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9 Militärische Krisenbearbeitung in Bosnien-Herzegowina

9.3 Fraktionelle Spaltung in der Bundestagsabstimmung

Anfang August unternahm die kroatische Armee eine militärische Operation, bei der mit Ausnahme Ost-Slawoniens alle Teile Kroatiens erobert wurden, die sich unter serbischer Kontrolle befanden. Auch in Bosnien begannen kroatische Truppen koordinierte Aktionen gegen

796 Raschke 2001: 386.

797 Vgl. das Kapitel „Der Zusammenschluss von Die Grünen und Bündnis 90“.

798 Vgl. Legro 2000: 420.

799 Vgl. McGann 2002: 38.

die dort lebenden Serben. Es kam so im ehemaligen Jugoslawien erneut zu territorialen Verschiebungen, die mit Vertreibungen und Menschenrechtsverletzungen einhergingen.800 Nach dem Scheitern einer weiteren Jugoslawien-Konferenz befürwortete die amerikanische Regierung im Juli Waffenlieferungen an die bosnischen Muslime sowie gezielte Luftangriffe gegen serbische Stellungen. Als am 28.8.1995 bei einem den Serben zugeschriebenen Granatenangriff in Sarajewo 37 Menschen getötet wurden, begann die NATO in Absprache mit der internationalen Bosnien-Kontaktgruppe, vehemente Luftangriffe auf militärische Objekte der bosnischen Serben zu fliegen.801 Diese Intervention hatte entscheidenden Einfluss auf deren Zurückdrängung und führte vor allem zur glaubwürdigen Einwilligung der Kriegsparteien in einen dauerhaften Waffenstillstand.802 Die Militäraktion erreichte damit in kurzer Zeit, was durch langfristig angelegte negative Sanktionen sowie diplomatische Vermittlungsversuche zuvor nicht gelungen war.803

Im Herbst 1995 wurde von der Bosnien-Kontaktgruppe der Friedensvertrag von Dayton ausgehandelt, der die Schaffung eines Staates Bosnien-Herzegowina vorsah, bestehend aus einer kroatisch-bosnischen und einer serbischen Republik.804 Gleichzeitig wurde die Entsendung von etwa 60000 Soldaten unter NATO-Kommandantur vorbereitet. Die sogenannte IFOR-Truppe, an der sich u.a. auch russische und arabische Staaten beteiligten, hatte den Auftrag, die Einhaltung des Dayton-Vertrages zu überwachen und eine stabile Sicherheitsumgebung zur zivilen Rekonstruktion des Bürgerkriegsgebietes zu garantieren.805 Zur Erfüllung dieser Mission wurde die IFOR zum Waffengebrauch ermächtigt.806

Angesichts der durch Joschka Fischers offenen Brief entfachten Debatte waren die Reaktionen in der Partei auf die militärische Problembearbeitung der internationalen Staatenkoalition in Bosnien sehr heterogen. Der Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen kritisierte unmittelbar nach den Bombardements der NATO-Luftstreitkräfte, diese seien die „falsche Antwort“ auf die serbischen Angriffe in Sarajewo, da sie die „Spirale des Tötens“ fortführten. Eine konsequente

800 Vgl. Gow 1997: 278.

801 Haftendorn 2001: 412.

802 Schöllgen 1999: 214.

803 Vgl. Funke 1996: 16.

804 Abkommen über die Verwirklichung der Föderation Bosnien-Herzegowina.

805 Baumann 2001: 171.

806 Haftendorn 2001: 413.

Durchsetzung eines totalen Waffenembargos sei hingegen weiterhin „das Gebot der Stunde“.807 In einer Stellungnahme der Fraktion wurden die Luftangriffe der NATO demgegenüber Anfang September als „logische und grausame Konsequenz aus den jüngsten Massakern" in Srebrenica und Sarajevo bezeichnet. Dieser Entschluss, implizit eine Zustimmung zum militärischen Vorgehen der NATO, kam offensichtlich vor allem durch die Abwesenheit von Fraktionssprecherin Kerstin Müller zustande.808 Der Parteivorstand opponierte daraufhin gegen diese Position: Die Fraktionsführung habe den Eindruck erweckt, die Partei würde die Bombardements der NATO rechtfertigen. Zudem stünde die Stellungnahme der Fraktion in scharfem Widerspruch zu Programm und Beschlusslage der Partei.809

Das Kabinett der Regierung Kohl beschloss Ende November bereits vor den USA und den europäischen Verbündeten, der internationalen IFOR-Truppe ein Bundeswehrkontingent von 4000 Soldaten sowie Tornado-Kampfflugzeuge zur Verfügung zu stellen. Das Truppenkontingent sollte vor allem die medizinische Versorgung der Soldaten anderer Teilnehmerstaaten sicherstellen.810 Die für Mitte Dezember angesetzte Abstimmung im Bundestag offenbarte einen erneuten Klärungsbedarf bei Bündnis 90/Die Grünen. Die Differenzen hinsichtlich der militärischen Konfliktbearbeitung im Krisengebiet Jugoslawiens zwischen Fraktion einerseits sowie Bundesvorstand und Aktivisten der Ortsverbände andererseits konnten auf dem für Anfang Dezember angesetzten Parteitag eskalieren.

