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9 Militärische Krisenbearbeitung in Bosnien-Herzegowina

9.1 Beteiligung der Bundeswehr an militärischen Einsätzen

Keiner der verschiedenen Pläne, die die internationale Staatenkoalition zwischen 1992 und 1995 zur Bildung einer politischen Konföderation „Bosnien-Herzegowina“ vorgelegt hatte, fand die gemeinsame Zustimmung der bosnischen, serbischen und kroatischen Bevölkerungsteile. Die Bürgerkriegsparteien ließen sich weder durch negative Sanktionen noch durch das Angebot wirtschaftlicher Hilfe zu einer Einstellung der Kampfhandlungen bewegen.713 Im Mai 1995 eroberte die kroatische Armee die serbisch kontrollierten Gebiete Westslawoniens und der Kraina. Das Parlament der bosnischen Serben beschloss im Juni, eine Vereinigung mit den serbisch verbliebenen Gebieten in Kroatien anzusteuern.714 Die humanitäre Situation blieb indes durch Flüchtlingsströme, Vertreibungen und Menschenrechtsverletzungen dramatisch.715

Es wurde immer deutlicher, dass sowohl Vereinte Nationen und OSZE, als auch NATO und EU mit dem Handlungsproblem, den kriegerischen Auseinandersetzungen Einhalt zu gebieten, überfordert waren.716 Nach der Geiselnahme von UN-Soldaten durch bosnische Serben beschlossen EU und NATO im Juni 1995 die Aufstellung einer 12500 Mann starken „Schnellen Eingreiftruppe“ in Bosnien zum Schutz der britischen, französischen und niederländischen UN-Verbände.717 Gleichzeitig kam es zu einer strategischen Positionsänderung der amerikanischen Regierung, die angesichts der mangelnden Handlungseffektivität der UN-Mission in Bosnien eine operative Kontrolle durch die NATO anstrebte, basierend auf einem Mandat des UN-Sicherheitsrats.718

Unter den deutschen außenpolitischen Akteuren gab es hinsichtlich der militärischen Krisenbearbeitung insgesamt einen breiten Konsens, dass der Umfang einer Beteiligung Deutschlands dessen geopolitisch „gewachsenem Gewicht“ entsprechen müsse.719 Das

713 Haftendorn 2001: 410.

714 Vetter 1999: 558.

715 Vetter/Melcić 1999: 525, 528f.

716 Vgl. Schöllgen 1999: 212.

717 Karádi/ Klingenburg 1996: 93.

718 Haftendorn 2001: 396; vgl. Resolution 998 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen: 1014.

719 Rede von Roman Herzog vor der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“: 162f.

Bundeskabinett beschloss Ende Juni 1995 in einer Sondersitzung, Luftwaffen- und Marineeinheiten der Bundeswehr zur Unterstützung der „Schnellen Eingreiftruppe“

abzustellen.720 Einige Tage darauf sollte der Bundestag über die Entsendung von deutschen Militärverbänden in das Krisengebiet entscheiden.721

In der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen gab es bei der Beurteilung eines militärischen Handelns der Bundeswehr im Krisengebiet unterschiedliche Positionen. Etwa ein Drittel der Abgeordneten waren strikte Gegner eines Bundeswehreinsatzes.722 Sie verwiesen auf die im Wahlprogramm und zuletzt im Potsdamer Parteitagsbeschluss programmatisch festgelegte Ablehnung eines Einsatzes deutscher Truppen in Krisengebieten.723 Fraktionssprecherin Kerstin Müller etwa forderte, die Fraktion dürfe die „Definitionsmacht" der Partei nicht untergraben.724 Angelika Beer warnte davor, dass die Zustimmung zu einem militärischen Beitrag der Bundeswehr im ehemaligen Jugoslawien „der Basis [der Partei]den Boden weghaut".725 Etwa die Hälfte der Abgeordneten beabsichtigte, einer humanitären und logistischen Unterstützung durch die Bundeswehr zuzustimmen.726 Eine kleine Gruppe hielt die Erweiterung des Handlungsspielraums der Bundeswehr hinsichtlich ihrer Verteidigungsfähigkeit mit Waffen für wünschenswert, darunter der außenpolitische Sprecher Gerd Poppe, der bekundete, das Mandat eines frei gewählten Abgeordneten dürfe in dieser Frage „nicht durch irgendeine Art von Parteibeschluss relativiert werden".727

