünen in den 80er Jahren normativ geforderte „Selbstbestimmungsrecht der Völker" nicht mit in den

579 Grundkonsens, in: Assoziationsvertrag zwischen Bündnis 90 und Die Grünen: Ziffer (43).

580 Grundkonsens, in: Assoziationsvertrag zwischen Bündnis 90 und Die Grünen: Ziffer (48).

581 Interview mit Volmer, 25.4.02.

582 Interview mit Poppe, 18.2.02.

583 Interview mit Volmer, 25.4.02.

Grundkonsens aufgenommen.584 Der Zeitpunkt dieser programmatischen Veränderung ist bemerkenswert, da die Separationsbestrebungen in der ehemaligen Sowjetunion und in Jugoslawien eine klare Position der Akteure hinsichtlich der ethnisch-nationalen Selbstbestimmung erforderlich machte. Allerdings war bei den Grünen die „Selbstbestimmung der Völker“ schon seit dem Wahlprogramm 1990 nicht mehr als programmatisches Element genannt worden. Der Bundesvorstand der Grünen hatte sich im Gegenteil Ende 1991 gegen eine Unterstützung der Separationsbestrebungen in Jugoslawien mit der Begründung ausgesprochen, dass grundsätzlich das „Prinzip multikulturellen Zusammenlebens“ höher zu bewerten sei als eine „mit mörderischem Krieg durchgesetzte nationale Selbstbestimmung“.585

Für die Akteure von Bündnis 90 war der normative Grundsatz eines ethnischen Selbstbestimmungsrechts bei der Frage der Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens vom Staatenbund Jugoslawien indes handlungsleitend gewesen. Gerd Poppe etwa sagte im Februar 1991, die Ereignisse in Jugoslawien folgten „in vielem der gleichen Logik“ wie die Entwicklungen in der Tschechoslowakei, in Polen, im Baltikum und in der DDR. Die

„emanzipatorische Komponente des Strebens nach nationaler Unabhängigkeit“ werde oft vereinfacht als „Gefahr für die Gemeinschaft der Völker“ dargestellt.586 Die Akteure von Bündnis 90 erwarteten, mittels einer Unabhängigkeitsunterstützung die militärischen Konflikte in Jugoslawien und die ihnen inhärenten Gefahren für die europäische Sicherheit

„internationalisieren“ zu können. Der UN-Sicherheitsrat hatte sich aus Sicht von Bündnis 90 intensiver mit den in die Souveränität entlassenen Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawien befassen können.587 Die Unterstützung der Unabhängigkeitsbestrebungen durch die parlamentarischen Akteure von Bündnis 90 setzte sich bis vor den Vereinigungsparteitag in Leipzig fort.588 Der Grund für die Befürwortung der Separationen lag demzufolge auch im Selbstverständnis der Partei begründet. Bündnis 90 war mit dem politischen Slogan angetreten:

584 Vgl. Das Bundesprogramm der Grünen: 19.

585 Presseerklärung des Bundesvorstandes Die Grünen vom 13.12.1991.

586 Poppe 1991.

587 Interview mit Poppe, 18.2.02.

588 Im August 1992 kritisierten Poppe und Wollenberger, die Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawiens seien von den EG-Staaten „viel zu spät“ anerkannt worden (Poppe /Wollenberger 1992). Im Mai 1993 wurde die Anerkennung der Staaten Ex-Jugoslawiens als „Verhinderung der Eskalation“ bezeichnet (Resolution zum Krieg in Bosnien-Herzegowina).

„Bestimmen wir selbst unsere Zukunft!“589 Mit Blick auf die Unabhängigkeit von Slowenien und Kroatien projizierten die Akteure von Bündnis 90 diese Programmatik auf das Handlungsproblem der nach nationaler Selbstbestimmung strebenden Teilrepubliken.590

Dass die „Selbstbestimmung von Völkern“ im Grundkonsens von Bündnis 90/Die Grünen nicht benannt wurde, ist letztlich mit der Stellung der Menschenrechte zu erklären. Das Optionenset, das die Akteure nun mit der programmatischen Aufwertung eines weltweiten Schutzes von Menschenrechten zur Verfügung hatten, war aus Sicht der Verhandlungspartner offensichtlich ausreichend, um die Handlungsprobleme im Zusammenhang der politischen und humanitären Entwicklung in Krisengebieten adäquat beantworten zu können. Durch diese Vereinheitlichung der bei Bündnis 90 und den Grünen unterschiedlichen programmatischen Schwerpunkte konnte die außen- und sicherheitspolitische Problembearbeitung mittels eines in beiden Parteien akzeptierten Handlungsziels durchgeführt werden.

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