Der Bundesvorstand der Partei hielt auch Ende November weiterhin an der Ablehnung einer deutschen Beteiligung an der Friedenssicherung fest.811 Die Fraktion beschloss, die Ergebnisse des Parteitages abzuwarten und erst danach eine gemeinsame Haltung zu formulieren.812 Eine Initiative von Joschka Fischer, die Fraktion für eine Zustimmung zur Bundeswehrbeteiligung zu

807 Trittin /Rühle 1995.

808 Zitiert nach: Wieder Streit über militärische Gewalt.

809 Vorstand kritisiert Fraktion.

810 Baumann 2001: 171.

811 Vgl. Bundesvorstand lehnt NATO-Einsatz deutscher Soldaten im ehemaligen Jugoslawien ab.

812 Vgl. Grüne entscheiden über Kampfeinsatz.

mobilisieren, führte nicht zur Bekundung einer gemeinsamen Position.813 Die Mehrheit der bündnisgrünen Abgeordneten ließen jedoch vor dem Parteitag verlauten, sie wolle für die Entsendung von deutschen Soldaten ins Krisengebiet stimmen.814 So wurde deutlich, dass die Fraktion anders abstimmen würde als der Parteitag – in Anlehnung an die Programmlage der Partei – aller Voraussicht nach vorgeben würde.815

Auf dem Parteitag in Bremen vom 1.-3.12.1995 waren mit Blick auf die Bosnien-Politik der Partei drei Anträge entscheidend: Zunächst zwei Anträge aus dem linken Parteiflügel, die von Ludger Volmer bzw. Uli Cremer, dem Sprecher der „Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden“, eingebracht wurden. Außerdem ein realpolitischer, von Hubert Kleinert begründeter Antrag, der sich im Wesentlichen für eine deutsche Beteiligung an „robust-zivilen“ Einsatzkräften mit der Möglichkeit der Selbstverteidigung aussprach.816 Aufgrund eines ungewöhnlichen Abstimmungsmodus unterstützten nur etwa 35% der Delegierten Kleinerts Antrag, so dass dieser nicht in die Endabstimmung gelangte.817 Abstimmungssieger wurde der Antrag Ludger Volmers, in den einige Positionen des Antrags von Uli Cremer integriert wurden.818

Die letztlich verabschiedete Parteitagsresolution begrüßte zunächst den Friedensschluss von Dayton. Gleichzeitig wurde eine mit dem Vertragsabschluss verbundene Aufhebung des Waffenembargos kritisiert, da diese die Gefahr einer verstärkten Militarisierung der Region und eines Wiedererstarkens der Auseinandersetzungen berge. Ablehnung erhielt vor allem die geplante Bereitstellung von Kampfflugzeugen und Bodentruppen der Bundeswehr als

„Vorratsbeschluss“, der eine „beliebige“ Verstärkung der Truppen ermögliche. Eine Beteiligung im institutionellen Rahmen der Bundeswehr sowie innerhalb eines NATO-Mandats lehnte die Resolution ebenso ab, begrüßt wurde lediglich eine deutsche Beteiligung an friedenserhaltenden

813 Fischer forderte vor dem Parteitag, dass speziell ausgebildete Bundeswehrsoldaten den Vereinten Nationen bei der Gefahr des Völkermordes für friedenserzwingende Maßnahmen unterstellt werden sollten. Der „Grundwert der Solidarität“ mit den Opfern von Völkermord habe Vorrang vor einer Politik der Gewaltfreiheit (zitiert nach:

„Grundwert Solidarität hat Vorrang vor Gewaltfreiheit").

814 Vgl. Prantl 1995.

815 Interview mit Hugler, 8.3.02.

816 Protokoll der 6. Ordentlichen Bundesversammlung in Bremen.

817 Vgl. Höfele 1998: 104-106.

818 Cremer konnte sich mit der Forderung durchsetzen, die Fraktion auf den bisherigen Programmstand festzulegen (vgl. Grünen-Vorstand lehnt deutschen Bosnien-Einsatz ab; Höfele 1998: 102; Volmer 1998a: 520).

Maßnahmen in Form von unbewaffneten Hilfsverbänden. Die bündnisgrüne Fraktion wurde

„gebeten“, dem Antrag der Bundesregierung im Bundestag nicht zuzustimmen. 819

Trotz der Abstimmungsniederlage war der Jubel im Realoflügel größer als bei den Anhängern des siegreichen Antrages. Offenbar war das Ergebnis aus Sicht der Realpolitiker „weit besser"

als erwartet.820 Helmut Lippelt kommentierte, mit diesem Ergebnis könne man „die Fraktion nicht mehr knebeln."821 Es blieb jedoch weiterhin unklar, wie in der Fraktion mit Blick auf die Bundestagsabstimmung zu einer einheitlichen Position zu gelangen sei.822 Kurz vor der betreffenden Parlamentssitzung sprachen sich die bündnisgrünen Abgeordneten nach langer Debatte in einer internen Abstimmung mit 26 zu 20 Stimmen dafür aus, den Regierungsantrag zur Entsendung von 4000 deutschen Soldaten nach Bosnien zu unterstützen.823 Damit gab es in einer bündnisgrünen Fraktion zum ersten Mal eine Mehrheit für eine deutsche Beteiligung an einem NATO-Einsatz zur Friedenssicherung Die Akteure des linken Flügels verließen die Fraktionssitzung daraufhin demonstrativ.824