Angesichts dieser unterschiedlichen Positionen gelangte die Fraktionsführung auf einer Klausurtagung Mitte Juni zu keiner gemeinsamen Linie.728 Daraufhin erarbeiteten Joschka Fischer und Ludger Volmer ein Kompromiss-Papier, das die Position der Fraktion harmonisieren

720 Entschließungsantrag der Bundesregierung zur Beteiligung an den Maßnahmen zum Schutz und zur Unterstützung des schnellen Einsatzverbandes.

721 Der Bundestag mit deutlicher Mehrheit für den Bosnien-Einsatz der Bundeswehr.

722 Vgl. die übereinstimmende Einschätzung von Schlötzer-Scotland 1995a; Monath 1995a; Ziller 1995a; vgl. auch

„Wer droht, der muss zur Not auch schießen".

723 Beschlüsse der Bundesversammlung in Potsdam: 12f.

724

Zitiert nach: Grüne uneins über möglichen Einsatz.

Zitiert nach: Grüne uneins über möglichen Einsatz.

725

Vgl. Schlötzer-Scotland 1995a; Monath 1995a; Ziller 1995a.

726

Zitiert nach: Grüne uneins über möglichen Einsatz.

727

Monath 1995a.

728

sollte. Der Kompromiss besagte, den Antrag der Bundesregierung auf militärische Unterstützung der „Schnellen Eingreiftruppe“ abzulehnen und stattdessen einen stärkeren Beitrag Deutschlands an humanitären Leistungen im Kriegsgebiet zu fordern.729

In der parlamentarischen Debatte unmittelbar vor der Abstimmung des Bundestags begründete Bundesaußenminister Kinkel die Entsendung deutscher bewaffneter Streitkräfte nach Ex-Jugoslawien mit der „geforderte[n] Solidarität“ der westlichen Partner sowie einer Steigerung von „Glaubwürdigkeit und... Ansehen Deutschlands in der Welt".730 Der SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Scharping hielt entgegen, dass „Krieg in der Luft nicht zum Frieden auf Erden" führe.731 Die SPD-Fraktion brachte einen eigenen Antrag ein.732 In der Abstimmung erreichte die Bundesregierung eine parlamentarische Mehrheit von 386 Parlamentariern, 258 Abgeordnete stimmten gegen den Antrag, elf enthielten sich. Damit wurde der Antrag auf Unterstützung der „Schnellen Eingreiftruppe“ durch 1500 deutsche Soldaten angenommen.733 Das Abstimmungsverhalten der bündnisgrünen Fraktion war nach dem erreichten Kompromiss überaus einheitlich. Die meisten Abgeordneten votierten gegen den Antrag der Bundesregierung, lediglich Marieluise Beck, Helmut Lippelt, Waltraud Schoppe und Gerd Poppe stimmten für einen Einsatz der Bundeswehr.734 Die Abweichler nannten als Grund für die Unterstützung des Regierungsantrags vor allem die „Tendenz zum Völkermord“ im Krisengebiet. Die Truppen der internationalen Staatenkoalition seien in der Lage, das Leben der Bevölkerung vor Ort zu sichern.735 Im Entschließungsantrag der Fraktion wurden politische Initiativen der Bundesregierung zur „friedlichen Lösung“ des Konflikts, wirtschaftliche Sanktionen gegenüber der Republik Jugoslawien, sowie eine konsequente Durchsetzung eines Waffenembargos gegenüber allen Kriegsparteien gefordert. Die Ablehnung des Regierungsantrags wurde einerseits mit mangelnden präzisen Angaben über die politischen und militärischen Ziele einer

729

Zitiert nach: Zur Unterstützung der europäischen Eingreiftruppen.

Wehrpflichtige nur als Freiwillige nach Bosnien.

730

Zitiert nach: Der Bundestag mit deutlicher Mehrheit für den Bosnien-Einsatz der Bundeswehr.

731

Entschließungsantrag der SPD zur Beteiligung an den Maßnahmen zum Schutz und zur Unterstützung des schnellen Einsatzverbandes.

732

Der Bundestag mit deutlicher Mehrheit für den Bosnien-Einsatz der Bundeswehr.

733

Weiland 1995; Zur Unterstützung der europäischen Eingreiftruppe.

734

Lippelt 1995; Beck 1995; Poppe 1995.

735

deutschen Beteiligung begründet. Zudem hieß es in einem „historischen Argument“736, wie Fischer es nannte, dass angesichts der Verbrechen der deutschen Wehrmacht in Jugoslawien eine Entsendung deutscher Soldaten „konfliktverschärfend [wirken] und der serbischen Propaganda Vorschub leisten“ würde.737

Offenbar waren die inhaltlichen Differenzen in der Fraktion größer, als es das Abstimmungsergebnis zeigte. Die Spannung in der Fraktion wurde während der Debatte deutlich. Nachtwei bekundete einen „Meinungsriss“ in der Fraktion.738 Fischer nannte die Entscheidung der Fraktion „nicht einfach“.739 Schoppe merkte an, sie wolle angesichts ihres Abweichens von den „Idealen“ der Partei „am liebsten nicht in dieser Haut stecken“.740 Es war in der Fraktion zu dieser Zeit „sehr verbreitet“, die „moralische Legitimität militärischen Handelns“

anzuerkennen und im Hinblick auf die Krisensituation in Bosnien-Herzegowina nicht „pauschal pazifistisch“ zu argumentieren, d.h. mit Rekurs auf die Handlungsnorm der Gewaltfreiheit ein militärisches Handeln der internationalen Staatenkoalition abzulehnen.741

Dass es in der Fraktion nicht zu größeren Auseinandersetzungen kam, lag auch an der deutlichen Position des Bundesvorstands, der auf die Entwicklungen in Ex-Jugoslawien mit der Forderung nach konsequenter Einhaltung des Embargos und nach Einführung eines Boykotts gegen Kroatien reagiert hatte.742 Parteisprecher Trittin betonte im Mai, „Friedenserzwingung durch Krieg“ bedeutete eine Eskalation der Krisensituation.743 Im Bundesvorstand herrschte offenbar die Einschätzung, dass die Beteiligung deutscher Soldaten an einem Kampfeinsatz „eine Frage grundsätzlicher Bedeutung für Selbstverständnis und Programmatik der Partei“ darstellte.744 Der

736

Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Beteiligung an den Maßnahmen zum Schutz und zur Unterstützung des schnellen Einsatzverbandes.

Fischer 1995a. Dieses Argument gründete nicht auf nachweisbaren Sachverhalten (Schöllgen 1999: 215).

737

Kabinettsbeschluss zur Truppenentsendung nach Bosnien wurde als „Eintritt der Bundesrepublik Deutschland als Kriegspartei in Jugoslawien“ bezeichnet.745

Die Auseinandersetzungen zwischen den Akteuren waren in Interessenkonflikte um die außen- und sicherheitspolitische Position der gesamten Partei eingeflochten. Der erreichte Konsens sowie das einheitliche Abstimmungsverhalten der Fraktion lassen darauf schließen, dass die Akteure die Distanz zwischen den unterschiedlichen Handlungspräferenzen in der Partei nicht zu groß werden lassen wollten, um so die Handlungsfähigkeit der Partei insgesamt nicht zu gefährden. Das gemeinsame Interesse der Akteure bestand dabei in der Bestimmung einer in der Partei erreichbaren, als auch für die Problembearbeitung adäquaten Handlungsoption.

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