Bei der einige Tage später stattfindenden Abstimmung im Bundestag kam es zu einer exakten Spaltung: Bei fünf Enthaltungen votierten 22 bündnisgrüne Abgeordnete für und 22 gegen die Regierungsvorlage.825 Die Spaltung trotz der vorherigen Mehrheit für den Regierungsantrag kam zustande, „um der Bitte des Bremer Parteitags" zu entsprechen, wie es in einer Erklärung hieß.826 Ohne den „erhobenen Zeigefinger der Partei“ hätte eine deutliche Fraktionsmehrheit für die Regierungsvorlage gestimmt.827 Die Enthaltungen waren demzufolge „taktischer Natur“, da die Fraktion die „Brüskierung der Partei in Grenzen halten wollte“.828

819 Vgl. Entschluss zur Bosnien-Politik der Bundesregierung: „Ja zum Friedensschluss von Dayton – Nein zur Politik von Kohl, Kinkel und Rühe“.

820 Eine starke Minderheit der Grünen einverstanden mit einem Bosnien-Einsatz der Bundeswehr.

821 Zitiert nach: Gottschlich 1995b.

822 Schlötzer-Scotland 1995b.

823 Vgl. Höfele 1998: 108.

824 Vgl. Monath 1995b.

825 Vgl. Bundestagsbeschluß zum IFOR-Nachfolge-Auftrag.

826 Erklärung von Krista Heyne, Michaele Hustedt, Albert Schmidt und Wolfgang Schmitt zum Abstimmungsverhalten vom 6.12.1995.

827 Dies bestätigte Nachtwei in einem Brief an die Bundestagsfraktion (Nachtwei 1996).

828 Volmer 1998a: 522.

In dieser außen- und sicherheitspolitischen Handlungssituation wurde zum ersten Mal der sogenannte „klassische Burgfrieden“ in der Fraktion angewandt. Diese „kooperative Strategie“829 beinhaltete, trotz mehrheitlich anderslautender Positionen der Einzelakteure in gegenseitiger Absprache eine Kompromisshaltung zu vertreten, die sowohl die außenpolitische Problembearbeitung als auch die Repräsentation von Handlungsmotiven innerhalb der Partei ermöglichte. Durch eine intentionale Stimmenspaltung schadeten die Akteure der Handlungsfähigkeit der Partei insgesamt weniger als durch die Abstimmung in Kongruenz mit den persönlichen und unmittelbaren Handlungsinteressen der Akteure.830 Die

„Burgfriedenpolitik“ wurde durch die Einschätzung ermöglicht, dass das Handeln der Fraktion für die außenpolitische Entscheidungssituation Deutschlands „geringe Relevanz“ besaß.831 Offenbar hatte auch die Diskussion der vorangegangenen Monate Einfluss auf das Handeln der Akteure in der Fraktion. Volmer bestätigte, dass das mehrheitliche Umdenken in der Fraktion in der Folge des offenen Briefs von Fischer die „Burgfriedenpolitik“ notwendig machte.832 Offenbar fürchtete man bei einer Zustimmung der Fraktion zu Auslandseinsätzen eine Spaltung der Partei.833 Die unvollständige Distinktion einerseits, sowie das Festhalten an der Norm der Gewaltfreiheit auf der Basis von Identitätsmotiven andererseits, ließ eine Spaltung in jeweils homogener ausgerichtete Teil-Institutionen möglich erscheinen. Die Handlungsstrategie einer Burgfriedenpolitik beruhte auf der Absicht der Akteure, eine mögliche organisatorische Spaltung der Partei zu verhindern. Der „Burgfrieden“ wurde so zum operativen Mittel, zwischen den divergierenden Handlungsmotiven der Parteiflügel bei der Bearbeitung des Bürgerkriegs in Jugoslawien zu vermitteln und auf diesem Weg die institutionelle Handlungsfähigkeit zu bewahren.

829 Vgl. Raschke 2001: 338.

830 Vgl. Interview mit Schmillen, 15.3.02.

831 Interview mit Nachtwei, 27.2.02; Interview mit Hugler, 15.3.02; Prantl 1995.

832 Interview mit Volmer, 25.4.02.

833 Interview mit Nachtwei, 27.2.02; Interview mit Schmillen, 15.3.02. Hugler zufolge haben die Thesen Fischers die Partei zwar „stark bewegt“, eine Spaltungsgefahr habe jedoch nicht bestanden (Interview mit Hugler, 8.3.02).

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